Stabile Bürger NB
Populistischer Politikneuling mit großen Plänen
Von Patrick Hinz
Lesedauer: ca. 7 Minuten
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Neubrandenburg am Morgen des 29. Juni 2023: Gegen 7:30 Uhr wird die Polizeidienststelle darüber informiert, dass am Bahnhof eine Regenbogenflagge – ein Zeichen der Solidarität mit queeren Menschen – entwendet wurde. Doch damit nicht genug. Denn sie wurde durch eine Hakenkreuzflagge ersetzt. Noch am selben Tag veröffentlicht die Stadt eine Stellungnahme in den Sozialen Medien. „Die Stadtverwaltung der Vier-Tore-Stadt Neubrandenburg verurteilt diese Straftat auf das Schärfste“, heißt es darin. Weiterhin sei die Verbreitung rechtsextremer Symbole kein Kavaliersdelikt oder Jugendstreich. Tatsächlich ist die Verbreitung solcher verfassungsfeindlicher Symbole eine Straftat, die mit einer Geld- oder einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren geahndet wird.
Dennoch diskutieren nach der Tat etliche Neubrandenburger:innen in den Kommentarspalten miteinander. Ein Nutzer schreibt unter dem Beitrag der Stadt, man möge „den bunten Lappen vielleicht einfach mal weglassen“. Ein anderer beschreibt die „Verrohung der Gesellschaft“ und appelliert: „Keinen Millimeter nach rechts.“ Unter den Kommentierenden gibt es außerdem Stimmen, die an einem rechtsextremen Hintergrund zweifeln. Darunter auch Tim Großmüller, Unternehmer und damaliges Mitglied der Fraktion Bürger für Neubrandenburg (BfN) in der Stadtvertretung. Großmüller wirft der Verwaltung vor, die Straftat vorzeitig als rechtsextrem zu bezeichnen und bringt „linke, grüne, Kinder etc.“ anstelle von Rechtsextremen als potentielle Täter:innen ins Spiel.
Dem Vorfall vorausgegangen war eine wochenlange Debatte über den anstehenden Christopher Street Day, der am 19. August im Neubrandenburger Zentrum gefeiert werden sollte. Gegen die Veranstaltung sprachen sich unter anderem der AfD-Bundestagsabgeordnete Enrico Komning sowie Großmüller aus. Wegen eines Facebook-Beitrags war der Inhaber eines Fitnessstudios bereits Anfang Juli in die Kritik der Neubrandenburger Linksfraktion und des Vereins Queer NB geraten. In dem Beitrag, der mittlerweile nicht mehr auf seiner Facebook-Seite zu finden ist, hat sich Großmüller offen queerfeindlich geäußert und dazu das Logo der BfN verwendet. So war der Eindruck entstanden, es handele sich um einen Beitrag der Fraktion.
Ausschluss aus der Fraktion
Die Linke Neubrandenburg – die unter anderem den Stadtpräsidenten Jan Kuhnert stellt – habe daraufhin versucht, die BfN-Fraktion dazu zu bewegen, sich zu den Aussagen Großmüllers öffentlich zu positionieren. Laut Medienberichten kam es während einer Fraktionssitzung auch zu einem Gespräch zwischen weiteren Mitgliedern der BfN und Großmüller. Laut Großmüller sei dabei festgestellt worden, dass man inhaltlich dessen Meinung teile, die Fraktion sich aber von den Aussagen distanzieren müsse, da die Linke eine weitere Zusammenarbeit mit den BfN ansonsten ausschließen würde, berichtete der Nordkurier. Die Fraktion selbst spricht von einer fehlenden „bilateralen Basis“. Großmüller und die BfN hätten ihre Zusammenarbeit daraufhin schließlich eingestellt.
Unsere Anfrage an die BfN-Fraktion, wie und wann sie sich von Großmüller getrennt hat, blieb bis zum Redaktionsschluss trotz mehrerer Nachfragen unbeantwortet. Großmüller hingegen erklärt im Gespräch mit KATAPULT MV, er habe die Fraktion aus freien Stücken wegen „unterschiedlicher Interessen und politischer Absichten“ verlassen. Sein neuer Plan: Mit einer Wählergemeinschaft unter dem Namen Stabile Bürger NB zur diesjährigen Kommunalwahl antreten. Dafür werde er sich mit 15 Unternehmer:innen und Bürger:innen aus Neubrandenburg zusammenschließen. Auf der gleichnamigen Facebook-Seite macht der Unternehmer seine politischen Ansichten bereits deutlich.
Stabile Behauptungen – wenig Gehalt
Seit dem 10. September veröffentlicht Großmüller dort regelmäßig eine Mischung aus Screenshots, Zahlen und Behauptungen, deren Ursprünge offenbar teilweise bei Bild liegen. Interessante Nebeninformation: Der Deutsche Presserat sprach gegen das Medium 2023 insgesamt 26 Rügen aus. Unter anderem wegen der Verletzung des Persönlichkeitsschutzes und der Sorgfaltspflicht, unzureichender Wahrhaftigkeit, Vorverurteilung und Sensationsberichterstattung.
