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Erntesaison in MV

Erdbeerwirtschaft extrem

Von und

Lesedauer: ca. 17 Minuten

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Sommer in Meck-Vorp. Überall findet man Rapsfelder, Wohnmobile und rote Verkaufshäuschen in Form von Erdbeeren. Die meisten davon gehören zu Karls Erlebnisdorf in Rövershagen bei Rostock. Vor etwas mehr als 30 Jahren gründete Inhaber Robert Dahl mit einem Traktor, zehn Hektar Land und 13 Verkaufshäuschen sein heutiges Erdbeerimperium. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen – je nach Saison – bis zu 2.400 Menschen verteilt auf fünf Freizeitparks und etwa 400 Verkaufsstände in Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Sachsen, Brandenburg und Berlin. Ende Mai 2023 bekam der erste Standort in Rövershagen sogar einen eigenen Bahnhof auf der Strecke zwischen Rostock und Graal-Müritz, an dem sich die Deutsche Bahn, das Land MV und Inhaber Dahl finanziell beteiligten.

Die Erfolgsgeschichte von MVs größtem Erdbeerbauern geht aber noch weiter – und expandiert kräftig in alle Teile Deutschlands. Geplant sind – neben bestehenden Karls Standorten bei Magdeburg, Berlin, Lübeck, auf Usedom und auf Rügen – außerdem Standorte in Niedersachsen, im Ruhrgebiet, in Bayern sowie in Sachsen. 

Aber wie baut man ein Unternehmen mit einem jährlichen Umsatz von mehr als 53 Millionen Euro auf Erdbeeren auf? Die Antwort: Tourismus. Etwa 75 Prozent aller Erlöse generiert Karls mittlerweile aus Freizeitparks. Allein in MV besuchen jährlich etwa 3 Millionen Gäste die Erlebnisdörfer von Robert Dahl.

Können konventionelle Erdbeerbauern im Land mit einem so umfangreichen Konzept wie dem von Karls mithalten?

6.000 Tonnen und 3.000 Hände

Der Anbau von Erdbeeren spielt in der Landwirtschaft eine eher untergeordnete Rolle. 2022 haben rund 7.000 Landwirtschaftsunternehmen Gemüse und Erdbeeren in Deutschland angebaut. Erdbeeren wurden in 1.920 Betrieben geerntet – 27 davon in MV. 

Die Früchte sind oft zu empfindlich oder unzugänglich, um Erntemaschinen einzusetzen. Deshalb erfolgt die Erdbeerernte – ähnlich wie bei Spargel, Salat oder Äpfeln – auch im 21. Jahrhundert noch ohne Maschinen. Auch in Rövershagen wird, typischerweise zwischen Mai und August, per Hand geerntet.
Das bedeutet oft: lange Tage, Hitze, unbequeme Haltung und Bezahlung auf Mindestlohnniveau. Landwirtschaftliche Betriebe finden ihre Erntehelfer:innen deshalb häufig im Ausland. Das gilt auch für Karls. Der Großteil der rund 1.500 Erntekräfte kommt aus Rumänien, der Ukraine und Polen. Für die Unterbringung hält das Erdbeerimperium auf dem Betriebsgelände in Rövershagen vier Hostels bereit, die wie Jugendherbergen geführt werden. Von hier aus schwärmen die Erntehelfer:innen täglich auf die Felder aus.

Im Umkreis von sechs Kilometern werden aktuell auf rund 250 Hektar Land Erdbeeren angebaut. Das entspricht etwa 38 Prozent des gesamten Erdbeeranbaus in MV.

Bei Karls wurden zeitweise sogar auf mehr als 400 Hektar Erdbeeren angebaut, berichtet Dahl. Weil sich das Unternehmen aber von Supermarktketten unabhängig gemacht habe, soll die Anbaufläche in Zukunft weiter reduziert werden: „Ich denke, bei 180 Hektar haben wir eine Größe erreicht, die uns auch im schwierigen Markt stabil wirtschaften lässt“, erklärt Dahl.

