Sie sind nette Nachbarn von nebenan, tragen Trachten, betreiben Gartenbau, pflegen ihren Stammbaum, bunkern Waffen, schicken ihre Kinder in paramilitärische Camps. Sie sind Nazis. Sogenannte völkische Siedler in MV nutzen ländliche Räume mit geringer staatlicher Präsenz, um neue Strukturen zu etablieren. Völkisch-Nationale wirken in freiwillige Feuerwehren, Gemeinderäte und Dorfgemeinschaften hinein. Nun könnte man denken, dass ihre Mitmenschen versuchen, sich von den völkischen Siedlern zu distanzieren. Das tun sie aber nicht immer, denn auf dem Dorf kommen Gemeinschaft und Hilfsbereitschaft vor politischer Meinung. Das kommt den Völkischen auch in Mecklenburg-Vorpommern gelegen, denn sie sind nicht daran interessiert, ihre Gesinnung offen zur Schau zu stellen. Vielmehr setzen sie auf das Wirken im Verborgenen, auf die vermeintliche Pflege nachbarschaftlicher Zwischenmenschlichkeit. Sie freunden sich in MVs Dörfern über den Gartenzaun an und starten bei der nächsten Gemeindevertretungswahl eine Kampagne, die sie betont bürgerlich wirken lässt. Expert:innen schätzen die Zahl der völkischen Siedler mit ideologisch geschlossenem Weltbild, die in MV aktiv und vernetzt sind, auf ungefähr 250. Die Familien haben meist viele Kinder, um ihr „reines“ Erbgut weiterzuvererben und das Aussterben der „deutschen Rasse“ zu verhindern. Sie bereiten sich auf einen „Tag X“ vor und versuchen, eine politische Mehrheit aufzubauen. Prepper-Organisation wie „Nordkreuz“ helfen dabei. Kinder und Jugendliche werden streng militant und rassistisch erzogen. Ihnen wird früh beigebracht, dass Deutschland kein souveräner Staat sei, sondern noch immer von den Alliierten kontrolliert werde. Handys gibt es nicht. Der Fernseher wird als „Elektrojude“ bezeichnet und gibt aus Sicht der braunen Aktivisten nur „Feindpropaganda“ wieder. Die völkische Szene erweitert ihre rechten Netzwerke in Mecklenburg-Vorpommern. Als reine Nazidörfer lassen sich die Siedlungsorte jedoch nicht bezeichnen, denn in MV gibt es Initiativen, die sich gegen die drohende rechte Übernahme zur Wehr setzen. Der Begriff völkische Siedler ist ein Kunstbegriff, so würden sich die Leute selbst nicht bezeichnen. Fachleute wie Andrea Röpke oder Daniel Trepsdorf nutzen ihn, um einen begrifflichen Rahmen für die Unterwanderungsstrategie im ländlichen Raum zu schaffen.
Wie kamen die Völkischen nach Meck-Vorp?
„Nirgends siedeln so viele Nazis wie in Mecklenburg-Vorpommern“ – so beginnt Andrea Röpke, Politologin und Journalistin mit dem Schwerpunkt Rechtsextremismus, ein Kapitel in ihrem Buch Gefährlich verankert. Darin schildert sie, wie Rechtsextreme MV langsam unterwandern. Aber was zieht die Völkischen ausgerechnet in das nordöstliche Bundesland?
Schon vor der NS-Zeit gab es in Mecklenburg-Vorpommern erste völkische Siedlungsprojekte. Beispielsweise wurde 1926 in Koppelow bei Güstrow ein Siedlungsprojekt des radikalen, völkischen Siedlerbundes der Artamanen verwirklicht. Bekannte Anhänger des Bundes waren SS-Chef Heinrich Himmler und Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß. Zu DDR-Zeiten war das Dorf quasi verschwunden, nach der Wende konnte man in Koppelow günstig Grundstücke erwerben. Ab 1992 kamen Neo-Artamanen, kauften sich dort Häuser und renovierten sie. Zehn bis zwanzig junge Menschen im Alter von 20 bis 30 Jahren planten nach eigenem Selbstverständnis „eine organisch wachsende Siedlung kulturbewusster Menschen im Herzen Deutschlands“.
