Integration

Musik über Bürokratie

Olena Radiyevska und Olga Zernaieva mussten mit Beginn des Krieges aus der Ukraine fliehen. Nach Monaten haben sie in Greifswald nun Arbeit in der Musikschule am Wall gefunden. Entgegen ersten Erfahrungen in Deutschland gelang das ganz unkompliziert. So können sie sogar wieder ihren erlernten Beruf ausüben.

Schon länger hatte die Musikschule am Wall in Greifswald neue Lehrer:innen gesucht, vor allem für den Klavierunterricht. Momentan kommen in der privaten Einrichtung 267 Schüler:innen auf 16 Lehrende. Und der Bedarf steigt weiter.

Über Kontakte aus der Stadt haben sie an der Schule von Olena Radiyevska erfahren, die im Frühjahr aus der Ukraine geflüchtet ist. Schon länger hatte die ausgebildete Pianistin und Dirigentin Arbeit gesucht. So wurde die Idee schnell in die Tat umgesetzt, erzählt Leiterin Jacoba Arekhi-Putensen. Seit Mai ist Radiyevska dabei und betreut mittlerweile zwölf Schüler:innen.

Klavier zur Beruhigung

Radiyevska kommt aus der Millionenstadt Charkiw im Osten der Ukraine. Als im Februar Bomben auf die Stadt fielen, setzte sie sich an ihr Klavier. „Ich habe Bach gespielt, etwas anderes konnte ich nicht tun, damit ich nicht komplett durchdrehe“, erinnert sie sich. Ihre Familie und viele ihrer Freund:innen seien noch dort, erzählt sie. Täglich wird telefoniert, vor allem, seit es wieder vermehrt Angriffe auf die Stadt gibt.

Die 40-Jährige ist dankbar, hier sein zu können. Die Umstände seien furchtbar, aber in Deutschland könne sie ein Stück ihres Alltags zurückbekommen, Musikerin sein und ihr Wissen weitergeben, erzählt sie.

Kurz nach der russischen Invasion kam Radiyevska im März nach Greifswald. Behörden und Jobcenter konnten ihr auf der Suche nach einer Arbeit nicht helfen, erzählt sie. Die digitalen Angebote für Ukrainer:innen konnten nur wenige ihrer Fragen beantworten. Sofern man ein bisschen Englisch spreche, sei es möglich, irgendwie vorübergehend Arbeit zu finden, ansonsten sei häufig die Sprachbarriere ein Ausschlusskriterium. So hat die Pianistin eigenständig versucht, eine Stelle zu finden. Über Benefizkonzerte und erste Kontakte in der Stadt lernte sie Jacoba Arekhi-Putensen und ihren Mann Johann Putensen von der Musikschule am Wall kennen.

„Es passte musikalisch und menschlich“, erzählt Arekhi-Putensen. Und die Nachfrage bestätigt es: Zwölf Schüler:innen betreut sie derzeit. Sie sind zwischen fünf und sechzig Jahre alt. Die Sprache sei dabei nur kurz ein Hindernis gewesen, berichtet Radiyevska. Bei zwei Kindern würden die Mütter noch mit zum Unterricht kommen, um an der einen oder anderen Stelle zu übersetzen. Sie sehen es als Gewinn: Ihre Kinder würden gleich zwei neue Dinge lernen. Letztendlich aber könne man Musik auch ohne sie lehren – „Musik ist eben schon für sich eine internationale Sprache“, ist die Ukrainerin überzeugt.

Gegenseitiges Lernen

Neben Olena Radiyevska hat vor knapp einem Monat noch eine weitere neue Lehrerin an der Musikschule angefangen: Olga Zernaieva kommt aus Dnipro in der Zentralukraine. Zusammen mit ihrer Mutter und ihrem zweijährigen Sohn ist sie im Auto nach Deutschland geflohen. Fünf Tage lang sei sie gefahren, erzählt sie. Die ausgebildete Flötistin hat an mehreren Theatern in Dnipro und Donezk gespielt und Berufsmusiker:innen unterrichtet. Jetzt lebt sie in Stralsund, hat in einem Sommerkurs Deutsch gelernt und pendelt regelmäßig nach Greifswald, um dort Flöte zu unterrichten.