Im letzten Jahr ernteten die Helfer:innen gut 6.000 Tonnen der Erdbeersorten Flair, Magnum, 1711, Malwina und Murano. Davon wurden etwa 1.500 Tonnen zu Marmelade, Saft, alkoholischen Getränken, Joghurt oder Süßwaren verarbeitet. Der Rest wanderte frisch in den Verkauf. 

Auch Früchte, die in Leipzig oder Berlin über die Erdbeertheken gehen, stammen von den Rövershäger Feldern. Das ist logistisch natürlich aufwendig. „Um im Wettbewerb zu bestehen, setzen wir auf Sorten, die vielleicht einen etwas geringeren Ertrag haben, aber besser schmecken als die importierten Erdbeeren“, verrät Karls-Gründer Dahl. Die Herausforderung: Je süßer die Früchte, desto weicher und empfindlicher. Deshalb werden Karls Erdbeeren auch fast ausschließlich in den Erlebnisdörfern oder Erdbeerhäuschen vertrieben. Auch wenn der Transportweg – beispielsweise nach Leipzig – bis zu 380 Kilometer lang sein kann.

Abgesteckte Erdbeerzonen

Der Erdbeerhof Glantz – zweitgrößter Erdbeerproduzent im Land – verfolgt hier eine andere Strategie. In Hohen Wieschendorf in der Nähe von Wismar bewirtschaftet Inhaber Enno Glantz insgesamt 380 Hektar, neben Weihnachtsbäumen, Zuckerrüben und Getreide auch Erdbeeren auf etwa 130 Hektar. Weitere Flächen gehören ihm in Delingsdorf. Mit seinen Anbau- und Verkaufsstandorten in Schleswig-Holstein und MV ist Glantz gut ausgelastet, rund um Hamburg sogar Marktführer, sagt er. In der Hauptsaison beschäftigt er etwa 900 Mitarbeiter:innen, darunter 300 aus Polen und der Ukraine.
Ob er weiter wachsen will? „Nein“. Für ihn endet das „Frischesiegel“ für Erdbeeren bei rund 80 Kilometern um die Anbaufläche. Weiter liefere er nicht aus. Auch das Kostenwachstum sei derzeit einfach zu hoch, um sein Unternehmen noch zu vergrößern. Außerdem gebe es, was Ackerflächen angehe, „keinen weißen Fleck mehr“. 

Spricht man ihn auf Robert Dahl und seinen Erdbeerhof an, findet er nur gute Worte: Man kenne und schätze sich gegenseitig. „Seine Erdbeeren schmecken auch“, schmunzelt er. Als Konkurrenten sieht er ihn nicht. Sie würden in verschiedenen Gegenden agieren. Laut Glantz  überschneiden sich die Anbauregionen auch nicht. Gab es Absprachen zur Aufteilung? Auch nicht, sagt Glantz, räumt aber ein, dass „es schon gesund ist, im Land als Unternehmen der gleichen Branche so aufgestellt zu sein“. Aktuell bauen die anderen 25 Betriebe in MV übrigens auf insgesamt 278 Hektar ihre Erdbeeren an.

Für alle Erdbeeranbauer:innen im Land gilt: Die Ernte ist abhängig vom Wetter und vom Reifegrad der Früchte. Was reif ist, muss vom Feld, bevor es schlecht wird. Und was geerntet wurde, muss verarbeitet oder verkauft werden, bevor es verdirbt. Gut für das Geschäft, aber schlecht für das Überstundenkonto?

Zwiespältiges Angestelltenverhältnis

Auf der Jobbewertungsplattform Kununu hat Karls aktuell 103 Bewertungen von aktuellen Mitarbeiter:innen und ehemaligen Angestellten. Diese haben das Unternehmen in den Kategorien Karriere und Gehalt, Unternehmenskultur, Arbeitsumgebung und Vielfalt bewertet. Vergeben werden jeweils ein bis fünf Sterne. Mehr Sterne bedeutet bessere Bedingungen. 