Das hört sich zunächst nach Gemeinschaft, Tradition und Kultur an, gründet aber auf einer agrarromantischen Blut-und-Boden-Ideologie. Ein „gesunder Staat“ besteht dabei aus dem eigenen Volk arischer Herkunft und dem eigenen Boden, den keine andere Rasse bevölkern soll. Autonom, also unabhängig von äußeren Versorgungsstrukturen, zu sein, ist ein wichtiger Aspekt für völkische Siedler. Die meisten betreiben Landwirtschaft, Ökobaustoffhandel oder sind als Handwerker tätig, und sie pflegen das deutsche Brauchtum. Der Unterschied zu anderen Menschen, die sich in Mecklenburg-Vorpommerns ländlichen Raum niederlassen, ist, dass völkische Siedler einen gemeinsamen Feind haben, von dem sie sich abgrenzen und der sie im Innern zusammenhält: Ausländer, „jüdische Gentechnik“, Grüne und Linke.
Auch Briest, ein Ortsteil von Lübtheen, war im „Dritten Reich“ eine Mustersiedlung der Nationalsozialisten. Hier kaufte vor einigen Jahren der damalige NPD-Fraktionschef Udo Pastörs das Benzer Gut, renovierte es und eröffnete darin einen Laden. Philip Steinbeck, einstiger Assistent von Udo Pastörs und heutiges AfD-Mitglied, erwarb ebenfalls einige Immobilien in Lübtheen, die er nun vermietet. Steinbeck selbst bewohnt das Schloss Jessenitz, in dem 2016 der AfD-Kreisparteitag stattfand. Er sitzt mittlerweile für die AfD im Kreistag und sorgt für die gute Vernetzung und Finanzierung der rechten Szene, die auch völkische Siedler für ihre Zwecke nutzen. Den Gedanken, ein „nationales Dorf“ zu schaffen, äußerten neben Udo Pastörs auch schon andere bekannte NPD-Mitglieder wie Andreas Theißen, Michael Grewe, Stefan Köster, Klaus Bärthel und Torgai Klingebiel. Wie viele Immobilien sich mittlerweile im Besitz rechter Personen befinden, ist unklar. Die Sozialwissenschaftlerin Alica Blum weist darauf hin, dass man völkische Siedler:innen nicht einzeln wahrnehmen, sondern die gesamte Rechte im Blick haben sollte.
Was macht MV seit der Wende so attraktiv für völkische Siedlungsprojekte? Der Hamburger Neonazi Christian Worch erklärte das 2008 ganz genau: wenig Ausländer, niedrige Immobilienpreise, kaum Protest – idealer Boden für Immobilienkäufer und politische Ambitionen. Rostock-Lichtenhagen sei ein drastisches Beispiel dafür gewesen, dass Ostdeutschland, unter anderem Mecklenburg-Vorpommern, „sturmreif“ gewesen sei, erklärt Daniel Trepsdorf, Politikwissenschaftler und Leiter des Regionalzentrums für demokratische Kultur Westmecklenburg. 1992 randalierten Hunderte Rechtsextreme vor einem Asylbewerberheim. Die Mecklenburgische Schweiz ist außerdem eine dünn besiedelte Region mit dörflichen Strukturen. Die bietet sich an für einen unabhängigen Lebensstil im Verborgenen. Die „Artgemeinschaft“ oder der „Sturmvogel“ sind hier aktiv und fangen Rechte von verbotenen Organisationen wie der „Heimattreuen Deutschen Jugend“ oder der „Wiking-Jugend“ auf. Auch die Nähe zur Siedlungshochburg Lüneburger Heide in Niedersachsen begünstigt die Übersiedlung von Völkischen nach Mecklenburg-Vorpommern. Das ist auf der Karte gut zu erkennen.
