Heute versuchen Pflegekräfte erneut auf die fehlenden Strukturen im Pflegedienst und deren wirtschaftliche Folgen aufmerksam zu machen. Landesweit demonstrieren sie in acht Städten, darunter Neubrandenburg, Rostock, Stralsund, Greifswald und Schwerin. Von der Landes- und Bundesregierung wird gefordert, bessere Bedingungen zu schaffen, da immer mehr Pflegebedürftige immer weniger Pflegepersonal gegenüberstehen. In der Konsequenz ist davon auszugehen, dass vermehrt Angehörige die Pflege übernehmen und ihren eigentlichen Job stundenweise reduzieren oder ganz aufgeben müssen.
Wie der Alltag in der Pflege aussieht, welche Abstriche gemacht werden müssen und welche Lösungsansätze verfolgt werden, verrät Maik Wolff, Sprecher des Netzwerks Pflege in Not MV:
KMV: Sie protestieren insgesamt in längeren Abständen. Warum und wie decken Sie die Personalaufstellung in den Betrieben, die mitmachen?
Maik Wolff: Wir sind in der Sommerzeit alle 14 Tage auf die Straße gegangen, um daran zu erinnern, dass die Politik in der Sommerpause ist und wir 24 Stunden am Tag unter halber Besetzung. Denn auch Pflegekräfte brauchen Urlaub und Auszeit. Wir haben darauf aufmerksam gemacht, dass die Verantwortung, die wir tagtäglich übernehmen, von den Rahmenbedingungen bestimmt wird, welche die Landespolitik gestaltet.
Wir gehen aus unserem beruflichen Verständnis für die Bedürftigen auf die Straße und in den Protest. Und dies tun wir in unserer Freizeit. Wir versorgen Menschen. Einen Pflegedienst, ein Altersheim, eine Tagespflege können wir nicht abschließen, wohlwissend, dass Menschen dann in eine lebensbedrohliche Lage kommen können.
Wie ist derzeit der Betreuungsschlüssel von Pflegenden und Bedürftigen?
Im Pflegedienst ist der Schlüssel folglich 1:1, die Pflegekraft fährt ja zu dem Patienten, erbringt die notwendigen vereinbarten oder ärztlich verordneten Leistungen und fährt danach weiter.
Je nach Umfang der Leistungen – eine Spritze geht schneller als ein Wundverband – hat eine Pflegekraft durchaus in einer Schicht von sechs Stunden bis zu 30 Patienten. Einen großen Teil der Zeit, etwa 40 bis 50 Prozent, verbringt die Pflegekraft auf der Straße im Auto, auf dem Weg von Patient zu Patient.
Für den Fahrtaufwand bekommt der Pflegedienst einen festgesetzten Geldbetrag. Bei den stark gestiegenen Kosten, wie Lohn, Sprit, Kfz-Leasing, ist damit immer nur eine sehr kurze Fahrzeit zu deckeln. Refinanziert ist ein Aufwand von etwa fünf Minuten.
Im Umkehrschluss muss der Pflegedienst Patienten ablehnen oder gar kündigen, wenn der Fahrweg länger als diese fünf Minuten ist. Mecklenburg-Vorpommern ist ein Flächenland. Viele ältere Menschen leben in kleinen Gemeinden und Dörfern. Pflegedienste sind gerade von diesen Dörfern und Gemeinden deutlich weiter als fünf Minuten entfernt. Die Pflegedienste berichten uns von durchschnittlichen Fahrzeiten von Dorf und Dorf von mehr als 15 Minuten.
Gibt es noch weitere Hürden?
Ein weiteres Problem stellt die Finanzierung der erbrachten Leistungen dar. Der Pflegedienst bekommt nicht nach Zeit, sondern nach Leistungsgruppen bezahlt. Hat der Patient eine Leistung, die besonders viel Zeit braucht, zum Beispiel ein langer Verbandswechsel, reicht die Pauschalvergütung nicht aus. Hat der Patient mehrere Leistungen, bekommt der Pflegedienst dennoch nur eine Pauschalvergütung. Im Ergebnis sind Patienten mit aufwendigen Behandlungen oder mehreren Leistungen, wie einer Insulinspritze und ein Wundverband, absolut unwirtschaftlich. Der Pflegedienst muss sich, um zu überleben, von diesen Patienten trennen.
