Wahlkampf mit Kurzvideos

Die Taktik Tiktok

Wären Tiktok-Follower gleichbedeutend mit Wählerstimmen, hätte die AfD-Fraktion rund 90 Prozent der Sitze im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. Die restlichen Parteien müssten sich um die verbleibenden Plätze streiten, die Grünen wären gar nicht vertreten. Rein statistisch nutzen rund 404.000 Menschen in MV regelmäßig die Kurzvideo-App. Das ist jede:r Vierte. Der AfD-Landtagsfraktion folgen rund 14.700 Menschen. Was macht die Rechtsaußenpartei so erfolgreich?

Bis auf die Grünen sind alle Landtagsfraktionen auf der Videoplattform Tiktok präsent. Eine besonders große Reichweite hat jedoch nur die AfD. Mit der App, auf der früher hauptsächlich Tanzvideos geteilt wurden, erreicht die in Teilen gesichert rechtsextreme Partei besonders viele Jugendliche: Mehr als die Hälfte der Deutschen zwischen 14 und 19 Jahren nutzt Tiktok. Für einige von ihnen ist es die wichtigste App auf ihrem Smartphone. Jugendliche dürfen im Juni bei den Europa- und Kommunalwahlen zum ersten Mal schon mit 16 ihre Stimme abgeben. Durch die Absenkung des Wahlalters gibt es bei der Europawahl voraussichtlich 1,4 Millionen zusätzliche junge Wahlberechtigte. Dieses Potenzial hat die AfD früh erkannt.

Das meistgesehene Video ihrer Landtagsfraktion wurde fast 300.000-mal geschaut. Das sind mehr Menschen, als zusammen in Rostock und Neubrandenburg leben. Ob das Video auch allen gefallen hat, die es gesehen haben, lässt sich schwer sagen. Immerhin haben 25.000 Menschen das „Gefällt mir“-Herz gedrückt und das Video damit gelikt. Zum Vergleich: Das erfolgreichste Video der Linken – nach der AfD die reichweitenstärkste Fraktion – hat nur rund 22.000 Klicks und 500 Likes. Ersteres entspricht etwa der Einwohner:innenzahl von Waren.

Keine Fakten, dafür Emotionen

Martha Kuhnhenn forscht an der Universität Greifswald zu Organisationskommunikation. Sie hat das erfolgreichste Tiktok-Video der AfD-Fraktion linguistisch analysiert. Es ist der Mitschnitt einer Landtagsrede von Horst Förster und trägt den Titel Knallharter Ex-Richter zerlegt irren Klimaextremismus der „Letzten Generation“! – Teil 1.

Der Sprachwissenschaftlerin fallen im gesamten Video immer wieder eine emotionalisierte Sprache und die Konstruktion dramatischer Bilder auf. So beschreibt der Abgeordnete, dass der Staat vor den „Extremisten buchstäblich auf die Knie“ gehe. Belegt werden die im Video getätigten Aussagen nicht. Wenn Förster davon spricht, dass durch „das Treiben der sogenannten Klimaaktivisten (…) das Vertrauen in unseren Rechtsstaat kontinuierlich sinkt“, gibt er keine Quellen an. Es lässt sich also aus den Informationen des Videos selbst nicht nachprüfen, wie es tatsächlich um das Vertrauen in den Rechtsstaat bestellt ist und welchen Einfluss Klimaaktivist:innen darauf haben.

Martha Kuhnhenn stellt im Video auch die Konstruktion von sogenannten In- und Outgroups fest. Als Ingroup wird die eigene Gruppe definiert. Diese grenzt sich klar von den Menschen außerhalb der Gruppe ab, der Outgroup. Die Ingroup wird von ihren Mitgliedern als überlegen angesehen. Im Fall des Videos sind die AfD und ihre Anhänger:innen die Ingroup und die Klimaaktivist:innen gehören zur Outgroup. Sie werden abwertend „Extremisten“ und „Kriminelle“ genannt. Die Mitglieder der Letzten Generation würden den Weltuntergang in Form der Klimakatastrophe herbeireden. Die AfD dagegen sei stark und kenne die Fakten.

Eine sachliche Auseinandersetzung mit den Zielen der Letzten Generation und dem menschengemachten Klimawandel findet nicht statt. Stattdessen betont Förster am Ende des Videos, dass Deutschland keine Verantwortung für den Klimawandel habe. Die Tiktok-Nutzer:innen verlassen das Video also mit dem guten Gefühl, von jeglicher Verantwortung entbunden zu sein.

