Mobilität

Neun-Euro-Ticket offenbart Schwächen des ÖPNV

Der Sommer ist vorbei und auch das Neun-Euro-Ticket ist Geschichte. Bund und Länder ziehen Bilanz. Was hat die geplante Entlastung durch das Ticket gebracht? Wo liegen die Stärken und Schwächen des öffentlichen Nahverkehrs und was hat die Haltestelle am Strand damit zu tun?

Drewoldke ist ein Ortsteil der Gemeinde Altenkirchen auf Rügen. Zwischen Acker, Küstenwald und Ostsee stehen hier etwas mehr als eine Handvoll Häuser zusammen. In der Nähe befindet sich ein Campingplatz. Eine Bushaltestelle in Strandnähe krümmt sich am Straßenrand. Alle zwei Stunden fährt ein Bus vorbei. Hin und wieder hält er an. Dann steigen Menschen ein. Selten steigen Passagiere aus. Mathias arbeitet in Drewoldke und wohnt rund sieben Kilometer entfernt im nächsten Dorf. „Ich würde gern mit dem Bus zur Arbeit fahren, aber mit dem aktuellen Fahrplan komme ich weder pünktlich zur Arbeit noch nach Hause“, sagt er. So wie in Drewoldke wird auch andernorts die Taktung des ÖPNV den Möbilitätsbedürfnissen im ländlichen Raum nicht gerecht.

Daran hat auch das Neun-Euro-Ticket nichts geändert, das in den Sommermonaten als Teil eines Entlastungspakets für die Bevölkerung bundesweit eingeführt wurde. Während Mathias mit dem Ticket nichts anfangen konnte, hat sich das Modell des Neun-Euro-Tickets für Landeswirtschaftsminister Reinhard Meyer (SPD) „weitgehend bewährt“. Das Ticket leiste einen Beitrag zur Mobilitätswende und für den Klimaschutz, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium.

In der Stadt top, in Tourismusregionen ausbaufähig

Tobias Woitendorf, Geschäftsführer des Landestourismusverbandes, sieht vor allem in dichter besiedelten Regionen und Städten positive Auswirkungen des Neun-Euro-Tickets. Gleichzeitig erklärt er, dass in den Tourismusregionen im Land keinesfalls eine gleichermaßen positive Bilanz gezogen werden könne. Schon in vorherigen Jahren habe es in den Sommermonaten hohe Auslastungen im ÖPNV und im Nah- und Fernverkehr auf der Schiene gegeben. Der Landestourismusverband habe deshalb bereits früh eine dichtere Taktung im Zugverkehr gefordert.

„Ich begrüße den Gedanken der Bundesregierung, den ÖPNV nachhaltig zu stärken“, sagt Woitendorf. Doch das Neun-Euro-Ticket habe vor allem die Schwächen des Nahverkehrs offengelegt. In den Urlaubsregionen Mecklenburg-Vorpommerns sei der öffentliche Personennahverkehr zeitweise an die Kapazitätsgrenzen und darüber hinaus gelangt. Netzausbau, Taktung und Personaldecke seien die Schwachstellen des ÖPNV. Die aktuell verfügbaren Kapazitäten reichen nicht aus, um den Personennahverkehr nachhaltig und fahrgastfreundlich aufzustellen. Im Gegenteil hätte Reisenden sogar von Zugfahrten abgeraten werden müssen, weil die Züge völlig überlastet gewesen seien, so Woitendorf. Damit sei das Gegenteil der eigentlichen Intention des Neun-Euro-Tickets eingetreten. In verdichteten, urbanen Räumen habe das Ticket eine positive Wirkung gezeigt, aber die touristische Mobilität sei bei der Einführung nicht berücksichtigt worden, kritisiert Woitendorf.