Die Gesamtbewertung von Karls liegt mit 3,2 Sternen nur knapp unter dem Kununu-Durchschnitt von 3,38 Sternen. Die Meinungen über das Unternehmen gehen dennoch stark auseinander. Die Spanne der Gesamtbewertungen reicht ebenfalls von einem bis zu fünf Sternen. Einige Bewertungen werfen dem Unternehmen unter anderem hohe Arbeitsbelastung, viele Überstunden und schlechte interne Kommunikation vor. Andere hingegen loben Karls für flache Hierarchien, Chancengleichheit und gute Arbeitsatmosphäre. Aber sind solche Bewertungen eigentlich glaubwürdig?

Kununu ist eine der größten Plattformen dieser Art. Allein zwischen September 2022 und Februar 2023 haben 5,2 Millionen Menschen in der Europäischen Union die Website genutzt. Um die Glaubwürdigkeit der Bewertungsplattform zu gewährleisten, arbeitet Kununu mit einem mehrstufigen Prüfverfahren. Hier untersuchen Algorithmen und Servicemitarbeiter:innen die eingehenden Bewertungen vor Veröffentlichung. 

Erscheint eine Bewertung unseriös, werden die Verfasser:innen kontaktiert und eine Bewertung wird gegebenenfalls nicht veröffentlicht. Etwa 15 Prozent aller eingegangenen Bewertungen hat die Plattform aufgrund von Auffälligkeiten bislang nicht veröffentlicht. 

Spannend ist: Arbeitgeber:innen haben auf Kununu die Möglichkeit, Stellung zu beziehen und sich zu den veröffentlichten Bewertungen zu äußern. Bis Redaktionsschluss hat Karls keine Bewertung kommentiert. 

Geschäftsführer Dahl berichtet allerdings, dass alle Mitarbeiter:innen über eine betriebsinterne App die Möglichkeit haben, eine „Nachricht an Robert“ zu schicken, um auf Probleme aufmerksam zu machen oder Frust auszudrücken. Für Dahl eine gute Möglichkeit, schnell auf Missstände zu reagieren und für mehr Zufriedenheit zu sorgen.

Der Erdbeerhof Glantz hat übrigens nur zwei Bewertungen auf der Plattform. Die Durchschnittsbewertung liegt hier bei 2,2 Sternen. Andere Kununu-Beispiele aus MV sind die Ostseesparkasse mit 125 Bewertungen und einem Durchschnitt von 4 Sternen, die Universitätsmedizin Greifswald mit 67 Bewertungen und einem Durchschnitt von 3,5 Sternen oder aber Optimal Media aus Röbel mit 50 Bewertungen und einem Durchschnitt von 2,9 Sternen.

Erdbeer-Life-Balance

Um einen besseren Eindruck von der Arbeit im Erdbeerimperium zu bekommen, hat KATAPULT MV mit ehemaligen und aktuell beschäftigen Mitarbeiter:innen gesprochen. Martin (Name von der Redaktion geändert) war mehrere Jahre als Büroassistenz im Erntebüro tätig. Er berichtet, dass es Phasen gab, in denen er 300 Stunden im Monat gearbeitet hat: „Es gab keinen offiziellen Dienstplan. Aber in der Ernte musste man mindestens seine zehn Stunden anwesend sein, da sonst viel zu wenig Mitarbeiter im Büro wären.“ 

Franziska (Name ebenfalls geändert) hingegen ist aktuell als Verkäuferin auf geringfügiger Basis angestellt und hat bislang noch keine Erfahrungen mit Überstunden gemacht: „Nach dem Erreichen meiner Stunden wurde ich bisher für keine weiteren Schichten eingeteilt.“ Die Kommunikation mit Vorgesetzten läuft hierbei hauptsächlich über den Messenger Whatsapp oder die betriebsinterne App.

