Im Interview

Nostorf-Horst: Noch immer ein Zeichen für Rassismus

Mit einer Gedenkwoche im August wurde an die Krawalle in Rostock-Lichtenhagen vor 29 Jahren erinnert. Dort hatten 1992 rechtsextreme Randalierende unter dem Beifall Tausender Zuschauer:innen das Asylbewerberheim und eine benachbarte Unterkunft für vietnamesische Vertragsarbeiter:innen angegriffen. Nach den Vorfällen wurden die Migrant:innen nach Nostorf-Horst gebracht. Das dortige Erstaufnahmelager ist bis heute in Betrieb – weit weg von den Augen der Öffentlichkeit. KATAPULT MV hat mit einer ehemaligen Bewohnerin des Lagers gesprochen.

Ihren Namen möchte sie nicht sagen. Auch nicht, wo sie herkommt. Lieber möchte sie aufmerksam auf das machen, was noch immer ungelöst ist: der fortdauernde Rassismus in der Gesellschaft. 29 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen habe sich wenig verändert, sagt Sarah. So nennen wir sie in diesem Beitrag.

Ein Rückblick: Zwischen dem 22. und dem 26. August 1992 griffen Hunderte zum Teil rechtsextreme Randalierende im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen das Asylbewerberheim und eine benachbarte Unterkunft vietnamesischer Vertragsarbeiter:innen an. Sie bewarfen die Wohnblöcke mit Steinen, Scherben und Brandsätzen, zündeten die Unterkunft der Vertragsarbeiter:innen schließlich an.

Die Bewohner:innen des Asylbewerberheims wurden nach den Ausschreitungen in eine neue Unterkunft gebracht, nach Nostorf-Horst im heutigen Landkreis Ludwigslust-Parchim. Bis heute befindet sich dort die Erstaufnahmestelle für Geflüchtete in Mecklenburg-Vorpommern. Sie liegt abgelegen in einem Wald, rund sechs Kilometer von Boizenburg entfernt. Genau im Grenzdreieck zu Niedersachsen und Schleswig-Holstein.

Gelände der Erstaufnahmeunterkunft in Nostorf-Horst (Foto: privat)

In den Gebäuden können bis zu 600 Geflüchtete untergebracht werden. Eine weitere Unterkunft wurde 2015 in Stern-Buchholz bei Schwerin eröffnet, als die Zahl Geflüchteter und Migrant:innen unerwartet angestiegen war, heißt es auf der Internetseite des Landesamtes für innere Verwaltung. Zusätzlich existierte noch eine Wohnunterkunft in Basepohl im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. Die wurde später nur noch als Reservestandort genutzt, steht aber nach Angaben einer Sprecherin des Innenministeriums schon seit einigen Jahren dem Land Mecklenburg-Vorpommern nicht mehr zur Verfügung.

Seit der Eröffnung fordern Initiativen, wie Pro Bleiberecht, women in exile und der Flüchtlingsrat MV: Die Unterkunft in Nostorf-Horst muss geschlossen werden. Sie sei „keine Häuslichkeit, sondern eine Zwangslage“. Viele Menschen hätten bei ihrer Flucht psychische oder physische Gewalt erlebt. Sie würden vor Ort mit ihren Sorgen allein gelassen. So gebe es seit Jahren keine ausreichende Versorgung, etwa eine umfangreiche Seelsorge oder Therapiemöglichkeiten, und kein entsprechend geschultes Personal.

„Niemand fühlt sich gut oder wohl in Horst, man fühlt sich einfach nur müde“

Um einen Einblick in das Leben von Geflüchteten zu bekommen, die in Nostorf-Horst untergebracht sind, haben wir mit einer ehemaligen Bewohnerin gesprochen. Da sie derzeit noch Deutsch lernt, haben wir das Gespräch auf Englisch geführt, um Missverständnisse zu vermeiden. Aus persönlichen Gründen möchte unsere Interviewpartnerin nicht namentlich genannt werden. Wir nutzen daher das Pseudonym „Sarah“.

KATAPULT MV: Woher kommst du? Wann bist du nach Horst gekommen und wie lange warst du dort untergebracht?

Sarah: Ich möchte lieber nicht sagen, von wo ich komme. Aber in Horst habe ich vor ein paar Jahren für insgesamt zehn Monate gelebt.

Wie wart ihr dort untergebracht? Wie viele Personen lebten in einem Zimmer, wie waren die Sanitäranlagen?

