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Sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige

„Am prekärsten ist die Lage in Schwerin und Neubrandenburg“

Am Montag stellte die Bundesbeauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs den neuen Lagebericht vor. Die Zahlen seien weiter hoch, heißt es darin. Für MV sind für 2023 insgesamt 320 Fälle verzeichnet, einer weniger als im Vorjahr. Das sind jedoch nur die aus dem sogenannten Hellfeld. Wie viele Betroffene es wirklich gibt, ist unbekannt. Vorschläge, wie mehr Licht ins Dunkel kommen könnte, gibt es. KATAPULT MV hat dazu mit Lena Melle von der Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt in Rostock gesprochen.

KATAPULT MV: Schaut man auf die Fallzahlen für 2023, auch im Vergleich mit vorangegangenen Jahren, scheint eine gleichbleibende Zahl ja erst mal positiv. Aber wie bewerten Sie die Zahl mit Blick darauf, dass es sich „nur“ um das Hellfeld handelt?

Lena Melle: Wir haben in der Beratungsstelle immer mal in einem Jahr etwas weniger Fälle, im nächsten wieder mehr, dann wieder weniger. Schaut man sich aber die lange Kurve an, sind die Zahlen immer ansteigend.

Aber es gibt natürlich Gründe, warum das Hellfeld manchmal kleiner ist und manchmal größer. Ich habe die Theorie, dass der Fachkräftemangel im pädagogischen Bereich dazu beiträgt, dass es eine geringere Fallzahl gibt. Es ist definitiv Fakt, dass ein Großteil der Verdachtsfälle in Bezug auf Kinder und Jugendliche oder der Großteil der Fälle, in denen sich Kinder anvertraut haben, durch pädagogische Fachkräfte an uns vermittelt wird. Wenn der Fachkräftemangel weiter so voranschreitet wie jetzt, haben die Kinder einfach weniger verlässliche Ansprechpersonen. Wir haben das auch im ersten Corona-Jahr gemerkt. Als die langen Lockdowns waren, sind die Zahlen total zurückgegangen. Im Folgejahr, als die Kinder zurück in die Einrichtungen kamen, sind die Zahlen explodiert.

Kinder brauchen einfach diese verlässlichen Ansprechpersonen in ihrem Alltag, und das sind nicht die Fachberatungsstellen, sondern die Kitaerzieher:innen, die Horterzieher:innen, die Sozialpädagog:innen in den Jugendklubs oder stationären Einrichtungen, das sind Lehrkräfte. Und wenn wir da einen Fachkräftemangel haben, dann sind weniger Leute da. Und die, die da sind – das merken Kinder ja auch –, sind wesentlich belasteter.

Dann fällt es schwerer, das Gespräch zu suchen und sich vielleicht zu offenbaren?

Genau. Es ist weniger Ruhe da. Aber es ist auch der Blick von der anderen Seite, etwa der der Pädagog:innen. Wenn sie erschöpft sind, verliert sich auch die Aufmerksamkeit für bestimmte Themen oder die Energie, genau hinzuschauen.

Das kann ich nicht belegen. Aber das wäre meine Theorie, ein Erklärungsmodell, woran es unter anderem liegen kann.

Wir haben in den letzten drei Jahren zwischen 170 und 195 Kinder und Jugendliche pro Jahr beraten – nur in Rostock und im Landkreis Rostock.

Wie viele Beratungen gab es denn in Rostock in den letzten Jahren?

Wir haben in den letzten drei Jahren zwischen 170 und 195 Kinder und Jugendliche pro Jahr beraten – nur in Rostock und im Landkreis Rostock. Früher hatten wir immer so zwischen 130 und 150 Fälle im Jahr – die Erwachsenen sind da noch nicht mit drin.

Man sieht, dass wir mehr Leute erreichen, je mehr Personal wir zur Verfügung haben. Immer wenn wir neue Leute einstellen, steigt die Betroffenenzahl. Weil wir besser erreichbar sind, weil wir uns besser vernetzen können, präsenter sind in den Hilfesystemen.

Es braucht also mehr Ansprechpersonen im direkten Umfeld der Kinder und Jugendlichen und eine bessere Ausstattung der Beratungsstellen?