Geschäftsführer Robert Dahl berichtet, dass die Überstunden in den letzten Jahren abgenommen hätten: „Ich bin mir sicher, dass wenn Personen keine Überstunden machen möchten, sie auch keine machen müssen und keinerlei Nachteile dadurch erfahren.“
Fällt trotzdem Mehrarbeit an, werde diese in der Regel ausgezahlt. Zeitlicher Ausgleich sei eher selten. Das bestätigt auch der ehemalige Büroassistent Martin: „Überstunden konnte man sich auszahlen lassen oder über sein Stundenkonto sammeln. Ausgleich gab es keinen.“

Akkordarbeit ist grundsätzlich ein Aspekt, der bei der Bezahlung von Saisonarbeiter:innen in der Landwirtschaft nach wie vor problematisch ist. Das bestätigen sowohl die Gewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt als auch die Beratungsstelle Correct! Arbeiten in MV, die sich im Bundesland für die Arbeitnehmerrechte ausländischer Beschäftigter einsetzten. 

Das vierköpfige Beratundsteam will unter anderem auch Saisonkräften, wie Erntehelfer:innen über ihre Rechte aufklären. Dazu suchen sie regelmäßig deren Unterkünfte und Arbeitsorte auf, verteilen Infozettel und bieten Gespräche in mehreren Sprachen an.

Ihr Fazit zum Thema Arbeitszeiten: Die Diskrepanz zwischen der eigenen Dokumentation der geleisteten Stunden und der vom Arbeitgeber erfassten sei hoch, sagt Geschäftsführerin Stefanie Albrecht. 

In einigen Unternehmen in MV seien die Lohnabrechnungen nach wie vor in Exceltabellen aufgelistet – „mit Rechnungen, die zum Teil sehr undurchsichtig sind“. Ein großes Problem sei zudem, dass Löhne für Saisonarbeiter:innen in der Regel erst am Ende ihrer Arbeit ausgezahlt werden. „Wenn sie dann einen Tag vor Abreise Fehler in ihrer Abrechnung feststellen, bleibt kaum Zeit, dagegen noch anzugehen“, so Albrecht. Im Heimatland dann noch Einspruch zu erheben, sei mit großem Aufwand verbunden. Auch Gerichtskosten würden viele ehemalige Arbeitskräfte scheuen. 

Beschwerden, die an sie und ihr Team herangetragen werden, gibt es in allen landwirtschaftlichen Branchen – „ob Kartoffelanbau, Spargel, Äpfel oder eben auch Erdbeeren“. Statistische Zahlen erheben sie nicht, betont sie. Aber diejenigen, die sich an die Beratungsstelle wenden, berichten grundsätzlich über Praktiken in den jeweiligen Betrieben, die alle oder zumindest einen Großteil betreffen. Darunter fallen zum Beispiel auch Schwierigkeiten mit Urlaubszahlungen und Krankenversicherungen.

Druckstellen im Erntesystem

Saisonarbeitskräfte, die drei Monate angestellt sind, haben einen Urlaubsanspruch von sechs Tagen. Einige Unternehmen würden diese nicht zahlen. „Das sind 500 Euro Urlaubsentgelt pro Arbeitskraft“.

Das sei auch im Erdbeeranbau so, egal wie groß der Betrieb sei, berichtet Albrecht. Nach Gesprächen mit der Gewerkschaft 2021 habe Geschäftsführer Dahl bei Karls die Regelungen in den Arbeitsverträgen geändert, sodass Urlaubsansprüche nun festgeschrieben sind. Das Problem dabei: Da man in Akkordarbeit immer noch mehr verdiene, werden Urlaubstage nicht immer genutzt. Urlaubsentgelte blieben aber weiterhin aus. „Man könnte das jetzt anfechten, aber dazu bräuchte es betroffene Menschen, die uns das melden“. Und genau da sind die Grenzen der Beratungsstelle. Wenn sich niemand meldet, sind ihnen die Hände gebunden. Über die Jahre sei der Mut der Saisonarbeiter:innen schon größer geworden, aber die Unsicherheiten verstehe sie dennoch. Immerhin hänge der eigene Arbeitsplatz daran, auf den die meisten stark angewiesen seien. 