Alle Merkmale des Populismus

Emotionale Sprache, fehlende Belege und die Konstruktion von In- und Outgroup sind laut Kuhnhenn Merkmale populistischer Sprache. „Ein wirklicher Beitrag zur Debatte ist das Video nicht“, resümiert die Wissenschaftlerin. Laut der Vorsitzenden der Linksfraktion im Landtag, Jeannine Rösler, versuche die AfD, mangelnde Fachkenntnis und fragwürdige Positionen mit dramatischer Musik und irreführenden Videos zu verschleiern. Manche Beobachter sind der Auffassung, die AfD halte Reden nur, um sie für Social Media zu filmen.

Nach Kuhnhenns Einschätzung wirkt populistische Kommunikation besonders beim passiven Konsum von Medien. Passiv bedeutet, dass Medien ohne die Absicht, sich tiefergehend mit den Inhalten zu beschäftigen, konsumiert werden – im Fall von Tiktok das schnelle Durchschauen der kurzen Videos. Die Eigenschaften der App unterstützen also die Art und Weise, wie die AfD kommuniziert.

Wer den Algorithmus kennt

Philip Hentschel ist Pressesprecher der AfD-Landtagsfraktion. Er sagt, dass alle Mitarbeitenden der Pressestelle geschult seien, Tiktok gewinnbringend für die Kommunikation der Fraktion zu nutzen. Mit „gewinnbringend“ meint er, dass eine möglichst große Reichweite erzielt werden soll. „Wenn man ein wenig über den Algorithmus weiß, hilft das, in der Flut von Beiträgen nicht komplett unterzugehen“, so Hentschel.

Tiktoks Algorithmus ist so angelegt, dass Videos mit vielen Interaktionen, also Likes und Kommentaren, neuen Nutzer:innen häufiger vorgeschlagen werden. Wem der Beitrag vorgeschlagen wird, entscheidet der Algorithmus anhand der Aktivität. Wer also ein Video der AfD bis zum Ende guckt, likt, kommentiert oder teilt, bei dem steigt die Wahrscheinlichkeit, ein weiteres AfD-Video vorgeschlagen zu bekommen. Am ehesten eines mit vielen Likes und Kommentaren.

Dass die AfD den Algorithmus der Plattform kennt, zeigen Recherchen zur bundesweiten Tiktok-Präsenz der Partei. Die AfD profitiere besonders von sogenannten Drittaccounts. Das sind keine offiziellen Profile, sondern solche privater Nutzer:innen. Sie verbreiten die Beiträge der Partei in eigenen Videos, wodurch die AfD noch mehr Menschen erreicht. Auch kommentieren die User:innen die Videos der offiziellen Accounts. Dass diese Kommentare kein wirklicher Austausch zu den Inhalten sind, sieht man etwa am oben genannten Beispiel. Unter dem Video von Horst Förster hinterließen Nutzer:innen zahlreiche blaue Herzchen. Dadurch verstärken sie die Präsenz der Partei auf der Plattform massiv. Eine Verbindung zu den Drittaccounts weist die AfD zurück.

So oft sehen, bis man es glaubt

Laut Martha Kuhnhenn wirkt auf Tiktok der sogenannte illusory truth effect, zu Deutsch: Scheinbare-Wahrheit-Effekt. Je öfter man etwas sieht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, es als wahr zu erachten. Um beim oben genannten Beispiel zu bleiben: Schaut man auf Tiktok das Video der AfD-Landtagsfraktion zu Ende, registriert der Algorithmus das. Wahrscheinlich werden also weitere Videos mit ähnlichem Inhalt angezeigt. Je mehr Videos man schaut, desto mehr festigt sich die Bezeichnung „Extremisten“ für Klimaaktivist:innen.

Laut Jeannine Rösler helfe der Algorithmus dabei, Menschen in rechte Filterblasen zu ziehen und Hetze zu verbreiten. Da besonders junge Menschen die Plattform nutzen, sind diese am stärksten davon betroffen. Der Landesvorsitzende der Grünen, Ole Krüger, nennt die Präsenz der AfD auf Tiktok „besorgniserregend“.

Längst kein Quatschmedium mehr

Rösler sieht an dieser Stelle auch ein Versäumnis der restlichen Parteien. Diese hätten die Plattform zu lange als „Quatschmedium für Tanzvideos“ abgetan. Sie sagt: „Wer Tiktok ignoriert, nimmt in Kauf, dass extrem rechte Positionen normalisiert werden und unwidersprochen bleiben.“ Das ist mittlerweile bei allen Fraktionen angekommen. Seit März besitzt die Landtagsfraktion der FDP einen Account und auch die Grünen planen die Einrichtung eines Tiktok-Kanals.

Ole Krüger schaut angesichts dieser Entwicklung positiv in die Zukunft: „Ermutigenderweise hat sich auf der Plattform mittlerweile eine Gegenbewegung zur AfD gebildet. Diese besteht aus Politiker:innen demokratischer Parteien und vor allem engagierten Nutzer:innen, die die populistischen Parolen der AfD entlarven und Menschen aufklären und informieren.“ Ein Beispiel für diese Bemühungen ist die Kampagne #reclaimtiktok.

