Wenn Martin Sellner ruft, kommen sie alle. Über seinen Telegram-Kanal kündigte er Anfang Februar eine Lesereise durch fünf deutsche Städte an.1 Der genaue Veranstaltungsort in Elmenhorst bei Rostock blieb dabei bis kurz vor dem Termin am 28. Februar geheim.
Wer ist Martin Sellner?
Der Österreicher ist der führende Kopf der sogenannten Identitären Bewegung (IB). Die Organisation wird vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft.2 Sellner gilt als ein Vordenker der europäischen Rechtsextremen. Sein Ziel ist unter anderem der Aufbau einer jungen rechten Elite. Weg von Schlägertrupps in Springerstiefeln, hin zu Intellektuellen mit rechtsextremem Gedankengut.3
Besonders relevant sind seine Ideen im Bereich der Metapolitik. Der Begriff beschreibt eine gesellschaftliche Einflussnahme, die sich nicht an Wahlen oder konkreter Parteipolitik orientiert. Vielmehr geht es um ein Verschieben der Kultur und des gesellschaftlichen Diskurses nach rechts.4 Ein Beispiel dafür ist die Umdeutung des Begriffs „Remigration“. Er stammt ursprünglich aus der Migrationsforschung und bezeichnet dort die freiwillige Rückkehr in das Herkunftsland. Inzwischen wird er aber von Rechtsextremen wie Sellner verwendet, um die massenhafte Vertreibung von Menschen mit Migrationsgeschichte unabhängig von der Staatsbürgerschaft zu beschreiben.5 Anfang 2025 nahm die AfD den Begriff in ihr Programm zur Bundestagswahl auf. In seinem Vortrag bezeichnet Sellner das als „Glanzlicht der AfD-Wahlkampfkampagne“.6 Auch das Buch, aus dem Sellner in Rostock las, trägt den Titel Remigration.
Der Österreicher betont immer wieder, dass seine Bewegung an friedlichem Protest interessiert sei. Bei seinem Vortrag in Rostock allerdings sagte er, dass für Remigration auch Zwang angewendet werden müsse. Sellner selbst schreckt ebenfalls vor Gewaltanwendung nicht zurück. 2017 schoss er in einer Wiener U-Bahn mit einer Schreckschusspistole um sich – nach eigener Aussage zur Selbstverteidigung.7

Die geheime Lesung
Um an der Lesung des Rechtsextremisten teilnehmen zu können, war eine Anmeldung per E-Mail nötig. Daraufhin erhielten die Teilnehmenden Informationen zu einem Treffpunkt. Auf einem Parkplatz der S-Bahnhaltestelle Lütten Klein sammelten sich am späten Nachmittag des 28. Februar dann rund 20 Personen. IB-Aktivist Hannes Krünägel aus MV teilte dort den Besucher:innen den eigentlichen Veranstaltungsort mit. Mit mehreren Fahrzeugen fuhren die Teilnehmenden schließlich zu einer Event-Location in Elmenhorst. Dort hatte bereits Ende 2024 die AfD-Kreistagsfraktion Rostock ihre Klausurtagung abgehalten.8
Sellners Ideen für einen rechtsextremen Kulturwandel sind offenbar für mehrere rechte Gruppen interessant. Einige Besucher:innen hatten aber augenscheinlich kein Interesse daran, dass ihre Teilnahme an der Veranstaltung bekannt wird und forderten die Löschung entsprechender Fotos. Andere hingegen posierten selbstbewusst für die Kamera.
IB-Aktivist:innen aus dem Norden
Neben Krünägel war auch Daniel Funke – Mitbegründer des rechtsextremen Vereins Neustart Kranichland – vor Ort. Gemeinsam mit einem dritten Aktivisten der Identitären Bewegung9 posierten sie mit dem sogenannten „White Power“-Zeichen. Die abgespreizten Finger symbolisieren ein W, während Daumen und Zeigefinger ein P bilden. Die Geste, die je nach Kontext auch „alles in Ordnung“ bedeuten kann, wurde unter anderem von Brandon Tarrant umgedeutet. Der Rechtsterrorist tötete in Neuseeland 51 Menschen bei einem Anschlag auf eine Moschee.10 Vorher bekundete er seine Sympathien für die Ideologie der Identitären Bewegung und spendete sogar an Sellner.11 Funke und Krünägel stellen sich mit ihrer Geste also in diese Tradition.