Brisant ist noch ein weiterer Punkt, den Beratungsstellen deutschlandweit immer wieder an Gewerkschaften und Politik herantragen: die Krankenversicherungen für Saisonarbeitskräfte. Wenigstens sei diese mittlerweile gesetzlich vorgeschrieben, so Albrecht. „Vor ein paar Jahren gab es noch gar keinen Schutz, bis sich die Gewerkschaften eingeschaltet haben.“ Was jedoch vielen nicht bewusst sei: Es handelt sich meist um sogenannte Gruppenkrankenversicherungen, die der oder die Arbeitergeber:in für alle Angestellten über einen bestimmten Zeitraum abschließt. Tägliche Kosten pro Arbeitskraft: 52 Cent. Das decke gerade mal das Nötigste ab. Beispielsweise besteht Anspruch auf Krankengeld, bei manchen Verträgen jedoch erst nach den ersten vier Arbeitswochen. Nicht enthalten seien Vorsorgeleistungen oder nachträglich anfallende Kosten bei Folgeschäden eines Arbeitseinsatzes. Da die Versicherung über das jeweilige Unternehmen laufe, blieben Saisonarbeiter:innen in einer starken Abhängigkeit – auch im Krankheitsfall. 

Das bestätigt auch die Gewerkschaft IG Bau: So habe die 2022 eingeführte arbeitgeberseitige Meldepflicht zur Krankenversicherung die Situation der Saisonbeschäftigten zwar verbessert, Beratungsstellen aber hätten deutschlandweit eine Vielzahl von Lücken aufgedeckt: Zum Beispiel bekämen Beschäftigte vom Arbeitgeber oftmals keinen Nachweis ausgehändigt. Die Behandlung chronischer Krankheiten sei darin nicht abgedeckt. Im Vergleich zu einer gesetzlichen Krankenkasse würden viele Leistungen einfach fehlen.

Im Jahresbericht wird zudem eine „für MV typische Praxis“ aufgeführt: Bei Krankmeldungen würden Mitarbeitende der Betriebsleitung zunächst über eine etwaige Notwendigkeit eines Arztbesuchs entscheiden. Bei Fieber und stärkeren Schmerzen wurde mehrfach Paracetamol ausgehändigt, ein Arzt sollte nicht aufgesucht werden – sie sollten „ein paar Tage abwarten“. Dies wurde als Urlaub ohne Lohnfortzahlung gezählt, wobei die Miete für die Unterkunft weiterhin zu bezahlen war.

Sticht ein Betrieb besonders positiv oder negativ heraus, fragen wir. „Nein. Kein einziger ist wirklich umfänglich positiv“, bilanziert Stefanie Albrecht, deren Beratungsstelle Correct! ihren Hauptsitz in Schwerin hat. Um künftig agiler im Land zu sein, sind mittlerweile auch Anlaufstellen in Rostock und Neubrandenburg eingerichtet worden. So können sie für Betroffene von Ungerechtigkeiten im Arbeitsbereich schneller erreichbar sein. Denn im Sozialen gebe es noch viele Diskussionen zu führen. Über die Jahre habe sich ein Umgang etabliert, der bis heute eine Unterscheidung zwischen Arbeitnehmer:innen aus Deutschland und aus dem Ausland schafft. Das werde auch in einigen Betrieben in MV latent oder deutlich kommuniziert, heißt es auch von der Gewerkschaft IG Bau. Ganz unten stehen dabei die ausländischen Saisonarbeitskräfte. Albrecht erinnert: „Dabei zahlen besonders sie einen hohen Preis: Sie arbeiten hart, unter starken Witterungsverhältnissen, unter Leistungsdruck und für viele auch noch über mehrere Monate getrennt von ihren Familien. Und dann werden sie nur mit dem Mindestlohn dafür bezahlt“, sagt sie, „Würde man das selbst alles in Kauf nehmen?“ 

Auch die Gewerkschaft IG Bau musste in ihrem Jahresbericht für 2022 Problembereiche wie intransparente Dokumentation der Arbeitszeit, Abzüge vom Lohn, mangelnder Krankenversicherungsschutz sowie Hitzestress und UV-Strahlung erneut als besonders relevante und bisher ungelöste Herausforderungen anprangern. „Schon lange gibt es einen Fokus auf die Qualität von Lebensmitteln, aber leider nicht auf die Bedingungen in der Produktion“, heißt es vom stellvertretenden Regionalleiter Region Nord, Dirk Johne. „Corona war hier wie ein Brennglas und hat seit 2020 einiges vorangebracht“. Bevor sich Gesundheits- und Ordnungsämter, Ordnungsbehörden und Initiativen im Zuge der Coronapandemie aus hygienischen Gründen um die Situation von Saisonarbeitskräften in der Landwirtschaft kümmern mussten, gab es viele blinde Flecken. Noch immer sei aber noch nicht alles geklärt. 

