Verlässt man auf der Fahrt über die Insel Usedom kurz vor Zinnowitz die Hauptverkehrsader und biegt an der Ampel links ab, erreicht man den nördlichen Zipfel der Insel. Dort geht es vorbei an Trassenheide auf direktem Weg ins Ostseebad Karlshagen. Das einstige Fischerdorf ist seit mittlerweile 135 Jahren Tourismusort. Eingebettet von Küstenwald grenzt er auf der einen Seite an die Ostsee, auf der anderen an den Peenestrom. Dort liegt einer der bekanntesten Jachthäfen der Insel. Mit knapp 3.700 hat Karlshagen mehr Gästebetten als Einwohner:innen – das sind laut dem Eigenbetrieb Kultur und Tourismus 3.191.1 Im Sommer steigt deren Zahl punktuell auf das Dreifache an, berichtet Marketingchefin Christina Hoba. Da komme man manchmal in der Mittagspause mit dem Rad nur mit Wartezeit über die Straße, so voll ist es. Aber sie freut sich darüber: „Dann ist hier richtig was los.“
Und jetzt gerade? Verlassen. Das reicht im Grunde als Beschreibung des kleinen Ortes unmittelbar vor Peenemünde. Zwei vorbeifahrende Auto unterbrechen kurz das leise Rauschen des Küstenwaldes. Spaziert man an ihm entlang mitten durch den Ort in Richtung Strand, begegnen einem gerade mal eine Handvoll ältere Spaziergänger:innen. Viele von ihnen seien Menschen, die für den Traum vom Ruhestand am Meer hergezogen sind, erzählt Hoba. Den Strand haben sie unter der Woche fast ganz für sich allein. Die Oberhand haben dort derzeit noch die Möwen. 46 Prozent der Menschen in Karlshagen sind über 60 Jahre alt. Wenn man die Besucher:innen des Ortes außen vor lässt.

Im Moment wirkt das Seebad aber ziemlich verschlafen: heruntergelassene Rollläden, zusammengeklappte Caféstühle, eingepackte Strandkörbe. Und je mehr man sich vorstellen kann, dass die Karlshagener Bewohner:innen endlich mal so richtig durchatmen und ihren Ort in Ruhe genießen können, umso pikierter reagieren sie, wenn man sie das fragt. „Nein, es ist mir eher viel zu ruhig hier“ oder „Ich freue mich, wenn bald wieder Action ist“, hört man dann.
Und genau das wird schon längst auf Hochtouren vorbereitet. Die Touristinformation arbeitet bereits seit Oktober an den neuen Veranstaltungsplänen für die kommende Saison, stimmt sich mit Künstler:innen ab, organisiert die Logistik für größere Events. Ab November wird die beendete Saison statistisch ausgewertet und die nächsten Buchungen werden betreut. Beim gemeindeeigenen Campingplatz zum Beispiel wird am 1. November das Buchungsportal freigeschaltet, berichtet Hoba. In der ersten Nacht sind allein dort 850 Mails eingegangen. „Ab da beginnt dann so richtig die Verwaltungsarbeit.“ Auch, wenn es draußen ansonsten ruhiger zugeht.
