Wie oft haben Sie eigentlich schon einen Waschbären in freier Wildbahn gesehen? Am ehesten sehen ihn die meisten sicherlich überfahren am Straßenrand. Denn das aus Nordamerika stammende Raubtier ist recht scheu und darüber hinaus überwiegend nachtaktiv. Nicht einmal Biologen und Jäger können sagen, wie viele Waschbären sich in Meck-Vorp herumtreiben. Man weiß nur: Es werden immer mehr.
Den einzigen Hinweis auf Dichte und Wachstum der Waschbärpopulation gibt die sogenannte Jagdstrecke. Das ist eine Liste aller von Jägern erlegten sowie tot aufgefundenen Tiere, etwa nach Wildunfällen. Und diese zeigt: Wurden in den 90ern jährlich nur einzelne Waschbären getötet, sind es heute über 20.000. Allein in den letzten fünf Jahren hat sich die Zahl mehr als verdreifacht. Inwieweit die Größe der Strecke die tatsächliche Anzahl der Tiere widerspiegelt, ist nicht ganz klar. Klar ist hingegen: Auch die EU listet den Waschbären als invasive, gebietsfremde Art.
Betrachtet man nur die Jagdstrecke, so liegt Mecklenburg-Vorpommern – bezogen auf die Fläche – auf Platz fünf der waschbärreichsten Bundesländer. „Der Waschbär hat ein hohes Sicherheitsbedürfnis und braucht daher immer Wald. Mecklenburg-Vorpommern bildet mit seinen zusätzlich vielen Feuchtgebieten einen idealen Lebensraum“, erklärt Frank-Uwe Michler. Gemeinsam mit seiner Frau Berit Michler leitet er das „Projekt Waschbär“, das den Kleinbären seit über zehn Jahren im Müritz-Nationalpark erforscht und etwa für ein „konfliktarmes Zusammenleben“ von Mensch und Wildtier sorgen soll. Auch die Forscher:innen sind normalerweise auf die Jagdstrecken angewiesen. Im Nationalpark ist das anders: „Für das Untersuchungsgebiet können wir relativ genau sagen, dass wir eine Dichte von vier bis sechs Tieren pro Quadratkilometer haben. Das ist relativ viel für einen naturnahen Lebensraum“, so Frank-Uwe Michler.
Die hohen Zahlen bereiten einigen Tierschützern und Jägern Sorgen. Der Waschbär könne die Vogelbestände bedrohen, indem er Nester von Boden- und Höhlenbrütern plündert. „Er ist kein aktiver Räuber, eher ein Sammler. In Wohngebieten geht er an Mülltonnen oder Gemüsebeete. Aber er frisst neben Aas auch Eier und Jungvögel“, erklärt Frank Dabelstein vom Landesjagdverband Mecklenburg-Vorpommern. „Er hat einen enormen Einfluss auf das gesamte Biotop. Je mehr Fressfeinde ich erlege, desto mehr helfe ich, den Vogelbestand zu schützen.“ Deshalb werde der Waschbär gezielt bejagt, vor allem mit Fallen. Ein Abschuss hingegen sei selten. Die Tiere dürfen in MV das ganze Jahr über bejagt werden, auch im Nationalpark. Elterntiere sind allerdings geschützt; werden sie erlegt, kann das bis zu 5.000 Euro Strafe und in schweren Fällen sogar Gefängnis bedeuten. Daher finde die Fallenjagd auch hauptsächlich in den kälteren Monaten und mit Lebendfallen statt.
Eine Prämie bekommen Jäger übrigens nicht, anders als etwa beim Nutria. In der DDR gab es eine solche noch. Vor der Wende wurde der Waschbär vor allem zur Bekämpfung der Tollwut gejagt, heute hingegen geht es um den Schutz der heimischen Vogelwelt und anderer Arten. Doch wie schädlich ist der Waschbär für heimische Tiere?