Für weitere mögliche Gesetzesänderungen im Umgang mit Arbeitskräften sei noch viel Arbeit und vor allem Hinschauen nötig.

Produktion noch nicht ausgereift

Erst Anfang 2023 warnte der Deutsche Bauernverband vor einem Schwund des Erdbeeranbaus in Deutschland. Die Kosten für viele landwirtschaftliche Betriebsmittel steigen und der gesetzliche Mindestlohn wurde im Oktober 2022 bundesweit auf 12 Euro erhöht. Die größte Konkurrenz für regionale Erdbeerbauern seien allerdings Importfrüchte: „Natürlich ist der Wettbewerb mit Erdbeeren aus Marokko, Griechenland, Spanien oder Polen groß“, erklärt Karls Geschäftsführer Dahl, „Dort sind die Mindestlöhne zum Teil sehr niedrig oder schlicht nicht vorhanden.“ 

Das ärgert auch Enno Glantz. Mindestlohn für Saisonarbeiter:innen sei auch ihm wichtig, betont er. Jedoch sieht er mit Blick auf das Nachbarland Polen auch die wirtschaftlichen Herausforderungen. Der Mindestlohn dort liegt bei etwa 5 Euro, erzählt er. Natürlich sei es dann für Saisonkräfte attraktiver, in Deutschland zu arbeiten. Für den Arbeitgeber aber verursache das höhere Personalkosten, die sich auch auf den Verkaufspreis auswirken. Mit dem steigenden Preisdruck auf dem globalisierten Markt sei da wirtschaftlich schwer zu konkurrieren. So sieht es auch Martin Piehl, Hauptgeschäftsführer des Bauernverbands Mecklenburg-Vorpommern: „Die Diskrepanz des Mindestlohns im europäischen Markt führt dazu, dass Erdbeeren in Deutschland nicht zu gleichen Wettbewerbsbedingungen wie in anderen Ländern produziert werden können“, beschreibt er die Situation. 

In Rövershagen erhalten die Erntehelfer:innen laut Dahl zu den vorgeschriebenen 12 Euro zusätzlich einen leistungsbezogenen Zuschlag, sodass der durchschnittliche Stundenlohn für Saisonkräfte in diesem Jahr etwa 17 Euro betragen würde.

Im Vergleich zu anderen Anbauer:innen hat er noch einen weiteren, progressiven Schritt für Saisonkräfte unternommen: Er umgeht die Vermittlungsgebühren für ausländische Mitarbeitende. Grundsätzlich werden Saisonarbeitskräfte aus dem Ausland über Agenturen vermittelt. Im Fall von Polen verlangen diese bis zu 300 Euro, für Arbeitskräfte aus der Ukraine verlangen sie 350 Euro Vermittlungsgebühren pro Person. „Das wurde dann vom Lohn abgezogen, davon hatten sie selbst nichts“, erklärt Gewerkschaftsmitglied Johne. Bei Karls können sich Arbeitswillige aus dem Ausland nun direkt bewerben und so die Vermittlungskosten von Agenturen umgehen. „Dahl ist hier einen Schritt vorausgegangen“, betont auch Albrecht. 

Der 52-jährige Geschäftsmann hat außerdem damit begonnen, Erdbeeren auch auf Hochbeeten anzupflanzen: „Wir tüfteln an Anbauverfahren, bei denen die Erdbeeren auf 130 Zentimeter Höhe wachsen. Das Ernten im Stehen ist wesentlich angenehmer und die Erdbeeren hängen frei in der Luft. Dadurch entstehen auch weniger Verluste durch Druckstellen oder Fäulnis.“ Das seien auf jeden Fall Vorteile für Mitarbeitende, aber man dürfe auch den wirtschaftlichen Aspekt nicht ausblenden, sagt Gewerkschaftsmitglied Johne. Natürlich gewinne auch Karls daran und verwies auf 35 Prozent mehr Ertrag, wenn es weniger Fäulnis und Druckstellen gibt. Dahl ergänzt: „Wir denken, es könnte so gelingen, auch bei steigenden Kosten den regionalen Anbau zu erhalten.“ Eine Win-win-Situation?