Die Lage betrifft alle Pflegedienste. Im Ergebnis finden Bedürftige und deren Familien keinen Pflegedienst mehr, der sie versorgt. Was aber tun, wenn ich als Betroffener keinen Dienst finde? Häufig muss dann die Familie ran, die Arbeitszeit muss reduziert oder der Arbeitsplatz aufgegeben werden. Damit schadet der Pflegenotstand auch ganz erheblich der Wirtschaft. Dies wird sich in den nächsten Jahren verschärfen.
Wie kann für den Pflegeberuf attraktiv geworben werden?
Es kommt unseres Erachtens nicht darauf an, attraktiv zu werben, sondern attraktiver Arbeitsbedingungen zu gestalten. Diese Bedingungen kosten Geld und müssen von der Solidargemeinschaft getragen werden, wenn wir die Pflege unserer Eltern und Großeltern sicherstellen wollen.
Immer mehr unserer Berufskollegen gehen in Rente – Die öffentlichen Statistiken zeigen, dass deutlich mehr als die Hälfte der Mitarbeiter bis 2040 in den Ruhestand gehen werden. Immer mehr Pflegebedürftige stehen immer weniger Kollegen gegenüber.
Der hohe Bedarf an Pflegekräften kann in den nächsten 15 Jahren nicht ausschließlich aus den Schulabgängern oder Quereinsteigern gewonnen werden. Ein großer Anteil ist auch durch Migration möglich. Hierzu müssen wir aber auch gesellschaftlich kulturoffener und integrativer werden.
In einem der aktiven Pflegedienste in Neubrandenburg gibt es 47 Auszubildende, davon ein großer Anteil aus Indien und Vietnam. Die größte Aufgabe besteht darin, eine Heimat zu bieten und eine Community aufzubauen.
Wie viele Stunden arbeitet eine Pflegekraft wöchentlich?
Die meisten Pflegekräfte arbeiten in Teilzeit. Die durchschnittliche Arbeitszeit dürfte bei 30 Wochenstunden liegen.
Wie viele sind es laut Arbeitsvertrag?
Die Regelarbeitszeit beträgt 40 Stunden in der Pflege. Durchschnittlich liegt die Arbeitszeit darunter, auch weil die Pflege ein physisch und psychisch belastender Beruf ist.
Überstunden haben nach meiner Kenntnis in den letzten Jahren deutlich abgenommen, auch weil die nachkommende Generation der Pflegekräfte ein höheres Bedürfnis nach einem guten Verhältnis von Work-Life-Balance haben.
Sehen Sie anhand Ihrer letzten Protestaktionen schon eine Veränderung?
Den Bürgern wird die prekäre Lage immer klarer. Proteste sind aber bei Weitem nicht alles. Wir stehen für konstruktive Kritik und Dialog. Dazu gibt es weitere Termine. Anfang September haben wir alle Akteure im Gesundheitswesen zu einer Klausur eingeladen, um über die Zukunft der Pflege zu beraten. Die Pflege ist breit vertreten. Politische Akteure, Kostenträger, Entscheider lassen noch sehr auf ihre Anmeldungen warten.
Wir sehen Fortschritte im Dialog. Tatsächliches Handeln und das deutliche Vorantreiben der Verbesserung der Situation können wir nur bedingt erkennen.
Quellen
- E-Mail von Maik Wolff vom Netzwerk Pflege in Not MV vom 17.8.2023.↩
- Bei dienstlicher Nutzung von Privatautos erstattet der Arbeitgeber nach einem individuell ermittelten Kostensatz oder nach einer Pauschale, die sich auf 30 Cent pro Kilometer beläuft.↩