Völkische Hochburgen: Krakow am See, Lalendorf, Klaber
Zu den Hochburgen völkischer Siedler in MV zählen Krakow am See und Klaber. In Lalendorf haben sich vor einigen Jahren Marc und Petra Müller gemeinsam mit anderen Familien niedergelassen. Beide gehören der „Artgemeinschaft – Germanische Glaubensgemeinschaft“ an. Sie arbeiten gegen „das Judentum“ und die „Entfremdung des germanischen Menschen“ mit einem strengen Sittengesetz: gleichgeartete Gattenwahl und gleichgeartete Kinder. Auch Beate Zschäpe, Terroristin des NSU, nahm 1997 an einer Schulung der Artgemeinschaft in der Lüneburger Heide teil. Daran kann man erkennen, dass völkische Siedler zwar eher im Verborgenen wirken, aber durchaus wichtige Strukturen für Neonazis und Rechtsterroristen bieten. Wie wenig der Staat Familien beobachtet, die der Artgemeinschaft angehören, zeigte sich spätestens 2010, als das siebte Kind der Müllers fast eine Ehrenpatenschaft des Bundespräsidenten erhielt. Übrigens soll die Partnerschaft das „Sozialprestige kinderreicher Familien stärken“, führte jedoch beinahe dazu, das Sozialprestige kinderreicher Nazifamilien noch zu unterstreichen. Der damalige Bürgermeister Reinhard Knaack (Die Linke) zeigte aber Zivilcourage und verweigerte die Übergabe der Urkunde. Erst danach wurde der Fall in Berlin überprüft.
Die Artgemeinschaft fand auch im Verfassungsschutzbericht 2019 Erwähnung. Das Landesinnenministerium MV geht davon aus, dass sich die „Idee gemeinsamer ländlicher Siedlungen“ in Zukunft noch ausweiten wird. Momentan handele es sich hauptsächlich um eine Organisation, die „für die Öffentlichkeit kaum wahrnehmbar“ sei, für die Vernetzung der völkisch-rechten Szene jedoch eine wichtige Rolle spiele, heißt es in dem Bericht. Der Landesverfassungsschutz hatte sich gegenüber dem Vorhaben, ein nationales Dorf bei Lübtheen zu gründen, lange zurückgehalten, bis plötzlich so viele Immobilien Eigentum der NPD-Spitze waren, dass er vor dem rechtsextremen Zuzug warnte.
Die meisten völkischen Siedler in Klaber kommen ursprünglich aus Niedersachsen und gehen alten Handwerksberufen nach. Der Dorfschmied Jan Krauter und seine Schwägerin wohnen hier in einer völkischen Siedlungsgemeinschaft. Krauter engagiert sich gegen Gentechnik und Flüchtlinge. 2017 erklärte er der taz, warum: „Neunzig Prozent sind alleinreisende junge Männer. Die kommen durch Schlepperringe hierher. Unsere drei Mädchen fahren, seit die hier in der Nähe untergebracht sind, nicht mehr zum Badesee.“ Krauters Schwägerin betreibt eine Buchbinderei und arbeitet mit dem Antaios-Verlag zusammen. Gründer des Verlags ist Götz Kubitschek, ein politischer Aktivist von AfD und Neuer Rechten, der außerdem das „Institut für Staatspolitik“ in Schnellroda im südlichen Sachsen-Anhalt betreibt, ein neurechtes Schulungszentrum.
Völkische Kinder werden zu militanten Rassisten erzogen
Die Kinder von Marc und Petra Müller aus Lalendorf wurden in den Lagern der Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ) sozialisiert, die 2009 verboten wurde. Als Nachfolgeverein der HDJ hat sich der Sturmvogel gebildet. Bei Sturmvogel-Zeltlagern stehen völkisch-nationalistische Gehirnwäsche, Gehorsam und Strammstehen auf der Tagesordnung. Verdeckte Ermittler:innen entdeckten Zelte mit der Aufschrift „Führerbunker“ oder ein Eingangsschild zum Camp mit dem Schriftzug „Der Heimat und dem Volke treu“. 2008 wurde in Hohen Sprenz ein Lager der HDJ von Polizei und Jugendamt aufgelöst. Vor Ort waren damals 39 Kinder im Alter zwischen acht und 14 Jahren. Die Kinder praktizierten Verhaltensweisen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Marius Hellwig von der Amadeu-Antonio-Stiftung sieht diese Art der Sozialisation als bedenklich an, denn als Kind könne man sich dort nicht frei entfalten: „Das ist auch eine Form von Gewalt.“ In Zukunft müsse man kritisch beobachten, wie sich Heranwachsende aus diesem Umfeld entwickelten, so Daniel Trepsdorf. Die Gefahr sei, dass Kinder Rassismus und Abstammungslehre vermittelt bekämen. Schon in jungem Alter lehnen sie den demokratischen Rechtsstaat und das Grundgesetz ab. Trepsdorfs These: „Kinder und Jugendliche, die im gewaltaffinen Umfeld der völkischen Siedlungsbewegung ideologisch radikalisiert werden, sind die rechtsextremen Terroristen von morgen. Sie sind eine tickende Zeitbombe.“
Eltern schicken ihre Kinder in paramilitärische Camps. Fünf Uhr in der Früh beginnt der Tag. Die Kinder durchlaufen Schießübungen im Wald, müssen Tiere töten und ihnen das Fell abziehen. Sie sollen abgehärtet und ihr empathisches Bewusstsein ausgeschaltet werden. Sogar nachts werden sie aufgeweckt, um zu einem aufgespießten Schweinekopf im Wald zu laufen. Vor Ort müssen sie Demütigungen ertragen. So beschreibt es die Aussteigerin Hedi Benneckenstein, selbst in einer völkischen Familien aufgewachsen, in ihrer Autobiografie. Daniel Trepsdorf benennt diese Methode als „zerstörenden Geist des Napolaprinzips“, die auch in den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (Napola) der Nazis praktiziert wurde. Das Individuum soll gebrochen und von Empathie befreit werden. Sein Handeln möge nur vom hierarchischen Führerprinzip, rassistischen und antisemitischen Werten geleitet werden.