Überlastete Zugstrecken an die Ostsee

Bis zu fünf Millionen Gäste hätten während der Sommerferien in den deutschen Bundesländern in Meck-Vorp übernachtet, heißt es vom Landestourismusverband. Während Beherbergungs- und Gastronomiebetriebe sowie Freizeit- und Wassertourismusanbieter weitgehend zufriedene Gäste verzeichneten, waren bei Verkehrsunternehmen nur etwa die Hälfte der Passagiere zufrieden. Vor allem die Zugstrecken aus den Metropolen Berlin und Hamburg nach Meck-Vorp waren mit der Einführung des Neun-Euro-Tickets regelmäßig überlastet.

Als Ursache für überfüllte Züge nennt Marcel Drews vom Fahrgastverband Pro Bahn, dass Züge nicht einfach verlängert werden könnten, und verweist zugleich auf teilweise zu kurze Bahnsteige. Gleichzeitig hebt Drews das unkomplizierte Umsteigen zwischen Bahn und Bus im Regional- und Nahverkehr als Stärke des Neun-Euro-Tickets hervor.

Begrenztes Zugpersonal aufgrund eines erhöhten Krankenstandes habe aber auch zu Ausfällen auf einigen Strecken geführt, etwa auf den Verbindungen Ludwigslust–Wismar, Neustrelitz–Stralsund und Ueckermünde–Pasewalk. Pendler mussten entweder früher zur Arbeit und kamen später nach Hause oder seien auf das Auto umgestiegen, so Drews.

Verkehrsunternehmen ziehen positive Bilanz

Die Verkehrsgesellschaften der Landkreise Vorpommern-Greifswald und Ludwigslust-Parchim ziehen ein positives Fazit. Dort habe die Nutzung des Neun-Euro-Tickets die Fahrgastzahlen teilweise erheblich gesteigert. Im Landkreis Vorpommern-Greifswald seien durchschnittlich 20 Prozent mehr Fahrgäste im ÖPNV unterwegs gewesen. Das Rufbussystem des Landkreises Ludwigslust-Parchim habe mit dem Neun-Euro-Ticket sogar eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen erzielt. Der ÖPNV beweist, dass er einen wesentlichen Beitrag zur Mobilität leisten kann, wenn er einfach zugänglich ist. Doch für ein derart großes Fahrgastaufkommen ist die Infrastruktur aktuell nicht ausgelegt. Ihr Ausbau sei eine der wichtigsten Herausforderungen des ÖPNV, erkennt Wirtschaftsminister Meyer.

Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) teilt mit, dass bundesweit 52 Millionen Neun-Euro-Tickets verkauft wurden. Zehn Millionen weitere Abonnent:innen erhielten das Ticket automatisch. Von insgesamt 78.000 Befragten gaben 89 Prozent der Nutzer:innen an, mit ihrer letzten Fahrt im ÖPNV zufrieden gewesen zu sein. „Die Entwicklung und Dynamik, die das Neun-Euro-Ticket genommen hat, hat eine Situation geschaffen, hinter die wir nicht mehr zurückgehen können“, erklärt Oliver Wolff, Hauptgeschäftsführer des VDV. Die Notwendigkeit einer Entlastung der Bevölkerung zugunsten einer klimafreundlichen Mobilität bestehe mehr denn je.

Daher plädiert der VDV für ein bundesweit geltendes 69-Euro-Ticket als Anschlusslösung und fordert langfristige Finanzierungsgrundlagen für einen zukunftsfähigen ÖPNV. Der Nah- und Regionalverkehr müsse sowohl in Ballungsgebieten als auch im ländlichen Raum ausgebaut werden. Die Attraktivität des öffentlichen Nahverkehrs hänge von einem dichten Liniennetz, einer guten Taktung und schnellen Fahrzeiten ab, heißt es.

Auch Marcel Drews von Pro Bahn spricht sich für eine Anschlussregelung aus. Er hält ein dreistufiges Preismodell für realistisch: ein lokales ÖPNV-Monatsticket für 29 Euro, das im Landkreis gilt, ein landesweites Ticket für 39 Euro und ein bundesweites Ticket für 69 Euro. „Die Abstufung wäre sinnvoll, um den Nahbereich nicht zu teuer werden zu lassen“, erklärt er. So könnte einkommensschwachen Menschen in Zukunft eine bessere mobile Teilhabe ermöglicht werden.