Grüne Ideen für rote Früchte

Die Karlsianer – so bezeichnet das Erdbeerimperium übrigens seine Angestellten – haben also viele Ideen, um Arbeitsbedingungen und Anbau zu verbessern. Aber wie sieht es mit Ideen aus, den ökologischen Abdruck zu verbessern?

Um Karls möglichst klimafreundlich zu betreiben, wurden etwa 3 Millionen Euro in Photovoltaikanlagen investiert, die Strom für den Eigenbedarf produzieren. Ziel ist es, die Standorte zu 100 Prozent mit selbst erzeugtem Strom zu versorgen. Solange das noch nicht der Fall ist, bezieht das Unternehmen ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energien.
Außerdem werden bei Karls vorwiegend Wärmepumpen und Mehrweggeschirr genutzt. Auch die Felder werden ausschließlich mit Regenwasser bewässert. Die Verwaltung druckt über ihre Computer standardmäßig doppelseitig, Angestellte dürfen sich Reste aus der Gastronomie mitnehmen, damit diese nicht weggeschmissen werden. Klingt grün. Klingt toll.

Allerdings gibt es mehrere Stimmen auf Kununu, die anderes behaupten. In einer Bewertung ist zu lesen, dass eine ehemals beschäftigte Person mehrere Müllsäcke gefüllt mit frischen Brötchen und Kuchen entsorgen musste, weil die Ware nicht verkauft wurde. Ebenso würde das Unternehmen täglich große Mengen Plastikmüll produzieren. 

Martin, der ehemalige Büroassistent, kritisiert außerdem: „Jeden Tag werden hunderte LKW von Rövershagen bis Flensburg oder Leipzig gefahren.“ Bei 400 Verkaufsstellen und  mindestens vier Monaten Erntesaison kommen Tausende Kilometer zusammen. Um die Logistik zu optimieren, nutzt Dahl intelligente Software für die Routenplanung. So soll Kraftstoff gespart werden. Zusätzlich wird die Flotte der Elektrofahrzeuge ausgebaut. Der neue Bahnhof nahe Rövershagen soll für Mitarbeitende außerdem eine Möglichkeit darstellen, ohne Autos zur Arbeit zu kommen. 

Alles innovative Ideen, mit denen Dahl aus Meck-Vorp versucht, voranzugehen. Eine Chance für den Verbleib von Erdbeeren auf regionalen Feldern? Möglich. Je nachdem, wie sich die anderen Parameter aus Wirtschaft, Gesetzgebung und Witterung weiter entwickeln. Die diesjährige Erdbeersaison sei mittelmäßig und zieht sich noch bis in den August. Ansonsten – so beschreibt es der Erdbeerkönig selbst – hat er neben der Landwirtschaft mit seinen Freizeitparks ja noch ein festes Standbein im Tourismussektor. Damit verdiene er das Geld. Mindestens als Attraktion wird die Erdbeere aus MV erstmal nicht verschwinden.  

Einen kritischen Blick auf die soziale Komponente muss aber auch er sich, wie alle Landwirtschaftsbetriebe, weiterhin gefallen lassen.

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 22 von KATAPULT MV.

