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Aufnahme von Geflüchteten

Politische Uneinigkeit und Eierwurf in Greifswald

In einer Sondersitzung gestern Abend hat die Greifswalder Bürgerschaft über die Pläne zu neuen Unterbringungsmöglichkeiten von Geflüchteten abgestimmt. Die öffentliche Sitzung wurde in der Mehrzweckhalle abgehalten, um möglichst viele Bürger:innen daran teilnehmen lassen zu können. Um die Veranstaltung formierten sich insgesamt drei Demonstrationen. Am Ende des Abends wurden zwei Ermittlungsverfahren eingeleitet. Eine Chronologie der Ereignisse.

Insgesamt drei Versammlungen haben sich nacheinander rund um das Schönwalde-Center zusammengefunden. Die erste Demonstration wurde vom Greifswalder Krisenbündnis organisiert. Zu Beginn um 17 Uhr versammeln sich etwa 30 Personen. Sie formieren sich gegenüber der zweiten angemeldeten Demo der Initiative Greifswald für alle am Schönwalde-Center. Diese beginnt kurz nach 17.30 Uhr. Etwa 150 Leute nehmen daran teil.

18.00 Uhr: Der Einlass in die Mehrzweckhalle beginnt. Eine Anmeldung im Vorfeld war nötig. Es werden Taschen und Identitäten kontrolliert.

18.08 Uhr: In einer Ansprache des Krisenbündnisses macht ein Sprecher auf die psychische Zersetzung der Menschen aufmerksam, die in einer zentralen Unterbringung leben müssen.

Nach dieser Ansprache folgen verschiedene Redebeiträge aufseiten von Greifswald für alle. Unter anderem verliest Initiator Gregor Kochhan einen Leserbrief von Anne Wolf, ebenfalls Mitglied der Initiative, den die Ostsee-Zeitung nicht veröffentlichen wollte.

Zur Hochzeit der Versammlungen gegen etwa 18.15 Uhr: Eine dreiviertel Stunde vor Beginn der Bürgerschaftssitzung befinden sich etwa 150 Personen auf der Demonstration von Greifswald für alle, rund 80 beim Krisenbündnis.

Auf der anderen Seite des Schönwalde-Centers kommen etwa 17 Menschen zusammen, kurz wird ein Banner mit der Aufschrift „Bürgerbegehren durchsetzen“ gezeigt. Kurz darauf löst sich die Versammlung auf. Einige der Teilnehmenden gehen zur Bürgerschaftssitzung, andere versammeln sich gegenüber der Demonstration des Krisenbündnisses.

18.36 Uhr: Das Krisenbündnis wirbt dafür, auch die Demo von Greifswald für alle zu besuchen. In der unangemeldeten Versammlung gegenüber stehen mittlerweile etwa 150 Personen.

Zwischenzeitlich Schneeregen bei 3 Grad. Die Veranstalter:innen von Greifswald für alle zeigen sich zufrieden. Auch das erhöhte Polizeiaufkommen und das sichtbare Sicherheitskonzept, etwa mit Absperrgittern, werden gelobt.

Laut Polizeisprecher hat es bislang keine besonderen Vorkommnisse gegeben. Zu Beginn der Versammlung gegen 17 Uhr hatte ein Mann den Hitlergruß gezeigt. Dieser sei aber kein Veranstaltungsteilnehmer gewesen und wurde nur zufällig von Beamt:innen beobachtet.

Kurz nach 19 Uhr: Die Bürgerschaftssitzung beginnt mit Wortmeldungen der Bürger:innen. Laut Stadt sind etwa 300 Zuschauer:innen gekommen, angemeldet waren 500. Per Livestream schalten sich zeitweise mehr als 800 Interessierte zu. Eigentlich sind die Wortmeldungen laut Satzung auf 30 Minuten begrenzt, die Bürgerschaft räumte diesen über eine Stunde ein. Auch die Initiatoren des Bürgerbegehrens melden sich zu Wort. Für dieses wurden ihren Aussagen zufolge innerhalb von zwölf Tagen 7.000 Unterschriften gesammelt. „Das sollte ernst genommen werden“, so Initiator Ronny Bormann. Er habe „die Nase voll von dieser einseitigen Politik“, Oberbürgermeister Stefan Fassbinder (Grüne) müsse zurücktreten. Die Forderungen aus dem Bürgerbegehren wolle man zudem durchsetzen und auch endlich eine „demokratische Regierung haben – nicht nur in Greifswald und MV, sondern auch deutschlandweit“.

