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Sammelaktion nach Klimaprotest

23.000 Euro fürs Anfahren?!

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Lesedauer: ca. 5 Minuten

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12. Juli: Sechs Aktivist:innen der Letzten Generation blockieren eine Straße in Stralsund. Ein LKW-Fahrer, der nicht vorbeifahren kann, steigt aus, versucht einige der Personen von der Straße zu zerren, droht laut Polizeiangaben Gewalt an, steigt schließlich wieder in sein Fahrzeug und fährt an. Die Aktivist:innen sitzen zu dem Zeitpunkt noch immer auf der Straße. Einer von ihnen wird vom LKW mitgeschoben. 

Die Staatsanwaltschaft Stralsund hat inzwischen vier Ermittlungsverfahren eingeleitet: Eines gegen den LKW-Fahrer wegen versuchter Körperverletzung, gegen die Aktivist:innen wegen des Verdachts der Nötigung und des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz sowie gegen zwei weitere Personen, die die Protestgruppe attackiert haben sollen.

Sammeln für den „König der Herzen“

Kurz nach der Aktion begann die Bürgerschaftsfraktion Bürger für Stralsund damit, Spenden zu sammeln – wie sie es formulieren für den „König der Herzen“. In ihren Social Media Kanälen leiten sie außerdem den Aufruf des Rechtsanwalts Dirk Lüder weiter, der den LKW-Fahrer juristisch vertritt. „Wenn Sie meinen Mandanten finanziell zur Deckung von Anwalts-und Prozesskosten und auch für berufliche Nachteile unterstützen möchten, bitte ich die Spenden auf unser Fremdgeldkonto mit dem Betreff "König der Herzen" zur Weiterleitung an unseren Mandanten zu zahlen.“

Die Fraktion selbst feiert ihren Sammelerfolg und freut sich über beglückwünschende Kommentare. Kritische Stimmen werden dagegen missbilligend kommentiert: Unter anderem heißt es in einem Kommentar: „[...] Ihr feiert jemanden, der Selbstjustiz anwendet. [...] Machen wir das in Zukunft nur noch so? Dann brauchen wir ja keine Justiz mehr, kann ja jeder selber dann Richter sein [...]“. Dieser wird mit kotzenden Smileys beantwortet. 

Bürger für Stralsund geben keine Aussage

Nachfrage, ob sie die Kritik an ihrer Aktion auch verstehen können, warum sie den Lkw-Fahrer als „König der Herzen“ bezeichnen und ob das Geld für Stralsund nicht besser eingesetzt werden könne, lässt das Bürgerbüro unbeantwortet und erklärt stattdessen, dass sie KATAPULT MV keine Fragen beantworten wolle. Auch Anwalt Lüder möchte „momentan keine weiteren Stellungnahmen geben“. 

Vom betroffenen Aktionisten der Letzten Generation, Lukas Meyer, dagegen heißt es im Gespräch: „Ich freue mich über die Unterstützung für den Mann, weil ich die direkten Konsequenzen für ihn so auch nicht wollte“. Allerdings sehe er das politische Spektrum der Initiator:innen zum Teil als fragwürdig. Neben den Bürgern für Stralsund habe auch der aus der rechten Szene stammende Berliner Verlag „Junge Freiheit“ Spenden gesammelt. 

Erster Klimaprotest der Letzten Generation in MV

Die Protestaktion in Stralsund war die erste dieser Art in Meck-Vorp, bei der sich Aktivist:innen auf die Straße klebten. Zuvor war Meyer selbst an weiteren beteiligt, etwa in Berlin und in Bayern. Er habe bislang mehr gute als schlechte Reaktionen mit Passant:inen oder Autofahrer:innen erlebt, erzählt er. „Bei meiner ersten Aktion letzten November hielt ein etwa 50-jähriger Autofahrer an, kam zu mir und bot uns seine Unterstützung an, hinterließ auch seine Visitenkarte, um im Falle des Falles vor Gericht für sie aussagen zu können. Auch Blumen, Schokolade und Heißgetränke würden der Aktionsgruppe regelmäßig angeboten, so Meyer. Von Menschen ganz unterschiedlicher Altersgruppen – von 25 bis 50 Jahren. Mehr Zuspruch gebe es sogar von den älteren. So eine körperliche Auseinandersetzung, wie in Stralsund, gab es für ihn noch nie. 