Hinter den Fassaden wird gewerkelt
Viele der Betriebe des Ortes sind auf den Tourismus ausgerichtet. Und so bereiten sie sich mit dem Abschluss der einen Saison gleich wieder auf die nächste vor. Flyer und Plakate werden gedruckt, Inventar gezählt, Postkarten bestellt. Auch der Wirtschaftshof und der Hafen von Karlshagen müssen auf Vordermann gebracht werden: Straßen, Stege, Sitzbänke werden erneuert, Strandkörbe erst in die Lagerhallen und im Frühjahr dann wieder zurück an die Strände gebracht. In diesem Jahr soll es als neue Attraktion eine Strandschaukel geben. „Das klingt erst mal einfach, aber Antrag, Produktion und Sicherheitsabnahme brauchen viel mehr Zeit, als man denkt“, erklärt Hoba. Ebenso müssen Zertifizierungen neu beantragt werden, um die Attraktivität des Ortes als Reiseziel zu erhöhen. In diesem Jahr benötigt Karlshagen eine neue Prüfung für die blaue Flagge, eine Auszeichnung für Nachhaltigkeit und umweltschonende Maßnahmen.2

Geht man durch den Ort weiter zum Hafen, dringen hinter den heruntergelassenen Rollläden der Ferienwohnungsresidenz Hämmer- und Bohrgeräusche hervor. Es wird gewerkelt. Genauso wie in den Ferienwohnungen von Kay Vratny. In diesen Monaten ist die Zeit der Reparaturen, sagt er. Im Ort hat er insgesamt 50 Ferien- und normale Mietwohnungen. „Wir können jetzt in Ruhe alles reparieren und aufbereiten. Wenn man überhaupt einen Handwerker bekommt“, räumt er ein. Denn da jeder Vermietende gerade seine Immobilien für die neue Saison auffrischen will, sind viele Gewerke auf Usedom stark nachgefragt. Vor einigen Häusern stehen Fahrzeuge von Handwerksfirmen aus Wolgast, Anklam oder auch Greifswald. Die längeren Anfahrtswege nehme man in Kauf, Hauptsache, alles wird bis zur Saison fertig.
Ein paar Hundert Meter vor dem Strandaufgang bricht ein reich geschmückter Ladeneingang mit Auslage die Tristesse. Hella Trost hat ihren kleinen Souvenirladen bereits geöffnet. „Für die paar Gäste, die kommen“, erklärt sie. Für sie selbst sei die Zeit jetzt ziemlich öde. Wie viele andere freue sie sich schon wieder sehr auf den Sommer, auch wenn sie dann keine freie Minute mehr hat. Für sie als Selbständige sei das gut. Ihre Freund:innen im örtlichen Supermarkt würden sich dagegen weniger auf die Hochsaison freuen. Dort sei es dann immer ziemlich stressig. Die insgesamt drei Supermärkte in Karlshagen brauche man im Winter absolut nicht, sagt Fewo-Vermieter Vratny. Im Sommer aber sind sie unverzichtbar, um Einwohner:innen und Gäste zu versorgen.

„Tourismus tangiert hier alles“
Auch er genießt in diesen Monaten mal die ruhige Zeit. „Da kann man mit seinem Hund mal ganz ohne Leine spazieren gehen.“ In der Dämmerung würden Wildschweine und Rehe aus dem Küstenwald bis ans Haus kommen – in der Hochsaison undenkbar. Aber der Ort lebe eben nur dank seiner Gäste. „Wir hätten vieles nicht ohne den Tourismus“, bestätigt Hoba. Die Kurtaxe etwa finanziere für die Einwohner:innen einen Großteil der Freizeitangebote. „Der Tourismus tangiert hier alles“, sagt Vratny. Und die meisten richten sich darauf ein.
Und so, findet er, könnte es auch jetzt in der stillen Zeit mehr Angebote für Gäste geben. „Wenn die Urlauber:innen fragen, was sie jetzt machen können, können wir nur sagen: spazieren gehen und essen.“ Viele gastronomische Einrichtungen aber haben in dieser Zeit geschlossen – es lohne sich wirtschaftlich nicht, mal abgesehen von den Energiekosten. So hat auch Vratny von seinen fünfzig Ferienwohnungen nur zehn bezugsbereit. Gäbe es mehr Angebote, könnten auch mehr Gäste Gefallen an einem Ausflug im Winter finden – was wiederum mehr Geld bringen würde.
Wie viele andere könne er im Winter nicht alle seine Angestellten halten. Von zwölf Leuten im Team bleiben vier ganzjährig angestellt. Die anderen haben neunmonatige Arbeitsverträge und werden auf Minijobbasis zurückgeholt, wenn die Auslastung zu Weihnachten und Silvester steigt. Die Sorge vieler Arbeitgeber:innen wie Vratny: Hoffentlich kommen alle zurück. Und so blicken viele ebenfalls mit Sorge auf die neue Saison.
