Aus der Box ertönt ein monotoner Takt. An den Enden der Greifswalder Arndt-Sporthalle stehen sich die beiden Mannschaften der hiesigen Unisportgruppe gegenüber. Dann geht’s los: Einer ruft „Drei, zwei, eins: Jugger!“, und alle stürmen aufeinander zu. Ihr Ziel: Der Ball, auch Jugg genannt. Der liegt in der Mitte des Spielfeldes. In diesem Fall ist es ein schmales, längliches Spielgerät aus Schaumstoff, das ein bisschen an einen Knochen erinnert. Andere Juggerteams haben es als Hundekopf gestaltet – ein Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der Sportart. Mit nach Waffen aussehenden Geräten, wie Stäben, Ketten und Schilden, versuchen die Teams, sich gegenseitig aufzuhalten. Auf den ersten Blick wirkt es angriffslustig, auf den zweiten Blick chaotisch. Aber Jugger sei alles andere als das, erklären die Spielerinnen und Spieler der Greifswalder Gruppe.
Vom Film aufs Spielfeld
Beim Jugger treten zwei Mannschaften in der Regel mit fünf Spielenden gegeneinander an. Die Teams sind gemischt, es gibt keine reine Männer- und Frauenmannschaften. Ziel ist es, den Ball vom Läufer ins gegnerische Tor befördern zu lassen. Die anderen vier Spieler:innen versuchen, die Gegner mit sogenannten Pompfen aufzuhalten. Das sind selbst gebaute gepolsterte Stäbe, Schilde oder ein Ball an einer Kette. Wenn damit jemand aus der gegnerischen Mannschaft berührt wird, ist dieser für einen kurzen Zeitraum spielunfähig und darf sich nicht bewegen. Den Punkt gibt es, wenn der Jugg im Tor gelandet ist. Mit jeweils bis zu drei Auswechselspieler:innen können sich die Teams nach jeder Runde neu mischen. Es gibt keine festen Aufstellungen. Viele hätten zwar eine Lieblingsposition, beherrschten aber auch die anderen, erzählt Peter Saß, Teamleiter der Greifswalder Gruppe. Grundsätzlich gehe es um das gemeinsame taktische Spielen.
Vergleichbar ist Jugger mit kaum einer anderen Sportart. Das liegt möglicherweise auch an seinem speziellen Ursprung: Es stammt aus dem Spielfilm „Die Jugger – Kampf der Besten“ von 1989. Eine Fangruppe aus Heidelberg adaptierte die Regeln aus dem Film Anfang der 1990er-Jahre und gründete die erste deutsche Mannschaft. Der Film spiele in einer postapokalyptischen Welt, erzählt Anne Bollmann aus dem Greifswalder Team, „daher auch das Ding mit dem Hundekopf“ – einige Mannschaften verzieren ihren Jugg filmgetreu als Schädel. Die meisten Gruppen würden mit sowas aber nicht mehr spielen. Man wolle seriöser werden. Und bekannter.
Jugger nur in Greifswald und Rostock
In Meck-Vorp gibt es gerade einmal drei aktive Jugger-Gruppen. Das Greifswalder Team „Die leere Menge“ ist die älteste – 2010 gegründet von Philosophiestudierenden. Heute spielen in Greifswald fast ausschließlich Biochemie- und Biomathematikstudierende.
Anders sieht es in der Rostocker Juggergruppe aus: Dort seien die Studienfächer recht gut durchmischt, sagt Teamleiterin Imke Warnecke. Sie selbst studiert Lehramt. In Rostock gibt es neben der Erwachsenengruppe namens „Likedeeler“ auch eine Kinder- und Jugendgruppe, die „Lödler“. Sie wird von Chemiestudent Jan Heide betreut, der auch Teil des Erwachsenenteams ist.