Völkische Familien melden ihre Kinder hauptsächlich auf Freien Schulen an, da diese für einen alternativen Lebensstil stehen und nicht so stark vom Staat kontrolliert werden. Bis 2010 besuchten etwa die Kinder von Bernhard Schaub, einem bekannten Holocaustleugner und Gründer der antisemitischen „Europäischen Aktion“, die Waldorfschule in Schwerin. Dann wurde der Familie der Schulvertrag gekündigt. Lehrer:innen und Eltern berichteten, dass sich das Sozialverhalten der Schaub-Sprösslinge stark von dem der anderen Kinder unterschieden habe. Obwohl völkische Heranwachsende wie auch völkische Mütter genauso rassistisch-nationalistisch denken wie die Männer der Szene, gelten sie bei Nachbarn und Eltern in Kita und Schule häufig als harmlose Mitläufer. Im Landkreis Ludwigslust-Parchim erzählt eine Kita-Erzieherin von der Hilfsbereitschaft der völkischen Mütter: „Die Frauen gehören immer mit zu den ersten, die ihre Hilfe anbieten, wenn wir etwas organisieren.“ Immer mehr besorgte Eltern melden sich jedoch bei Daniel Trepsdorf und der mobilen Gemeinwesenberatung der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie. Sie berichten von verstörenden Begegnungen mit völkischen Nachbarn und deren Kindern.
War die Kreisgebietsreform eine Einladung für Nazis?
2011 wurden in Mecklenburg-Vorpommern zwölf Landkreise zu sechs Großkreisen zusammengelegt. Daniel Trepsdorf sieht das kritisch, denn es habe eine „dramatische Form der Demokratieentleerung“ stattgefunden. Gerade in Ostdeutschland sei es nach entscheidenden Sozial- und Systemwechseln wichtig, die Selbstverwaltung der Bürger:innen vor Ort zu fördern. Mehr Unterstützung für demokratische Institutionen, engagierte Akteure und eine vitale Zivilgesellschaft dürften auch auf dem Land nicht vergessen werden. Dazu gehörten einerseits kurze Wege zu Arztpraxen und Schulen, ein funktionierender Nahverkehr und der Einkaufsladen um die Ecke. Andererseits sei die Nähe zur nächsten Verwaltungseinheit und der Kontakt zu ehrenamtlichen Politikern oder Landräten ein entscheidender Punkt, wenn es um Demokratie und die Mündigkeit von Menschen in MV gehe. Es würden zu wenig finanzielle Mittel in die Erhaltung und Belebung des ländlichen Raumes fließen, Ehrenämter zu wenig gefördert: „Wenn vor Ort bemerkt wird, dass sich die Landesregierung zu wenig für Perspektiven ländlicher Räume interessiert und sich weitere demokratische Organisationen wie Kirchen, Vereine und Verbände zurückziehen, wittern völkische Gemeinschaften ihre Chance“, erklärt Trepsdorf. Es gebe sogar Aufrufe der rechten Szene, sich in demokratieentleerten Räumen anzusiedeln: „Das Repräsentationsvakuum wird aufgefüllt mit ideologisch stramm antidemokratischen und rechtsextremen Kräften.“ Trepsdorf wirft die Frage auf, wer in Zukunft aufzeigen soll, wie ein starkes und solidarisches Leben der Zivilgesellschaft auf dem Land funktioniert – Nationalsozialisten mit arischer Attitüde und gewaltsamen Ansätzen oder weltoffene Demokrat:innen?