Die CDU will auf Tiktok zwar stattfinden, steht der von Krüger beschriebenen Entwicklung allerdings kritisch gegenüber. „Auch sogenannte ‚Faktenchecker‘ sind oftmals nur ‚scheinobjektiv‘ und verfolgen eine klare politische Agenda“, heißt es vom parlamentarischen Geschäftsführer der CDU-Landtagsfraktion, Sebastian Ehlers.

Wenig Klicks und kaum Reichweite

Doch die AfD ist nicht nur geübt im Umgang mit populistischen Kurzvideos, sondern hat auch einen zeitlichen Vorsprung auf der Plattform. Keine der anderen Landtagsfraktionen in MV kann mit der Reichweite der Rechtspopulist:innen konkurrieren. Durchschnittlich 17 Likes hat ein Video der SPD-Fraktion. Bei der CDU sind es mit 14 Likes noch weniger.

Der Sprecher der SPD-Fraktion, Martin Zenker, zeigt sich dennoch zufrieden mit dem Tiktok-Auftritt der Sozialdemokrat:innen: „Die Like-Zahlen sind für uns keine Richtlinie. Wir haben ein stetiges Wachstum an Followern und sind auf anderen Kanälen erfolgreich aktiv. In einem Beitrag mit über 3.000 Klicks und 80 Likes zeigt die Fraktion einen Zusammenschnitt von Videoschnipseln aus Krankenhäusern, unterlegt mit fröhlicher Musik. Erst wenn man den Text unter dem Video öffnet, wird klar, worum es gehen soll: Gesundheitsversorgung in MV. Den Beitrag passiv zu konsumieren und trotzdem die Inhalte zu erfassen, ist folglich nicht möglich.

Haben Parteien also die Wahl zwischen seichter Unterhaltung oder Populismus? Martha Kuhnhenn sieht das nicht so. Es sei durchaus möglich, politische Debatten in kurze Videos zu verpacken, ohne populistische Sprache zu benutzen. So können Quellen im Begleittext verlinkt, die Existenz von anderen Positionen zumindest benannt und auf diffamierende Sprache verzichtet werden.

Fast alle Fraktionen gaben auf Nachfrage an, dass die Mitarbeitenden der Öffentlichkeitsarbeit den Umgang mit Tiktok beherrschen würden. Vielleicht sieht man das in Zukunft auch an den Follower-Zahlen. Der Hashtag #reclaimtiktok wurde bereits über 16.000-mal verwendet. Das zeigt, dass sich auch demokratische Inhalte auf der Plattform verbreiten lassen.

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 31 von KATAPULT MV.

Quellen

  1. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.): JIM-Studie 2022 (25.11.2022).
  2. Laboda, Alexander: Wählen mit 16 Jahren: Trend geht zu niedrigerem Wahlalter, auf: mdr.de (6.4.2024).
  3. @afd.fraktion.mv: Beitrag vom 19.5.2023, auf: tiktok.com.
  4. @linksfraktionmv: Beitrag vom 6.3.2024, auf: tiktok.com.
  5. E-Mail von Martha Kuhnhenn vom 6.4.2024.
  6. Telefonat mit Martha Kuhnhenn am 8.4.2024.
  7. E-Mail der Pressestelle der Fraktion Die Linke vom 10.4.2024.
  8. Hillje, Johannes: Social Media: Die digitale Dominanz der AfD brechen!, auf: blaetter.de (Februar 2024).
  9. E-Mails von Philip Hentschel vom 9. und 10.4.2024.
  10. Metzinger, Nils: AfD hängt alle anderen Parteien auf TikTok ab, auf: zdf.de (10.2.2024).
  11. @DieDaOben: Exklusiv: Die TikTok-Strategie der AfD, auf: youtube.de (28.8.2022).
  12. Schipmann, Jan u.a.: So funktioniert die TikTok-Strategie der AfD, auf: tagesschau.de (29.8.2022).
  13. E-Mail der Pressestelle der Landesgeschäftsstelle der Grünen vom 11.4.2024.
  14. E-Mail der Pressestelle der FDP-Fraktion vom 10.4.2024.
  15. E-Mail der Pressestelle der CDU-Fraktion vom 8.4.2024.
  16. Stand: 8.4.2024.
  17. Telefonat mit Martin Zenker am 11.4.2024.
  18. @spdfraktionmv: Beitrag vom 15.7.2022, auf: tiktok.com.
  19. Stand:17.4.2024.

Autor:in

  • Porträt von Lilly Biedermann Redakteurin Katapult MV in Greifswald

    Redakteurin in Greifswald

    Geboren und aufgewachsen in Sachsen. Ist zum Studieren vom tiefen Osten in den kalten Osten nach Greifswald gezogen.