Es braucht Geld. Zum einen natürlich für eine gute personelle Qualifizierung in allen pädagogischen Bereichen, aber gerade auch in den spezialisierten Fachberatungsstellen. Wir sind in Rostock verhältnismäßig gut ausgestattet mit drei Vollzeitstellen ausschließlich für die Kinder- und Jugendberatung sowie Präventionsarbeit. Am prekärsten sieht es in Schwerin und Neubrandenburg aus. In Schwerin ist die Stelle offiziell zuständig für die Stadt, den Landkreis Ludwigslust-Parchim und Nordwestmecklenburg. Dort arbeitet eine Person. Aber das ist keine volle Stelle. In Neubrandenburg, zuständig für die gesamte Seenplatte, arbeitet eine Person und ebenfalls nicht in Vollzeit. Deshalb werden dort vorrangig erwachsene Betroffene beraten. Bei Anfragen zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder wird maximal die Bezugsperson beraten, nicht jedoch die Kinder selbst. Diese versuchen sie, an andere Hilfen zu vermitteln. Diese sind jedoch rar und oft nicht spezialisiert.

Weiterlesen zur Situation des Hilfenetzes MV: Keine zusätzliche Unterstützung für Interventionsstellen

Im ländlichen Raum ist ein niedrigschwelliges Angebot also überhaupt nicht gegeben.

Und da haben wir noch nicht über das Flächenland MV gesprochen.

Ja, da gibt es Probleme. Greifswald hat ja eine Zweigstelle in Anklam, um auch so ein bisschen in die Fläche zu gehen, aber das gibt es in manchen Bereichen gar nicht. Im ländlichen Raum ist ein niedrigschwelliges Angebot also überhaupt nicht gegeben. Ein Beispiel von uns: Wir sind auch im Landkreis Rostock zuständig, also zum Beispiel auch für Familien in Orten wie Krakow am See oder Altkalen. Selbst wenn sie ein Auto haben, sind sie über eine Stunde und länger zu uns unterwegs und müssen dann noch wieder zurück. Wenn es kein Auto gibt, wird ein Beratungstermin manchmal sogar zu einem tagesfüllenden Ausflug. Denn viele Orte haben keine gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr. Da ist mehrfaches Umsteigen und langes Warten nötig.

Lassen Sie uns über Prävention und Sensibilisierung sprechen – gerade im Umfeld der Minderjährigen.

Wir merken nach wie vor bei Pädagog:innen ganz große Unsicherheiten. Da kann es sein, dass Fälle nicht gut bearbeitet werden, wenn keine spezialisierte Beratung hinzugezogen werden kann. Wir beraten dazu, wie Kinder in solchen Situationen gut begleitet, wie ein guter Schutz hergestellt werden kann, was beim Thema Strafanzeige zu berücksichtigen ist und so weiter. Da sind sie total dankbar. Aber das geht nicht immer. Ein Beispiel: Es wurden vor paar Jahren Schutzkonzepte an Schulen gesetzlich verankert und auch relativ flächendeckend erarbeitet. Ein Punkt in diesen Schutzkonzepten besagt, dass das Personal zu dem Thema geschult wird und dass es regelmäßige Präventionsveranstaltungen für die Kinder an den Schulen geben soll. Aber es gibt keine Anbieter. Wir wurden damals überrannt von Anfragen: Ob wir helfen können, diese Schutzkonzepte zu entwickeln, ob wir das Lehrerkollegium coachen oder einmal fortbilden können. Aber das schaffen wir gar nicht. Allein in Rostock reden wir von über 60 Schulen.

Also gibt es dafür schlichtweg keine Kapazitäten?

Genau. Fachkräfte müssen präventiv auf Fragen vorbereitet werden wie: Was mache ich, wenn ich einen Verdacht habe? Wie kann ich besonnen nachfragen? Aber auch: Wie kann ich ein betroffenes Kind gut begleiten? Wenn ein Kind beispielsweise in seiner Tagesgruppe einen Übergriff durch ein anderes Kind erlebt, dann wird das andere Kind zwar in eine andere Tagesgruppe geschickt. Aber wenn dann nach drei Wochen nachgefragt wird, ob noch mal mit der betroffenen Person gesprochen wurde, hat das keiner gemacht – weil das Kind vielleicht auch „nicht noch mal mit dem Thema kam“. Was ist das für eine Situation für das Kind? Ich habe sowas offenbart, einen Übergriff erlebt, aber niemand spricht mit mir darüber.