19.28 Uhr: Zwei Eier fliegen aus den Reihen der unangemeldeten Demo in Richtung des Krisenbündnisses. Ein Elfjähriger wird von der Polizei abgeführt. Auf Nachfrage teilt deren Pressesprecher mit, dass der Junge und seine Mutter die Eier geworfen hätten. Personalien werden aufgenommen und ein Ermittlungsverfahren wegen versuchter Körperverletzung und Landfriedensbruchs eingeleitet.

Gegen 19.40 Uhr: Ein Bürger betont in seiner Wortmeldung, dass das Vertrauen der Menschen in die Politik und das System litten, sollte das Bürgerbegehren keine Beachtung finden.

Während die Bürgerschaftssitzung seit 40 Minuten läuft, verharren draußen die Versammlungen. Es beginnen verbale Anfeindungen über die Straße hinweg: Aus der Menge der unangemeldeten Demo sind immer wieder ausgestreckte Mittelfinger zu sehen und Beleidigungen zu hören. Durch die Polizeipräsenz kommt es dennoch zu keinen körperlichen Auseinandersetzungen der Lager.

Auch eine ukrainische Aktivistin kommt vor der Bürgerschaft zu Wort. Sie spricht davon, dass nicht nur die Bürger:innen Angst vor Geflüchteten hätten, sondern es auch ebenso der Fall sei.

19.44 Uhr: Wortbeiträge vom Krisenbündnis werden mit Pfiffen der gegenüberliegenden Seite gestört.

19.49 Uhr: Der Sportbund der Hansestadt Greifswald bittet in einer Stellungnahme darum, keine Sporthallen als Unterkünfte für Geflüchtete zu verwenden. Damit gehe den Sportvereinen, die als Orte „gelebter Integration“ wichtige Arbeit leisteten, Raum verloren.

Gegen 20 Uhr: Ein weiterer Redner betont: „Die Initiatoren des Bürgerbegehrens sprechen nicht für alle Bürger:innen.“ Diesen Eindruck hier zu schüren, dagegen verwahre er sich entschieden.

20.04 Uhr: Vom Polizeisprecher heißt es, dass die unangemeldete Versammlung von der Versammlungsbehörde nun als Teil der angemeldeten Demo des Krisenbündnisses verstanden wird. Laut Versammlungsrecht trage dann die Anmelderin beziehungsweise der Anmelder die Verantwortung, auch für Alkoholkonsum oder Ausschreitungen.

20.08 Uhr: Der Landrat von Vorpommern-Greifswald, Michael Sack, informiert über die aktuellen Geflüchtetenzahlen und die Belegungssituation im Landkreis. Von einer Vollbelegung der Not- und Gemeinschaftsunterkünfte werde ab einer Auslastung von 75 Prozent gesprochen. Im Kreis seien es aktuell durchschnittlich 82 Prozent, so der CDU-Politiker. Um hier diskutieren zu können, müssten diese Fakten bekannt sein. Auch bewusst sein solle den Anwesenden, dass die Stadt Greifswald momentan zwar in absoluten Zahlen im Kreis die meisten Geflüchteten aufgenommen habe, sich das aber in einer anteiligen Betrachtung relativiere. So seien in der Hansestadt im Verhältnis zur Bevölkerung 3,5 Prozent Geflüchtete aufgenommen worden. Dagegen liegt der Wert etwa in Torgelow bei zehn Prozent oder in Plöwen (östlich von Pasewalk) bei 26 Prozent. „Wir kriegen die Geflüchteten, ob wir wollen oder nicht, vor die Tür gestellt.“ Dabei bestehe aktuell bereits ein Defizit von etwa 1.600 Betten.

Gegen 20.40 Uhr: An die Ausführungen Sacks schließt sich die Vorstellung der vorliegenden Beschlussvorlagen an.

Die AfD spricht sich in ihrem Antrag für einen Aufnahmestopp aus. Sie fordert zudem, dass die Bürgerschaft keine Grundstücke für die Unterbringung Geflüchteter bereitstellt.

Die Vorlage von unter anderem SPD und Linken sieht vor, mehrere kleine Standorte in Greifswald mit einer Maximalkapazität von 100 Personen zu planen. Containerdörfer sollen außerdem nur eine Übergangslösung darstellen und generell eine dezentrale Unterbringung angestrebt werden.

21.24 Uhr: Die Fraktion FDP/Kompetenz für Vorpommern ebenso wie später auch CDU-Bürgerschaftsmitglied Madeleine Tolani sprechen sich dafür aus, das Ergebnis des Bürgerbegehrens abzuwarten. Ansonsten werde über den Kopf der Menschen hinweg entschieden, erklärt Katja Wolter. Der Prozess rund um das Bürgerbegehren müsse respektiert werden, argumentiert Tolani.