Heute gab es eine zweite Aktion in MV. In Rostock beteiligten sich fünf Aktivist:innen an einer friedlichen Sitzblockade auf der August-Bebel-Straße/Hermannstraße.

Rechtliche Konsequenzen 

Ob es für den LKW-Fahrer zu einem Prozess kommt, werde laut Staatsanwaltschaft Stralsund erst im September entschieden. Seinen Führerschein ist er jedenfalls erstmal los – entzogen vom Amtsgericht Stralsund. Damit kann er seinen Job als Berufskraftfahrer nicht weiter ausüben. 

Für die Sitzblockade der Letzten Generation gibt es derzeit noch keine rechtlichen Konsequenzen, sagt Meyer. Er habe Anfang August einen Strafbefehl von seiner ersten Aktion letzten November bekommen: 50 Tagessätze á 50 Euro. dagegen legte er Widerspruch ein. Ob für die Aktion in Stralsund eine Anzeige folgt, kann er nicht sagen. Aber Hoffnung gebe der Gruppe aus Stralsund, dass zuletzt für den Protest am Grundgesetz-Denkmal in Berlin ein Freispruch erwirkt wurde. Das sei ein Erfolg und zeige schon viel. Aber das liege auch immer an den Richter:innen.

Aktionen der Letzten Generation werden durch Spenden finanziert, die Aktivist:innen bei hohen Strafen über Online-Spendenaufrufen sammeln. Das funktioniere derzeit sehr gut. Für weitere finanzielle Unterstützung bei Gerichtsverfahren könne auch der Umwelt-Treuhandfonds die Kosten übernehmen. Der „möchte jedem Menschen solidarisch helfen, der im Zusammenhang mit einer Umweltschutz-Aktion oder einer Demonstration mit juristischen Fragestellungen oder Konsequenzen konfrontiert ist“.

Dass es für den LKW-Fahrer letztendlich zu diesen Umständen gekommen ist, sei „unglaublich tragisch“, sagt Aktivist Meyer. Auch er habe daraus gelernt: Bei künftigen Aktionen auf der Straße werde er lauter auf sich und seine Aktion aufmerksam machen, um es „für alle irgendwie sicherer zu machen“. 

Mit Protestaktionen aufhören werden er und die Letzte Generation aber so oder so nicht.

Transparenzhinweis vom 1.9.23: Neben Aufnahmen der Letzten Generation sind Teile des Videomaterials von Philipp Schulz.

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Fußnoten

  1. Dpa.
  2. @Bürger für Stralsund: Beitrag vom 14.7.2023 auf: facebook.com.
  3. @Bürger für Stralsund: Beitrag vom 29.8.2023 auf: facebook.com.
  4. Ebd.
  5. Telefonat mit dem Bürgerbüro der Bürger für Stralsund am 30.8.2023.
  6. Telefonat mit der Kanzlei Heinichen, Lüder und Struck am 30.8.2023.
  7. Telefonat mit Lukas Meyer am 31.8.2023.
  8. Behrens, Bastian (Hg.): Fast 25.000 Euro – JF beendet Spendenaktion für LKW-Fahrer von Stralsund, auf: jungefreiheit.de (17.7.2023).
  9. Schubert, Robert: Klimaprotest in MV: Eine Woche nach der Lkw-Eskalation, auf: ndr.de (21.7.2023).
  10. Tagesschau.de (Hg.): Freispruch nach Farbattacke auf Grundgesetz-Denkmal, auf:tagesschau.de (22.8.2023).
  11. Umwelt-Treuhandfonds (Hg.): Kriterien, auf:umwelt-treuhandfonds.de.

Autor:innen

Redakteurin bei KATAPULT MV.

ist KATAPULT MVs Inselprofi und nicht nur deshalb gern am Wasser. Nutzt in seinen Texten generisches Femininum.

Redaktionsleitung bei KATAPULT MV.

Ist in Greifswald geboren, hat in Augsburg studiert und zog für den Lokaljournalismus wieder zurück nach Meck-Vorp.

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