Das heißt, wenn wir das Dunkelfeld weiter ausleuchten wollen, dann entweder über eine intensive Qualifizierung aller Berufsgruppen, die mit Kindern arbeiten. Oder wir schaffen super ausgestattete Fachberatungsstellen, sodass jede pädagogische Einrichtung die Möglichkeit hat, sofort einen Kontakt und ein Beratungsgespräch zu bekommen.

Wenn wir genug Kapazitäten hätten, an so einem frühen Zeitpunkt klug und besonnen und hilfreich für das Kind zu intervenieren, dann ergäben sich dadurch niedrigere Folgekosten.

Inwiefern?

In Form von Therapiebedarf, von langfristigen Beratungs- und Begleitungsprozessen. Wir haben ganz viele Jugendliche mit einem schulmeidenden Verhalten. Da geht es einfach darum, ob sie überhaupt den Schulabschluss schaffen. Wenn spät interveniert wird und sich gravierende Belastungs- und Traumafolgesymptome ergeben, dann ist die ganze Funktionsfähigkeit im Alltag oft total eingeschränkt und das wird weitaus teurer.

Wenn Sie über Therapiebedarf sprechen, sind wir beim nächsten Problem: den fehlenden psychologischen und psychotherapeutischen Angeboten für Kinder und Jugendliche in Mecklenburg-Vorpommern.

Alle haben ewig lange Wartezeiten. Das hat sich mit der Corona-Pandemie noch verschärft.

Weiterlesen: Psychotherapeutische Versorgung – Die Belastungsgrenze ist erreicht

Wenn Sie sagen, Sie überbrücken, von welchen Zeitspannen redet man da?

Das ist unterschiedlich, weil der Bedarf der Kinder, die bei uns angebunden sind, unterschiedlich ist. Nicht jedes Kind hat einen Therapiebedarf. Es gibt verschiedene Faktoren, die es wahrscheinlicher machen, eine Traumatisierung auszuprägen oder eben nicht. Wir haben Kinder, die auch aufgrund ihrer sehr unterstützenden Familie oder Wohngruppe nur wenige Termine brauchen. Und dann gibt es welche, die uns mit einer ganz massiven und krassen Symptomatik vorgestellt werden und nur wenig unterstützendes Netzwerk haben. Die sind auch mal über Jahre bei uns.

Das macht es sicher für die Beratungsstellen nicht einfacher, oder?

Ja. Selbst wir mit unserer etwas besseren Ausstattung haben immer wieder Phasen, in denen wir priorisieren müssen. Da haben wir eine Anfragenflut und können nicht jedem Kind sofort einen Termin anbieten. Dann müssen wir genau gucken, wer ein stabiles und unterstützendes Umfeld hat, in dem erst mal die Bezugspersonen so gestärkt werden können, dass sie das Kind begleiten. Da arbeiten wir dann wirklich wie in Triage und gucken, wer am schnellsten was braucht und wer noch acht Wochen auf den Termin warten kann.

Jetzt gerade sind wir auch gut ausgelastet. Eine Kollegin von mir hat jetzt noch Kapazitäten. Aber ich kann vor September kein weiteres Kind bei mir aufnehmen.

Wie ist es denn mit alternativen Angeboten, etwa telefonisch oder online?

Das haben wir über Corona tatsächlich versucht. Aber zu unserem Thema ist es wirklich schwierig, weil es einfach so extrem sensibel ist. Das braucht ganz viel Vertrauen. Und das entsteht in einem persönlichen Kontakt natürlich sehr viel besser und viel schneller. Das andere ist, das Thema in den eigenen vier Wänden oder vielleicht noch im eigenen Schlafzimmer zu besprechen. Das ist viel schwieriger, als wenn ich ein Stück weit Distanz zu meinem Alltag habe. Es ist keine Alternative, zu dem Thema mehr online und telefonisch zu beraten.

Es gibt auch Chatberatungen für betroffene Kinder und Jugendliche. Aber unserer Erfahrung nach wird das eher weniger genutzt. Denn für die Kinder ist das eine riesen Hürde.

Autor:in

  • Redakteurin in Greifswald

    Geboren in Berlin, aufgewachsen in Berlin und Brandenburg. Tauschte zum Studieren freiwillig Metropole gegen Metropölchen.

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