Kommunalpolitiker der AfD
Obwohl sich die Identitäre Bewegung auf der Unvereinbarkeitsliste der AfD befindet – Personen aus der Bewegung also keine Parteimitglieder werden dürfen12 –, stehen sich beide Gruppen in MV nah. Ein führender IB-Aktivist arbeitet sogar für die Landtagsfraktion.13 Darum ist es nicht verwunderlich, dass auch Kommunalpolitiker der extrem rechten Partei zur Lesung kamen. Einer von ihnen: Robert Haß, stellvertretender Fraktionschef der AfD im Kreistag Rostock14 und gescheiterter Bürgermeisterkandidat in Laage (Landkreis Rostock)15. Auch der Graffitikünstler Christian Boldt war vor Ort. Der AfD-Lokalpolitiker hat eine Vergangenheit in der Jugendorganisation der NPD und in der rechtsextremen Burschenschaft Redaria-Allemannia. 2024 kandidierte er für die Rostocker Bürgerschaft.16


Aus Brandenburg reiste Henry Preuß an. Er sitzt für die AfD in der Stadtverordnetenversammlung von Neuruppin. Im letzten Jahr entzog ihm die Landessynode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz seine Ämter in der Gemeinde, weil sie eine Kandidatur für die AfD als unvereinbar mit dem Selbstverständnis der Kirche empfand.17

Auch der ehemalige AfD-Politiker Holger Arppe präsentierte seine Teilnahme stolz auf seinem Telegram-Profil.18 Arppe war 2018 aus der Partei geflogen19, nachdem bekannt geworden war, dass er in Chatgruppen zum Mord an Linken aufrief und pädophile Vergewaltigungsfantasien verbreitete.20 Sellners Vortrag in Rostock bezeichnete er als „inspirierend“.
Gewaltaffine NPDler
Besonders intensive Kontakte in die gewaltbereite rechte Szene pflegt wohl der Lesungsbesucher Marcel Prätorius. 2022 wurde seine radikale Vergangenheit publik, als er für eine Führungsposition im Rostocker Gesundheitsamt gehandelt wurde. So soll er Teil von NPD-Strukturen gewesen sein und war Ordner beim neonazistischen Trauermarsch in Dresden. Außerdem habe er Kontakt zur Nazi-Hooligan-Gruppe Nordische Wut in Rostock und zur Rockergruppe East Coast Brotherhood Rostock.

Ebenfalls Teil von NPD-Strukturen und in Elmenhorst vor Ort war Andreas Kolb. Der Dortmunder war Teil des Bundesvorstandes der NPD-Jugendorganisation Junge Nationalisten. Außerdem ist er Kampfsportler und nahm an mehreren rechtsextremen Kampfsportevents wie dem Kampf der Nibelungen teil.21 Die Veranstaltung gilt als größte in der Szene.22

Weniger gewaltaffin, dafür mit Beziehungen zur rechtsextremen Burschenschaft Rugia Greifswald, ist Max Bartusch. Der Anwalt verteilte 2012 Flyer für die NPD, tauchte immer wieder im Zusammenhang mit der rechtsextremen Partei auf und nahm an einem „Trauermarsch“ in Demmin teil. Bei der Demo treffen sich jedes Jahr am 8. Mai Neonazis aus der ganzen Bundesrepublik.

Vernetzungstreffen bleibt nicht unbeantwortet
Das Treffen in Elmenhorst zeigt deutlich, wie vernetzt die rechtsextreme Szene in Mecklenburg-Vorpommern ist. Deutlich wurde aber auch, dass die Zivilgesellschaft trotz der Geheimhaltung Proteste organisieren kann. Im Laufe der Veranstaltung formierte sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine lautstarke Demonstration. Die Polizei sprach von bis zu 37 Teilnehmenden.23 Ob es sich dabei um eine Spontanversammlung handelte oder ob die Demo vorher bei der Versammlungsbehörde hätte angemeldet werden müssen, klärt nun die Polizei.24