Zwischen Vorfreude und Verunsicherung
Landesweit seien die Erwartungen der touristischen Unternehmen für das Jahr 2025 eher verhalten, sagt Landestourismuschef Tobias Woitendorf.3 Besonders besorgt seien viele wegen steigender Energie- und Rohstoffpreise sowie höherer Personalkosten bei gleichzeitigem Arbeitskräftemangel.
„Andere Destinationen können die Winterzeit touristisch gut nutzen. Wir nicht“, stellt Woitendorf fest. Mit saisonverlängernden Maßnahmen versuche man bereits, mehr Besuche zu generieren. Vor allem im Herbst arbeiten die Tourismusorte landesweit daran. Hotels, die – anders als Ferienwohnungen – dauerhaft geöffnet sind, versuchen zum Teil mit Wellnessangeboten, ihre Palette im Winter zu verbreitern. Das merke man zumindest etwas, so Woitendorf: Standen vor der Wende die Monate November bis April (ohne Dezember) für zehn Prozent des Tourismusaufkommens, sind es heute 25 Prozent. „Das Meer hat immer seinen Reiz“, damit könne man auch in der kalten Jahreszeit Gäste locken.
Für Orte im Hinterland gelte das allerdings nicht. Da mache sich noch stärker die „Saure-Gurken-Zeit“ bemerkbar. Touristiker:innen beobachten aber auch generell rückläufige Besuchszahlen. Bis vor wenigen Jahren konnten sich viele Menschen vier oder fünf Urlaube im Jahr leisten. Jetzt müssten sie wegen der wirtschaftlichen Lage sparen, so der Landestourismuschef. Besonders seit der Corona-Pandemie neigen viele Urlauber:innen zudem dazu, sehr kurzfristig zu planen. Für touristische Betriebe heißt das: weniger Vorbuchungen, weniger Planungssicherheit. Das verunsichere. Gerade in der Gastronomie sei das deutlich spürbar. Insgesamt gingen in den letzten Jahren von 3.300 Betrieben landesweit rund 500 verloren, so Woitendorf.

Dass wieder Gäste kommen – da sind sich die Karlshagener:innen sicher. Mit seinen Vorbereitungen ist Vratny fast fertig. „Der Februar ist der langweiligste Monat im Jahr“, sagt er. Zumindest ist es eine Zeit, in der die Gastgebenden der Urlaubshotspots auch mal Urlaub machen können. „Dann aber ganz woanders“, betont er, „nicht am Arbeitsplatz.“
Ab Ostern kehren dann die Tourist:innen wieder in Scharen zurück in die Orte, sagt Hoba. Ein erstes Ereignis, das vorbereitet werden will. Und dafür nutzt Karlshagen eine seiner Besonderheiten: Es ist das einzige Seebad an der gesamten Ostseeküste mit einer Kinderkurdirektorin. Greta ist zwölf Jahre alt und schon drei Jahre im Amt. Sie ist das Auge und Ohr der Kinder für Karlshagen, das als besonders familienfreundliches Seebad überzeugen will. So organisiert sie Schatzsuchen, Kindertheater oder Minidiskos. Für Ostern packt sie gerade mit ihrem Team 200 Ostertüten. In der Hoffnung, dass viele Gäste gleich zu Beginn der neuen Saison (zurück) in den Urlaubsort kommen.
Weiterlesen:
- E-Mail von Christina Hoba vom 9.1.2025. ↩︎
- Deutsche Gesellschaft für Umwelterziehung (Hg.): Die Auszeichnung Blaue Flagge, auf: blaue-flagge.de. ↩︎
- Telefonat mit Tobias Woitendorf, Geschäftsführer des Landestourismusverbands MV, am 15.1.2025. ↩︎