Weitere Gruppen seien ihnen aktuell nicht bekannt. Ab und zu gebe es noch ein paar Schülergruppen, etwa in Anklam und Stralsund. Auch eine an der Hochschule Neubrandenburg gab es bis vor Kurzem. Die sei aber nicht mehr aktiv, einige Mitglieder jetzt in der Rostocker Gruppe, sagt Jan. Rostocks Jugger sind somit derzeit das größte und international erfolgreichste Team aus Meck-Vorp.
Bei Jugger-Weltmeisterschaft solide abgeschnitten
International? Ja! Weltweit gibt es laut dem International Jugger Council derzeit rund 190 Teams. Sogar Weltmeisterschaften werden ausgetragen, die letzte im September 2021 vor dem Berliner Olympiastadion. Mit 71 Teams aus elf Nationen. Dabei landete „Die leere Menge“ aus Greifswald auf Platz 57, die Rostocker Likedeeler erkämpften sich Platz 37.
Das Gewinnen sei aber eher zweitrangig, sagt Jan Heide. Man freue sich einfach, die anderen Teams wiederzusehen. Das Netzwerk untereinander sei sehr eng. Es gehe eben vielmehr um den Teamgeist. Und Fairness. So wird nur bei Wettbewerben, aber kaum im Training mit Schiedsrichter:innen gespielt. Das Team verlasse sich auf die Ehrlichkeit der Mitspielenden. Deswegen sei Jugger auch eine pädagogisch sehr wertvolle Sportart.
Jugger für ein besseres Sozialverhalten
Neben der Tatsache, dass die Mannschaften bei Jugger gemischt sind, gebe es auch keine Vorteile aufgrund von Fitnesszustand, Größe oder Gewicht, sagt Imke Warnecke. Es geht um Taktik und Teamarbeit. „Wir hatten bei der WM auch einen 15-Jährigen aus der Jugendgruppe dabei“, sagt Jan. Das sei das Schöne: Die Teams seien mit Mitspielern von 14 bis 40 Jahren sehr bunt gemischt. Lehramtsstudentin Imke möchte die Sportart später auch in der Schule als AG anbieten. Mit Jugger könne man spielerisch Teamfähigkeit, Selbstvertrauen und vor allem die Fairness untereinander fördern. Zum Beispiel müsse man auch bei leichter Berührung ehrlich sein und die Strafzeit absitzen, bis man weiterspielen dürfe. Das bestätigt auch Anne aus dem Greifswalder Team. Dort habe es ab und zu schon ein paar Leute gegeben, die eher draufhauen wollten. „Dann will aber keiner mehr mit dir spielen.“ Jugger sehe zwar auf den ersten Blick ziemlich martialisch aus. Letztendlich ist es aber ein Sport für Harmoniesüchtige.
Mehr Selbstvertrauen hat auch Natalie Leutner durch Jugger bekommen. In der Schule habe sie Sport gehasst, vor allem Mannschaftssport, „man wollte halt niemandem zur Last fallen“. Beim Jugger habe sie gemerkt, wie viel Spaß das Spiel im Team machen kann. „Am Anfang habe ich auch lieber mit dem Schild gespielt, so als Verteidigung. Jetzt nehme ich viel lieber den Stab.“
Philipp Lude ist das neueste Mitglied im Greifswalder Team. Vor fünf Monaten kam er dazu. Und auch er war schon mit bei der WM. „Alle Regeln habe ich noch nicht drauf, aber das kommt am besten beim Spielen. Und es macht einfach Spaß.“ Die Verletzungsgefahr sei übrigens auch nicht größer als bei anderen Sportarten, sagt er. Alle Geräte bestehen aus Poolnudeln und Schaumstoff, „die größte Gefahr liegt im Laufen, Stolpern und Hinfallen“.
Das kann dann tatsächlich schmerzhaft werden, besonders jetzt in der Hallensaison, wenn man auf das Linoleum falle, beklagen sowohl das Rostocker als auch das Greifswalder Team. Denn eigentlich sei Jugger ein Draußensport. Aber in der Halle zu spielen sei allemal besser, als gar nicht zu spielen.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 2 von KATAPULT MV.