Viele Punkte, die Großmüller in seinen Beiträgen fordert, überschreiten zudem klar die kommunalpolitischen Möglichkeiten und liegen etwa in der Verantwortung der Bundesregierung. Dazu zählen unter anderem die Flüchtlings- und die Steuerpolitik. Im ersten Beitrag der Seite vom 10. September wird behauptet, Deutschland hätte weltweit die höchste Steuerlast zu tragen. Diese Aussage ist falsch. Die Abgabenlast auf Löhne und Gehälter ist in Deutschland zwar vergleichsweise hoch, die höchste Steuerlast in den Industrieländern tragen allerdings die Belgier:innen. Großmüller kommentiert seine „Infografik“ damit, dass er sich dieses Problems (und mehr als 20 weiterer Punkte) im Jahr 2024 annehmen will – und erhält dafür Zuspruch.
Feindbild OB
Zwei Tage später erscheint ein Facebook-Beitrag, in dem sich Großmüller mit der AfD solidarisiert. Sie sei die einzige Fraktion in Neubrandenburg, die sich nicht mit der „Regenbogenagenda“ des Neubrandenburger Oberbürgermeisters Silvio Witt (parteilos) einverstanden erkläre. Der Beitrag schließt mit den Worten: „Wir schützen unsere Kinder vor der sexuellen Beeinflussung durch Minderheiten.“ Das kann als Kritik an alle Fraktionen gelesen werden, die die Entwendung der Regenbogenflagge und das Hissen der Hakenkreuzflagge im Juli als Angriff auf die Demokratie verstehen. Oberbürgermeister Witt hatte dazu einen offenen Brief verfasst, der in den Sozialen Medien viel Zuspruch erfuhr.
Die Themen der bislang veröffentlichten Beiträge der Stabilen Bürger NB sind vielfältig: Seenotrettung, Rente, Mobbing, Drogen oder die deutsche Fußballnationalmannschaft. Immer wieder wird ein „links-grünes“ Feindbild gezeichnet oder gegen die Ampelkoalition gewettert. Immer wieder wird auch Neubrandenburgs OB kritisiert, wie etwa in einem Beitrag vom 22. November zum Israel-Palästina-Konflikt. Dort wird behauptet, Witt würde sich aufgrund seiner sexuellen Orientierung nur mit israelischen Opfern solidarisieren. Auf Nachfrage von KATAPULT MV sind Silvio Witt die zahlreichen diffamierenden Beiträge über seine Person zwar bekannt, dennoch habe er bislang von einer strafrechtlichen Verfolgung abgesehen.
Stadtvertreter:innen machen dicht
Auch die Fraktionen der Neubrandenburger Stadtvertretung werden von den Stabilen Bürgern häufig angegriffen. Ein Beitrag vom 19. Oktober zeigt das Piktogramm einer Person vor einem Mülleimer. Im Eimer sind die Logos von CDU, Grünen, FDP und SPD zu sehen. Die Person vor dem Mülleimer trägt das Logo der Stabilen Bürger auf der Brust.
KATAPULT MV hat die Fraktionen Linke, SPD, CDU/FDP und AfD sowie die Grünen kontaktiert und um eine Einschätzung zu den Äußerungen der Stabilen Bürger NB gebeten. Lediglich SPD und AfD meldeten sich bis zum Redaktionsschluss zurück. Während sich die SPD „nicht mit Herrn Großmüller beschäftigt“, wollte sich die AfD nicht zu den Beiträgen der Facebook-Seite äußern.
Warum Zurückhaltung problematisch ist
Tim Großmüller ist in Neubrandenburg bestens vernetzt, bei Facebook folgen ihm mehr als 5.000 Personen. Darunter die AfD-Politiker:innen Enrico Komning, Steffi Burmeister (AfD-Kreisverband Landkreis Rostock) oder Andreas Rösler (AfD-Kreisverband Mecklenburgische Seenplatte). Es ist bekannt, dass der Unternehmer mit der Rechtsaußenpartei sympathisiert. Darüber hinaus hat er auf seinem privaten Profil ein Titelbild des vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuften Compact-Magazins geteilt.
Die Stabilen Bürger NB wollen sich mit einer Wählergemeinschaft zur Kommunalwahl aufstellen lassen. Sind sie damit erfolgreich, haben sie die Möglichkeit, das politische Geschehen in Neubrandenburg mitzugestalten. Großmüller nutzt seine Reichweite bereits jetzt, um rechtspopulistische Ideen und Falschinformationen zu verbreiten. Seine Ansprachen finden Anklang und Unterstützung. Dass die Stabilen Bürger bei den Wahlen eine ernstzunehmende Konkurrenz für die etablierten Parteien darstellen werden, ist daher nicht auszuschließen.
Schweigen und Zurückhaltung haben jedenfalls noch nie dabei geholfen, sich gegen Rechtsextremismus zu wehren und die Demokratie zu beschützen. Neubrandenburg, pass auf dich auf.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 27 von KATAPULT MV.
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Autor:innen
Geboren in Vorpommern, aufgewachsen in Mecklenburg. Einziger KATAPULT-Redakteur mit Traktorführerschein UND Fischereierlaubnis. Layouter und Chefredakteur.