Der Lieblingssnack des Waschbären
Für ihre Doktorarbeit hat Berit Michler das Nahrungsspektrum des Waschbären im Müritz-Nationalpark untersucht. Das Gebiet hat eine der höchsten Populationsdichten, die bisher für naturnahe Lebensräume in Europa ermittelt wurde. Um herauszufinden, was Waschbären hier verputzen, analysierte sie knapp 1.000 Kotproben mehrerer Jahre und Jahreszeiten auf ihre Nahrungsbestandteile. Und zwar einerseits dahingehend, wie oft ein Bestandteil enthalten war, und andererseits, wie viel davon. Eine solche Studie hatte es zuvor noch nicht gegeben. Ergebnis: Fast immer fand sie in den Proben Reste von Wirbellosen (96 Prozent), gefolgt von pflanzlichen Bestandteilen (68,7) und Wirbeltieren (53,2). Noch etwas interessanter: Bezogen auf die enthaltene Menge bestand gut die Hälfte aller Exkremente aus Wirbellosen (51,9), etwa ein Drittel aus Pflanzen (31,8) und ein Sechstel aus Wirbeltieren (16,3). Diese Kategorien schlüsselte Michler weiter auf und es zeigte sich der absolute Lieblingssnack der Waschbären: Regenwürmer. Fast die Hälfte des Kots bestand daraus (46,8), gefolgt von Weichtieren wie Schnecken und Muscheln (20,5). Gerade einmal 2,9 Prozent des Kots bestand aus Überresten von Vögeln und Eiern.
Auf Grundlage dieser Ergebnisse konnte Michler berechnen, wie viele Vögel beispielsweise ein Waschbär pro Quadratkilometer im Jahr durchschnittlich verspeist: 2,3 Kohlmeisen, 2,1 Bunt- bzw. Mittelspechte, 2,1 Kleiber, 1,8 Stare, 1,6 Buchfinken, 1,2 Amseln, 0,4 Kleinspechte, 0,1 Blesshühner, 0,1 Tauben und so weiter. Bis auf den allseits beliebten Star, den Kleinspecht und die zu den Taubenvögeln zählende Turteltaube gelten aktuell keine der gefundenen Vogelarten als gefährdet. Natürlich muss die Gesamtmenge der getöteten Tiere auf die Anzahl der Waschbären pro Quadratkilometer hochgerechnet werden. Trotzdem kommt Berit Michler zu dem Schluss, dass der Waschbär keinen Einfluss auf „naturschutzfachlich relevante Tierarten“ habe. Zudem gehörten die meisten im Untersuchungsgebiet vorhandenen geschützten Arten nicht zum Beutespektrum des Waschbären.
Warum der Waschbär trotzdem gejagt wird
Auch Frank-Uwe Michler sagt: „Dass der Waschbär für den Rückgang von Vogelarten verantwortlich sein soll, hat sich für den Müritz-Nationalpark überhaupt nicht gezeigt – nicht mal im Ansatz.“ Insgesamt sei es schwierig, eine einzige Art für für die Abnahme einer anderen verantwortlich zu machen. „Es ist selten so, dass eine Art die kompensatorische Sterblichkeit übersteigt.“ In Einfach: Der Waschbär frisst nicht mehr Tiere, als sowieso gestorben wären.
Obwohl er selbst Jäger ist und auch von einer guten Zusammenarbeit mit dem Jagdverband MV spricht, sieht Michler die Bejagung des Waschbären kritisch: „Laut Tierschutzgesetz braucht es einen vernünftigen Grund, um ein Tier zu töten. Normalerweise ist das die Produktion eines Lebensmittels oder die Verarbeitung des Fells. Der Hauptgrund ist der Schutz vor Seuchen. All das fällt beim Waschbären weg.“ Bliebe als Argument noch der Schutz der heimischen Boden- und Höhlenbrüter. Der Forschungsbefund zeige jedoch: „Dazu besteht keine Notwendigkeit.“ Ähnlich verhalte es sich in Hessen und Niedersachsen. Auch wirtschaftliche Schäden erzeugten Waschbären in der Regel nicht, erklärt Claus Tantzen, Sprecher für Naturschutz, Jagd und Forst des Landwirtschaftsministeriums MV und ebenfalls Jäger.
Laut Frank-Uwe Michler spiele die Jagd für die Eindämmung des Waschbären insgesamt keine Rolle: „Wir sind jagdlich gar nicht dazu in der Lage, eine Population zu regulieren oder zu reduzieren. Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Stattdessen würden vor allem Tierseuchen wie die Staupe – oder früher die Tollwut – Bestände regulieren. Claus Tantzen drückt es diplomatisch aus: „Die Verbände sind sich uneins darüber, ob die Bejagung die Zahl der Waschbären reduziert, oder ob der Jagddruck eher dazu führt, dass die Population steigt. Ich kann es auch nicht sagen.“