Politischer Einfluss völkischer Siedler
Die Vorgehensweise völkisch-nationaler Siedler zeigt sich ganz besonders in Jamel und Groß Krams. Jamel, ein kleines Dorf im Landkreis Nordwestmecklenburg, ist weltweit als „national befreite Zone“ bekannt. 38 von 40 Einwohner:innen gehören der Neonaziszene an. Sven Krüger, Mitglied der NPD, hat vor zwanzig Jahren angefangen, Grundstücke im Dorf zu kaufen. Er versteht sich als „völkische Galionsfigur“ und führt in Jamel sogenannte Eheleiten oder Sonnwendfeiern also heidnische Hochzeiten durch. Seit den Kommunalwahlen 2019 sitzt er in der Gemeindevertretung. Der wegen Hehlerei und illegalen Waffenbesitzes verurteilte Rechtsradikale gründete damals zusammen mit Tino Streif und Steffen Meinecke die Partei „Wählergemeinschaft Heimat“. In der Mitte von Jamel ist ein Wegweiser zu finden, dessen Schilder nach Breslau, Königsberg und Braunau am Inn, Hitlers Geburtsort, zeigen.
Auch in Groß Krams sitzen zwei Rechtsradikale in der Gemeindevertretung. Einer davon ist Sebastian Richter. Er wurde in der Heimattreuen Deutschen Jugend sozialisiert und war von 2014 bis 2018 Bundesvorsitzender des Jugendverbands der NPD. Nach der Wahl veröffentlichte Richter ein „Krams-Blättchen“, in dem er seine Ziele für die Gemeinde definiert. Das lässt ihn zwar sonderbar bürgerlich wirken, ändert aber nichts daran, dass er versucht, sein Dorf durch die rechte Ideologie zu prägen. Der Rechtsradikale gründete 2004 in Anklam die Bürgerinitiative „Schöner Wohnen“. In der NDR-Dokumentation „Mein Nachbar ist ein Nazi“ erklärt Richter, dass er mit dem Namen der Initiative viele Stimmen abfangen möchte. Das würde nicht funktionieren, wenn man die Initiative „Kampfbund“ nennen würde. Durch seine HDJ-Zeit lernte er strategische und psychologische Kriegsführung. Die NPD-Parteizeitung „Junge Nationalisten“ bildet Richter 2016 mit einem Bagger auf dem Titelblatt ab. Die Überschrift lautet: „MV sollte zum Einwanderungsland für Nationalisten werden. Man sollte im Dorfbund, der immer auch ein Kampfbund ist, politisch aktiv werden.“ Ein anderer Beitrag jener Ausgabe formuliert den Begriff der „national befreiten Zone“, es ist von Aufmarsch- und Rückzugsgebieten die Rede. Konzepte, die aus der Guerillataktik bekannt sind. Das bedeutet so viel wie aus dem Hinterland ungestört zu reagieren, sich dort auszuruhen und am Ende gemeinsam Einfluss nehmen zu können. Für Richter ist das politische System der Bundesrepublik nicht erhaltungswürdig. Ein weiterer Groß Kramser Gemeindevertreter ist Ragnar Böhm. Er ist in einer völkischen Familie aufgewachsen, besucht regelmäßig NPD-Treffen und engagiert sich in der freiwilligen Feuerwehr (FFW) des Ortes. Das sei besonders gefährlich, erklärt Philipp Gnann, ebenfalls Mitglied der FFW, da man im Einsatz mit Böhm nicht gewährleisten könne, dass er Menschen jeder Herkunft helfen würde. In kleinen Dörfern gibt es meist nicht viele Möglichkeiten, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren. Genau da greifen völkisch-nationale Siedler:innen an. Sie wissen: Die politische Weltanschauung verliert im ländlichen Raum an Bedeutung, wenn man sich für die Entwicklung des Ortes einsetzt, sich für die Gemeinschaft engagiert, handwerkliches Geschick zeigt, hilfsbereit und höflich ist.