Es gab Zimmer für zwei oder vier Personen. Das war okay. Die Toiletten waren oft sehr dreckig, Toilettenpapier und Seife fehlten. Die Mitarbeitenden haben die Sachen direkt an die Bewohner:innen verteilt. Also durfte man die Sachen nicht vergessen, wenn man zur Toilette wollte. Dieses Foto fand ich in meinen alten Chats – das ist der Flur, in dem es Internetzugang gab. In diesem Moment waren nicht so viele Leute da, aber manchmal war es so voll und Kinder saßen dicht an dicht auf dem Boden, auch jetzt noch, in Zeiten von Corona.

Flur mit Internetzugang in der Erstaufnahmeunterkunft Nostorf-Horst (Foto: privat)

Was für eine Stimmung hast du dort erlebt?

Die meisten Menschen, die lange in Horst sind, werden immer depressiver. Ich kann mich daran erinnern, dass auch ich am Ende jeden Tag geweint habe. Zu dieser Zeit waren wir dort um die 150 Bewohner:innen.

Jeder Tag war exakt gleich: Morgens gehen die Bewohner:innen zum Frühstück, mittags zum Essen, danach gehen viele in die Stadt – aus drei Gründen: Um einfach für ein, zwei Stunden rauszukommen, um zum Supermarkt zu gehen oder um einen W-Lan-Hotspot zu finden, auf der Straße oder beim Lidl. Denn in Horst ist das Internet sehr langsam. Danach ging es wieder zurück nach Horst zum Abendessen. Niemand fühlt sich gut oder wohl in Horst, man fühlt sich einfach nur müde, weil sich jeder Tag ständig wiederholt.

Die nächsten Orte sind Boizenburg und Lauenburg und um die sechs Kilometer entfernt. Lauenburg ist etwas näher, liegt aber schon in Schleswig-Holstein. Die Bewohner:innen dürfen dort ja gar nicht hin, oder? Können sie also nur nach Boizenburg?

Wenn sie aus Mecklenburg-Vorpommern rauswollen, brauchen sie eine Genehmigung. Das gilt auch für Lauenburg. Aber der Supermarkt in Lauenburg ist näher als der in Boizenburg und dort gibt es auch einen Second-Hand-Shop. (Anm. d. Red.: Speziell für Lauenburg bekommen in Nostorf-Horst untergebrachte Asylbewerber:innen eine Ausnahmegenehmigung.)

Hast du Bekanntschaften gemacht oder Freundschaften geschlossen?

Innerhalb der Unterkunft ja. Aber wenn man dort lebt, ist es schwer, jemanden von außerhalb zu treffen. Das Gelände liegt ja sehr abseits der Stadt.

Wie war der Umgang mit den Mitarbeiter:innen der Unterkunft?

In der Regel verstehen sie Englisch, aber sie sprechen nicht mit dir. Manchmal klopfen sie auch nicht an die Zimmertür, bevor sie reinkommen.

In Horst habe ich viele rassistische Anfeindungen von Mitarbeiter:innen erlebt. Natürlich gibt es auch gute und faire Leute, aber das sind nur wenige. Von den meisten Menschen, die dort arbeiten, werden Bewohner:innen angefeindet und die Leute haben Angst zu protestieren.

Und meinst du, das ist noch immer so?

Ich habe mit einer Frau gesprochen, die vor elf Jahren in Horst gelebt hat und mit einer, die vor vier Jahren dort war: Sie erzählen von genau den gleichen Erfahrungen, die ich gemacht habe. Wir sind auch jetzt noch mit Bewohner:innen in Horst in Kontakt und auch sie berichten uns von den gleichen Problemen.

Hier werden die Asylbewerber:innen in Nostorf-Horst untergebracht. (Foto: privat)

Du hast erzählt, dass du den Kontakt über die Gruppe women in exile hälst. Das ist eine Initiative von Flüchtlingsfrauen, die sich 2002 in Brandenburg gegründet hat. Was sind eure Ziele?

Wir wollen Frauen vor Ort unterstützen und in verschiedenen Bereichen helfen. Wir möchten nicht, dass noch mehr das Gleiche durchmachen müssen wie wir. Wir haben die Women-in-exile-Gruppe bei einer ihrer Touren zu den Lagern erstmals getroffen. Dann haben einige Frauen aus Horst und ich entschieden, auch eine Gruppe in Mecklenburg-Vorpommern zu gründen.

Auch Pro Bleiberecht organisiert jeden Monat Demonstrationen vor der Unterkunft, versorgt die dort untergebrachten Leute mit Medikamenten, Kleidung und Rechtsbeistand. Aber das grundlegende Ziel ist, zu zeigen, dass wir nicht schweigen und weiter gegen Rassismus kämpfen. Denn Orte wie Horst repräsentieren einen tiefen Rassismus in deutschen Gesetzen rund um die Lagerpolitik.

Wie viele Menschen sind derzeit in Horst untergebracht?