Balkengrafik Umfrage ADAC

Was Autofahrer:innen sagen

Auch der ADAC hat die Wirkung des Neun-Euro-Tickets untersucht und zieht eine weitgehend positive Bilanz. 42 Prozent aller befragten Autofahrer:innen bewerteten die Einführung des subventionierten Angebots als positiv. Ein knappes Drittel nutzte den ÖPNV mit dem Neun-Euro-Ticket häufiger. Die Hälfte aller Befragten unternahm mit dem Entlastungsticket zusätzliche Fahrten.

„Das 9-Euro-Ticket hat zur sozialen Teilhabe beigetragen, indem es mehr Menschen bezahlbare Mobilität ermöglicht hat“, erklärt ADAC-Verkehrspräsident Gerhard Hillebrand. Doch er stellt auch fest: „Wichtiger als die reine Preisdiskussion ist die Verbesserung des Angebots, weil viele Menschen insbesondere im ländlichen Raum kein gutes Angebot vorfinden.“

Zu Ihnen gehört auch Mathias auf Rügen, für den das Neun-Euro-Ticket keine Option war. Der ÖPNV stellt für ihn keine Alternative zum PKW dar. Er plädiert für eine verbesserte Taktung der Busse besonders zu den Stoßzeiten der Berufspendler. „Wenn die Busse morgens und nachmittags im Halbstundentakt fahren würden, würde ich das Auto wahrscheinlich stehen lassen“, sagt er. Es wäre nicht nur in seinem Interesse, denn in den zurückliegenden drei Monaten habe die Verlagerung vom PKW zu Bus und Bahn durch das Neun-Euro-Ticket rund 1,8 Millionen Tonnen CO2 eingespart. Das sei etwa so viel, wie ein Jahr Tempolimit auf deutschen Autobahnen bringen würde, erklärt VDV-Geschäftsführer Wolff.

Quellen

  1. Ministerium für Wirtschaft, Infrastruktur und Tourismus (Hg.): Bundesweites 9-Euro-Ticket läuft zum Monatsende aus, auf: regierung-mv.de (27.8.2022).
  2. Telefonat am 31.8.2022.
  3. Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern (Hg.): Bilanz im MV-Tourismus: Sommer gut, Stimmung trübt sich ein, auf: urlaubsnachrichten.de (31.8.2022).
  4. Daten liegen KATAPULT MV vor.
  5. Ministerium für Wirtschaft, Infrastruktur und Tourismus (Hg.): Bundesweites 9-Euro-Ticket läuft zum Monatsende aus, auf: regierung-mv.de (27.8.2022).
  6. Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (Hg.): Bilanz eines Erfolgsmodells: Rund 52 Millionen verkaufte 9-Euro-Tickets, auf: vdv.de (29.8.2022).
  7. Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (Hg.): Das 9‐Euro‐Ticket im Urteil der Bevölkerung, auf: vdv.de (24.6.2022).
  8. Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (Hg.): Pressezitat Wolff: „Bundesweites Klimaticket für 69 Euro zum 1. September ist umsetzbar“, auf: vdv.de (15.7.2022).
  9. Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (Hg.): Aktuell rund 38 Millionen verkaufte 9-Euro-Tickets, auf: vdv.de (8.8.2022).
  10. Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (Hg.): Bilanz eines Erfolgsmodells: Rund 52 Millionen verkaufte 9-Euro-Tickets, auf: vdv.de (29.8.2022).
  11. ADAC (Hg.): ADAC Bilanz Tankrabatt und 9-Euro-Ticket, auf: presse.adac.de (31.8.2022).
  12. Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (Hg.): Bilanz eines Erfolgsmodells: Rund 52 Millionen verkaufte 9-Euro-Tickets, auf: vdv.de (29.8.2022).

Autor:in

  • Freier Redakteur

    Ist KATAPULT MVs Inselprofi und nicht nur deshalb gern am Wasser. Nutzt in seinen Texten generisches Femininum.