In der Lübtheener Stadtvertretung sitzt Udo Pastörs. Großen politischen Einfluss habe er nicht, sagt Bürgermeisterin Ute Lindenau (SPD), denn er sei deutlich in der Minderheit. Trotzdem passiere es oft, dass Pastörs bei Sitzungen Stimmung mache: „Er ist meistens gegen alles“, berichtet die Bürgermeisterin. Dennoch wählten 88 Lübtheener bei der Landtagswahl am 26. September die NPD (3,76 Prozent), die AfD erhielt 13,51 Prozent der Stimmen. Im Verhältnis zu den anderen ist das zwar nicht enorm viel Zuspruch für die rechten Parteien, aber eben auch nicht zu relativieren. Das rechte Netzwerk rund um Udo Pastörs trägt weiterhin Früchte.
Nach der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern zog die AfD, trotz Stimmenverlusten, mit 18 Prozent als zweitstärkste Kraft in den Schweriner Landtag ein. Noch immer zeichnet sich ein gesamtgesellschaftlicher Rechtsruck ab, der auch für völkische Siedler förderlich ist. Bei rechten Demonstrationen wie denen, die von der Identitären Bewegung organisiert werden, oder bei Parteiveranstaltungen der AfD haben Demokratiefeinde zumindest die Möglichkeit, in die Öffentlichkeit zu treten. Aber auch die völkische Infrastruktur mit Wehrsportcamps für Kinder, völkisch-nationalen Brauchtumszeremonien und den bereits völkisch besiedelten Landflächen bietet für rechte Netzwerke einen Rückzugsort.
MVs Dörfer halten zusammen gegen rechts
Während sich manche Bürger:innen nicht für die völkisch-nationalistische Gesinnung der Nachbarschaft interessieren, bilden sich an anderen Orten mit starken rechten Strukturen wertvolle Initiativen für Demokratie. So in Lübtheen, wo sich Bürgermeisterin Lindenau entschieden gegen den Plan der NPD-Kader einsetzt, die Kleinstadt zur „national befreiten Zone“ zu machen. Dafür wurde sie 2008 mit dem Johannes-Stelling-Preis der SPD-Landtagsfraktion ausgezeichnet. Die Initiative brachte mit Tanzveranstaltungen, Kindertagen oder Theateraufführungen Leben in die Stadt. Noch immer ist Udo Pastörs Stadtvertreter in Lübtheen. Er wird von Kolleg:innen als „nervend“ wahrgenommen und macht Erzählungen zufolge „Stimmung“ im Stadtrat. Darüber, wie es aktuell um die Immobilienkäufe und Ansiedlung von Rechten steht, wollte im Rathaus niemand sprechen.
Das Phänomen ist bereits von Lalendorfs ehemaligem Bürgermeister Reinhard Knaack bekannt. Obwohl er damals viel Rückgrat zeigte und sich weigerte, die Ehrenpatenschaft an die völkische Familie Müller zu übergeben, entzog er sich später vereinbarten Gesprächen mit der taz. Nach seinem Akt der Zivilcourage wurde Knaack bedroht. Neonazis marschierten in der Gemeinde auf und vermummte Personen drangen damals in sein Privathaus ein. Schweigen Politiker:innen vor Ort über Begegnungen mit der völkisch-nationalen Szene, um sich vor Drohungen zu schützen? Zumindest sind Journalist:innen und Expert:innen wie Andrea Röpke und Daniel Trepsdorf immer wieder Ziel von Gewalt- und Morddrohungen.
In Groß Krams gründete sich 2021 ein Bündnis gegen rechts. Ziel ist es, ähnlich wie in Lübtheen, mehr kulturelle Angebote ins Dorf zu bringen und die Demokratie zu stärken. So veranstalteten die Mitglieder Flohmärkte, boten einen Open-Air-Kinoabend an und organisieren sich in einer Theatergruppe. Auch politisch aufzuklären und zu bilden, ist ein wichtiges Anliegen der Initiative. Während sie im Garten einer Einwohnerin gegründet wurde, gab es eine Gegenreaktion der völkischen Siedler:innen im Ort. Eine Gruppe von Frauen in traditionellen Gewändern lief mit ihren Kindern durch die Straßen, Neonazis patrouillierten mit Kampfhunden durchs Dorf. Sie beobachteten die Häuser von Bündnisakteuren und notierten Nummernschilder von Besucher:innen. Nach wie vor betreiben sie Spaltungsarbeit in der Dorfgesellschaft. Daniel Trepsdorf war zu diesem Zeitpunkt mit Kolleg:innen des Demokratiezentrums vor Ort. Er schätzt die Aktion als Einschüchterungsversuch ein und vermutet, dass die Völkischen ihre Repräsentationshoheit zeigen wollten. Politik und Verwaltung müssten in Zukunft „entschiedener als bisher“ der rechtsextremen Unterwanderung begegnen, fordert Trepsdorf.