Ich habe keine genaue Zahl, aber ich habe gehört, dass es gerade um die 90 sind.

Mit deinen Erfahrungen und den Berichten anderer Bewohner:innen von früher und heute – was, würdest du sagen, muss sich zuerst ändern?

Geflüchtete brauchen in erster Linie Frieden und Aufmerksamkeit. Wenn die Menschen näher an oder in den Städten wohnen könnten, würde es ihnen besser gehen: Sie könnten dann mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und auch die deutsche Sprache viel schneller lernen.

Kritik kommt auch vom Flüchtlingsrat MV

Solche persönlichen Berichte hören auch die Mitarbeiter:innen vom Flüchtlingsrat MV immer wieder. Auch sie setzen sich dafür ein, dass die Unterkunft in Horst geschlossen wird. Das Problem laut Flüchtlingsrats-Geschäftsführerin Ulrike Seemann-Katz (Bündnis 90/Die Grünen): die Politik. Bund und Land haben vor Ort gemeinsame Einrichtungen, wie eine medizinische Untersuchungsstelle für Geflüchtete. Da liege die Unterkunft günstig daneben. Was aber fehle, ist die Justiz vor Ort.

Auch seien die Geflüchteten viel zu lange in der Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht. Laut EU-Richtlinien dürfen geflüchtete Menschen nur maximal drei Monate in einem Erstaufnahmelager untergebracht sein. Das sei für einen solchen Zeitraum auch okay, aber nicht für längere Zeit. In vielen Erstaufnahmestellen sind die Geflüchteten praktisch aber ein halbes Jahr. Auch in Nostorf-Horst. Kinder können in dieser Zeit nicht beschult werden, das sei ein großes Problem, so Seemann-Katz. Daran müsse sich dringend etwas ändern.

Sechs Kilometer von der nächsten Stadt entfernt. Abgeschnitten von der Außenwelt. (Foto: privat)

Außerdem bestätigen Gespräche mit Mitarbeiter:innen des Beratungsprojektes für Asylfragen, dass es nach wie vor rassistische Anfeindungen von Mitarbeitenden vor Ort gibt. Körperliche Übergriffe sind nicht bekannt, jedoch Beleidigungen und bewusstes Ignorieren, etwa von Fragen und Problemen. Aufsehen erregte 2017 ein Fall, bei dem eine Frau in Horst von einem Mitbewohner sexuell belästigt wurde, Mitarbeiter aber nicht eingriffen. Die Angestellten müssten im sozialen Umgang mit den Geflüchteten unbedingt besser geschult werden. Nicht nur in Horst, auch generell, meint Seemann-Katz. Das soziale Klima in der Unterkunft in Stern-Buchholz sei da schon besser. Deshalb fordere der Flüchtlingsrat MV, die Erstunterkunft in Nostorf-Horst zu schließen und die Bewohner:innen in Stern-Buchholz unterzubringen. Dort seien derzeit 200 bis 300 Geflüchtete untergebracht, Platz gäbe es für rund 700 Menschen. Aber: Diese Unterkunft gehört nicht dem Land. Vom Innenministerium MV heißt es auf E-Mail-Anfrage: „[…] die gebotene Weiterentwicklung der Standorte wird in Abstimmung mit dem Finanzministerium durch die Staatliche Bau- und Liegenschaftsverwaltung vorgenommen. An beiden Standorten ist auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vertreten. Die konkrete Unterbringung an den einzelnen Standorten erfolgt nach mehreren Kriterien, unter anderem in Abhängigkeit von Herkunftsland und der entsprechenden Bearbeitung der Asylanträge durch das BAMF.“

Der Flüchtlingsrat hofft, dass die neue Landesregierung die seit 2001 geltenden Richtlinien für Gemeinschaftsunterkünfte und Betreuungsrichtlinien für geflüchtete Menschen überarbeitet. Bis dahin werden Asylbewerber:innen, die nach Mecklenburg-Vorpommern kommen, weiterhin auch in Nostorf-Horst untergebracht.

Quellen

  1. https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/254347/rostock-lichtenhagen
  2. https://www.laiv-mv.de/Migration/Aufnahme
  3. http://bleiberecht-mv.org/de/horst
  4. https://www.women-in-exile.net
  5. http://bleiberecht-mv.org/de/2020/12/30/offener-brief-lockdown
  6. https://www.fluechtlingsrat-mv.de/sexistischer-gewalttaetiger-uebergriff-in-nostorf-horst/3724

Autor:in

  • Bild von KATAPULT MV Redaktionsleiterin Martje Rust

    Redaktionsleitung

    Ist in Greifswald geboren, hat in Augsburg studiert und zog für den Lokaljournalismus wieder zurück nach MV.