Der Kontakt zur Musikschule kam dank ihrer Bekanntschaften am Theater Vorpommern zustande. Mitarbeitende vernetzten sie mit der Musikschule. Die 34-Jährige ist froh, ihren Beruf erst einmal weiter ausüben zu können. Und während sie Interessierten ihre Fähigkeiten vermitteln kann, lernt sie zugleich noch besser die deutsche Sprache. Noch hat Zernaieva nur eine Schülerin, die Musikschulleitung aber ist zuversichtlich, dass weitere hinzukommen werden. „Flöte ist auf den ersten Blick einfach nicht so beliebt wie Klavier“, sagt Arekhi-Putensen.

Einige Schulprojekte sind noch in Planung, beide Lehrerinnen sollen auch dort mit eingebunden werden. Sie hoffen, dass dann auch die Nachfrage anzieht.

Auftritt zur Greifswalder Kulturnacht

Für Radiyevska und Zernaieva ist die Musikschule mehr als ein normaler Arbeitsort, betonen sie. Auch ihre freie Zeit verbringen sie gern dort. Konzerte haben sie auch schon gegeben oder sind auf Veranstaltungen nach Sellin, Stralsund und Rostock mitgefahren. Das nächste Konzert gibt es heute Abend im Rahmen der Greifswalder Kulturnacht. Um 18.30 Uhr spielen Radiyevska und Arekhi-Putensen gemeinsam in der Musikschule am Wall in der Goethestraße. Der Großteil der Einnahmen soll an ukrainische Geflüchtete gespendet werden.

Auch außerhalb des Unterrichts verbringen die Mitglieder der Musikschule am Wall viel Zeit miteinander, organisieren auch gemeinsam Auftritte und Veranstaltungen, wie heute zur Greifswalder Kulturnacht. (Foto: M. Rust)

Bürokratie als größte Hürde

Beide Frauen sind allmählich in Deutschland angekommen. Andere sind es noch nicht. Sie brauchen weiterhin Hilfe. Das größte Problem, finden beide, ist die deutsche Bürokratie. Schon allein ein Bankkonto zu eröffnen oder sich anzumelden, sei hier mit großen Hürden verbunden – Nachweise, Anträge, E-Mails. Und das alles, ohne die Sprache zu beherrschen. Auch die Erreichbarkeit der Behörden sei sehr begrenzt. Da gehe es in der Ukraine mit einer nahezu kompletten digitalen Erfassung und Sammlung von behördlichen Dokumenten weitaus schneller. Das Gute aber an deutscher Bürokratie, findet Radiyevska: „Wenn alles dann fertig und korrekt ist, dann gibt es ein sicheres Ergebnis.“ Das sei in der Ukraine nicht immer der Fall.

Genug Arbeit an Musikschulen

Für die Musikschule am Wall sind die beiden ausgebildeten Musikerinnen ein Gewinn. Viele Schulen hätten Wartelisten, erzählt Leiterin Arekhi-Putensen. Auch bei ihnen war die Nachfrage so hoch, dass es höchste Zeit war, neue Lehrerinnen zu finden. „Hier gibt es eigentlich so viel Arbeit für Musiklehrerinnen und -lehrer. Und diese Skepsis wegen der Sprache, die ist total irrelevant.“ An der Musikschule am Wall werde sowieso alles gesprochen: Von den 16 Lehrer:innen sind mehr als die Hälfte international, etwa aus Finnland, Slowenien oder der Türkei. Untereinander wird spontan gewechselt – von Englisch auf Deutsch, mal Italienisch, mal Ukrainisch, den Rest formulieren sie mit Händen und Füßen. Das interessiere auch die Schüler:innen und so gebe es ausdrücklich Nachfragen nach fremdsprachigem Musikunterricht, erzählt der Gründer der Musikschule, Johann Putensen. Und für ihn mit das Schönste: Nicht nur junge Schüler:innen, auch immer mehr ältere Menschen würden sich trauen, ein Instrument zu lernen.

Autor:in

  • Bild von KATAPULT MV Redaktionsleiterin Martje Rust

    Redaktionsleitung

    Ist in Greifswald geboren, hat in Augsburg studiert und zog für den Lokaljournalismus wieder zurück nach MV.