Im „nationalistischen Musterdorf“ Jamel setzt sich das Ehepaar Lohmeyer seit 2007 gegen die Vereinnahmung der Landfläche durch Rechte ein. Das bundesweit bekannte Festival „Jamel rockt den Förster“ „soll den Nazis demonstrieren, dass ihnen demokratischer Gegenwind entgegenbläst“. Die Lohmeyers wurden für ihren Einsatz gegen rechts mit dem Georg-Leber-Preis für Zivilcourage der Gewerkschaft IG BAU ausgezeichnet. Auch sie sind ständiger Beobachtung und wiederholtem Mobbing seitens der nationalen Siedlungsgemeinschaft ausgesetzt. Schon oft bekamen sie Angebote von den Neonazis, ihr Haus zu kaufen. Durch das Dorf bewegen sie sich nur mit Fahrrad oder Auto. 2015 wurde ihre Scheune in Brand gesteckt. Die Polizei geht von Brandstiftung aus. Das Ehepaar kann nur vermuten, wer den Brand gelegt hat.
Quellen
- Röpke, Andrea: Gefährlich verankert, 2017, S. 192.↩
- Heinrich-Böll-Stiftung: Braune Ökologen, 2012, S. 77.↩
- Röpke 2017, S. 199.↩
- www.bundespraesident.de/DE/Amt-und-Aufgaben/Wirken-im-Inland/Jubilaeen-und-Ehrenpaten schaften/jubilaeen-und-ehrenpatenschaften-node.html.↩
- Röpke 2017, S. 193.↩
- Innenministerium MV (Hrg.): Verfassungsschutzbericht 2019, S. 37 f.↩
- Röpke 2017, S. 206.↩
- taz.de/Rueckwaertsgewandte-Siedler/!5370963.↩
- Röpke 2017, S. 197.↩
- taz.de/Rueckwaertsgewandte-Siedler/!5370963.↩
- Telefonat mit Daniel Trepsdorf am 24.9.2021.↩
- Benneckenstein, Heidi: Ein deutsches Mädchen, 2020.↩
- Amadeu-Antonio-Stiftung, Anna Schmidt: Völkische Siedler/innen im ländlichen Raum: Basiswissen und Handlungsstrategien, 2014, S. 11.↩
- ebd.↩
- youtube.com/watch?v=PMdmVBWEdDo.↩
- daserste.ndr.de/panorama/archiv/2021/Mein-Nachbar-ist-Nazi,nazinachbar100.html; www.svz.de/lokales/gadebusch-rehnaer-zeitung/Sven-Krueger-Rechtsextremer-im-Dorfparlament -id24180857.html.↩
- daserste.ndr.de/panorama/archiv/2021/Mein-Nachbar-ist-Nazi,nazinachbar100.html.↩
- ebd.↩
- votemanager.kdo.de/20210926/13076088/praesentation/index.html.↩
- wirfuerluebtheen.de/?p=418.↩
- taz.de/Rueckwaertsgewandte-Siedler/!5370963.↩
- Röpke 2017, S. 195.↩
- daserste.ndr.de/panorama/archiv/2021/ Mein-Nachbar-ist-Nazi,panorama13194.html.↩
- ebd.↩
- daserste.ndr.de/panorama/archiv/2021/ Mein-Nachbar-ist-Nazi,panorama13194.html.↩
- www.welt.de/regionales/mecklenburg-vorpommern/article144884206/Ehrung-fuer-Initiatoren-des-Forst-Rockfestivals- gegen-Rechts.html.↩
- www.sueddeutsche.de/politik/jamel-in-mecklenburg-vorpommern-brandanschlag-auf-nazi-gegner-1.2606789.↩
- Letztes Update des Artikels (13.12.2021, 11:44 Uhr): In einer früheren Version des Artikels wurde Lalendorf fälschlicherweise als Ortsteil von Krakow am See betitelt.
In einer älteren Version des Artikels wurde Sebastian Richter als aktueller JN-Vorsitzender genannt. Diesen Posten hat seit 2019 Paul Rzehaczek inne.↩