21.27 Uhr: Oberbürgermeister Fassbinder äußert sich nach zahlreichen Anschuldigungen von Bürger:innen und Politiker:innen: Gegen die Aussagen, die Stadt würde das Begehren nicht ernst nehmen oder unterstützen, spreche, dass die Stadt die Petenten unter anderem im Vorfeld rechtlich beraten habe. Die Unterschriften des Begehrens würden zudem von der Stadt geprüft.

Gegen 22 Uhr: Fassbinder meldet sich erneut zu Wort. Es würden so lange keine Pachtverträge abgeschlossen, wie das Ergebnis des Bürgerbegehrens noch ausstehe. „Das ist selbstverständlich.“

22.50 Uhr: Der Antrag der AfD wird von der Mehrheit der Bürgerschaft in einer namentlichen Abstimmung abgelehnt: 32-mal Nein, 4-mal Ja, 2 Enthaltungen.

22.55 Uhr: Die Abstimmung über die Vorlage von SPD, Linken und weiteren geht zu deren Gunsten aus. Sie wird mit 21 Jastimmen, 17 Neinstimmen und ohne Enthaltungen angenommen.

Damit endet die Bürgerschaftssitzung.

Bürgermeister Fassbinder zeigte sich im Nachgang weitestgehend zufrieden mit der Sitzung: Die Debatte habe er als größtenteils sachlich empfunden, so der Grünen-Politiker gegenüber KATAPULT MV. Es sei allerdings nicht in Ordnung, dass im Laufe der Veranstaltung – gerade auch durch die Initiatoren des Bürgerbegehrens – immer wieder falsche Behauptungen aufgestellt wurden. Der Stadtverwaltung und ihm als Oberbürgermeister sei nicht nur unterstellt worden, einzelne Personen – etwa Mitarbeiter:innen – oder Unternehmen unter Druck zu setzen, damit diese das Bürgerbegehren nicht unterschreiben beziehungsweise unterstützen. Er und die Stadtverwaltung wurden ebenfalls beschuldigt, das Begehren selbst nicht ernst zu nehmen, was Fassbinder entschieden zurückwies. Er sei darüber hinaus froh, dass mit der Zustimmung zur Vorlage von unter anderem SPD, Linken und Grünen ein klares Bekenntnis der Stadt zur Aufnahme weiterer Geflüchteter stehe.

Landrat Michael Sack zeigte sich weniger zufrieden. Die Annahme der Vorlage und die damit verbundene zeitliche Verzögerung würden dem Landkreis mit dessen Unterbringungsproblem nicht weiterhelfen. Jede Woche bekomme der Landkreis neue Geflüchtete zugeteilt, für die dringend Unterkünfte geschaffen werden müssen. Schon jetzt seien eigentlich die Kapazitätsgrenzen erreicht. Sollten sich keine neuen Möglichkeiten auftun, müsse der Landkreis zur Unterbringung, obwohl das vermieden werden solle, wohl erneut zwangsläufig auf Sporthallen zurückgreifen.Nach Angaben der Polizei gab es auch eine Handgreiflichkeit unter den Zuschauer:innen im Saal. Ein 54-jähriger Deutscher habe eine 28-jährige Ukrainerin am Oberarm festgehalten und genötigt, ein Foto auf ihrem Smartphone zu löschen. Er habe angenommen, Teil der Aufnahme zu sein. Ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Körperverletzung und Nötigung wurde eingeleitet.

Transparenzhinweis: In einer früheren Version des Artikels haben wir zur Vorlage des Linksbündnisses geschrieben, dass maximal 200 Personen in einer Unterkunft untergebracht werden sollen. Laut der überarbeiteten und aktualisierten Vorlage sind es allerdings nur 100 Personen. Außerdem haben wir eine ukrainische Aktivistin als Geflüchtete bezeichnet. Beides wurde korrigiert.

Autor:innen

  • Redakteurin in Greifswald

    Geboren in Berlin, aufgewachsen in Berlin und Brandenburg. Tauschte zum Studieren freiwillig Metropole gegen Metropölchen.

  • Bild von KATAPULT MV Redaktionsleiterin Martje Rust

    Redaktionsleitung

    Ist in Greifswald geboren, hat in Augsburg studiert und zog für den Lokaljournalismus wieder zurück nach MV.

  • Bild von Patrick Hinz, Chefredakteuer Katapult MV

    Chefredakteur

    Geboren in Vorpommern, aufgewachsen in Mecklenburg. Einziger KATAPULT-Redakteur mit Traktorführerschein UND Fischereierlaubnis.

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