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Fußnoten

  1. Karls (Hg.): Karls Geschichte, auf: karls.de.
  2. Deutsche Bahn (Hg.): Neuer Bahnhof in Rövershagen eröffnet, auf deutschebahn.de (26.5.2023).
  3. Karls (Hg.): Standorte, auf: karls.de.
  4. North Data (Hg.): Karls Tourismus GmbH, auf: northdata.de (8.5.2023).
  5. Graf, Alexander: Die unglaubliche Geschichte von Karls Erdbeerhof, auf: kassenzone.de (21.9.2019).
  6. Ebd.
  7. Landwirtschaftsministerium MV (Hg.): Erdbeeren aus MV sind köstlich und sicher, auf: regierung-mv.de (11.7.2023).
  8. Bundesinformationszentrum Landwirtschaft (Hg.): Warum benötigt die Landwirtschaft so viele ausländische Saisonkräfte?, auf landwirtschaft.de (5.6.2023).
  9. Deutschlandfunk Kultur (Hg.): Das Geschäft mit der Saisonfrucht, auf: deutschlandfunkkultur.de (11.6.2017).
  10. Ebd.
  11. E-Mail von Robert Dahl vom 9.7.2023.
  12. Ebd.
  13. Ebd.
  14. Landwirtschaftsministerium MV (Hg.): Erdbeeren aus MV sind köstlich und sicher, auf: regierung-mv.de (11.7.2023).
  15. E-Mail von Robert Dahl vom 10.7.2023.
  16. Ebd.
  17. Karls (Hg.): Karls Erdbeersorten, auf: karls.de.
  18. Graf, Alexander: Die unglaubliche Geschichte von Karls Erdbeerhof, auf: kassenzone.de (21.9.2019).
  19. Karls (Hg.): Erdbeerfinder, auf: karls.de.
  20. Telefonat mit Enno Glantz am 6.7.2023.
  21. Telefonat mit Enno Glantz am 6.7. 2023.
  22. Kununu (Hg.): Karls Erlebnis-Dorf, auf kununu.com.
  23. Kununu (Hg.): Die meisten DAX30 können Kritik, auf kununu.com (8.8.2019).
  24. Kununu (Hg.): Karls Erlebnis-Dorf, auf kununu.com.
  25. Kununu (Hg.): Wie verdient Kununu Geld?, auf: kununu.com.
  26.  Kununu (Hg.): Unser Prüfprozess für authentische Bewertungen, auf: kununu.com.
  27. Telefonat am 12.7.2023.
  28. Bula, Niels: Viele Erntehelfer ohne Krankenversicherung, auf: mdr.de (20.3.2023).
  29. Initiative Faire Landarbeit (Hg.): Saisonarbeit in der Landwirtschaft. Bericht 2022, S. 6.
  30. Ebd.
  31. Initiative Faire Landarbeit (Hg.): Saisonarbeit in der Landwirtschaft. Bericht 2022, S. 29.
  32. Initiative Faire Landarbeit (Hg.): Saisonarbeit in der Landwirtschaft. Bericht 2022, S. 23.
  33. Klas, Sarah: Steigende Kosten in der Landwirtschaft: Sind Spargel und Erdbeeren aus MV bald Geschichte?, auf: ostsee-zeitung.de (20.2.2023).
  34. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (Hg.): Ausgaben der Landwirtschaft
  35. Handelsblatt (Hg.): Wie sich der Mindestlohn in Deutschland bislang entwickelt hat, auf: handelsblatt.com (27.6.2023).
  36. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (Hg.): WSI-Mindestlohnbericht 2023, S. 7.
  37. E-Mail vom Bauernverband MV vom 5.7.2023.
  38. E-Mail von Robert Dahl vom 10.7.2023.
  39. Karls (Hg.): Stromeinsparungen und grüner Strom, auf: karls.de.
  40. Kununu (Hg.): Karls Erlebnis-Dorf: Arbeitsklima grauenhaft, auf kununu.com (Februar 2023).
  41. Graf, Alexander: Die unglaubliche Geschichte von Karls Erdbeerhof, auf: kassenzone.de (21.9.2019).

Autor:innen

Redaktionsleitung bei KATAPULT MV.

Ist in Greifswald geboren, hat in Augsburg studiert und zog für den Lokaljournalismus wieder zurück nach Meck-Vorp.

Geboren in Vorpommern, aufgewachsen in Mecklenburg. Einziger KATAPULT-Redakteur mit Traktorführerschein UND Fischereierlaubnis. Layouter und Chefredakteur.

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