Medienkritik
Der Nordkurier und die journalistische Sorgfaltspflicht
Von Victoria Flägel und Morten Hübbe
Lesedauer: ca. 4 Minuten
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In der Ausgabe vom Montag, dem 5. September, fragt der Nordkurier nach der „Schuld für die Exzesse am Sonnenblumenhaus“ 1992. Und wer jetzt denkt, er meint damit das Pogrom, bei dem ein rechter Mob tagelang die damalige zentrale Asylunterkunft in Lichtenhagen belagerte, angriff und letztendlich anzündete, unter tosendem Applaus Tausender begeisterter Zuschauer:innen, irrt.
Denn anscheinend meint er mit „Exzesse“ die Überlebensstrategien der Asylsuchenden, die tagelang unter freiem Himmel ohne Nahrung, sanitäre Einrichtungen, medizinische Versorgung und Bargeld vor dem Sonnenblumenhaus ausharren mussten, weil die Asylunterkunft sie nicht aufnahm.
Das zumindest lassen zwei Leserbriefe vermuten, die der Nordkurier zum Thema abgedruckt hat. Statt journalistische Sorgfalt auszuüben, gefällt sich der Nordkurier darin, ein filterloses Sprachrohr für krude Gedanken zu sein, die ungeniert als gedruckte Leserbriefe in die Region geschleudert werden. Ohne Einordnung, ohne Kommentar.
Lothar aus Waren darf vor der ganzen Leserschaft behaupten, dass der rechte Mob, der vor 30 Jahren das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen anzündete und die Leben der ehemaligen Vertragsarbeiter:innen massiv gefährdete, die gleichen Personen gewesen seien, die später auf Gipfeln von G7 und G20 protestierten. So viel Fantasie muss man erst mal aufbringen, um den Angriff auf Menschen, die zu einer Minderheit gehören, den gleichen Personen zuzuschreiben, die gegen wirtschaftliche Unterdrückung in der Welt kämpfen.
Heinz aus Demmin meint, dass das Tage dauernde Pogrom in Lichtenhagen vor allem deshalb ausgelöst wurde, weil Journalist:innen ein paar Jugendlichen Geld geboten hätten, um Steine zu werfen. Ob Heinz auch glaubt, dass die applaudierende Menge mit Devisen zum Jubeln gebracht wurde, hat er nicht geschrieben.
Beide Leserbriefe bedienen und reproduzieren alte Klischees und Argumente, mit denen bereits seit 30 Jahren versucht wird, die Schuld von sich zu weisen: Schuld seien stattdessen die Asylsuchenden, die „Chaoten“ aus dem Westen, die Medien. Hitlergruß, Steinwürfe, Brandsätze. Alles geschah unter Zwang. Alles gesteuert von außen. Wir wollten das gar nicht. Latent rassistisch? Wir? Niemals!
So steht es im Nordkurier. Gut. Eine Zeitung muss sich nicht von den Meinungen der Leser:innen abgrenzen. Entscheidend ist, dass die Durchschnittsleser:innen verstehen, dass eine Behauptung im Leserbrief nicht die Behauptung der Redaktion ist. Dennoch kann es für Zeitungen „ratsam sein, sich von Äußerungen Dritter zu distanzieren, um sich diese nicht zu eigen zu machen“. Wer Leserbriefe veröffentlicht, sollte auch hier publizistische Grundsätze beachten. Im sogenannten Pressekodex ist es so formuliert:
- „Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“
- „Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen.“
- „Es widerspricht journalistischer Ethik, mit unangemessenen Darstellungen in Wort und Bild Menschen in ihrer Ehre zu verletzen.“
Zurück zu Lothar und Heinz. Beide haben ihre Meinung. Das ist legitim, egal wie undifferenziert sie ist. Lothar und Heinz sind nicht das Problem. Der Nordkurier macht sich als Presse mit ihnen gemein und das ist ein Problem. Der Nordkurier distanziert sich nicht. Auch nicht von falschen Tatsachenbehauptungen und undemokratischen Aussagen der eigenen Leser. Stattdessen bedient sich der Nordkurier eines geschmeidigen Tricks, denn beim Abdruck eines Leserbriefes mit Namensnennung des Einsenders ist eine Distanzierung in der Regel nicht nötig, heißt es.
Formal macht der Nordkurier nichts falsch. Aber das ist nicht genug. Es ist kein Journalismus, eine Meinung unkommentiert abzudrucken. Erst recht nicht, wenn sie falsche Tatsachen beschreibt. Hier geht es um die journalistische Sorgfaltspflicht. Der Nordkurier hat offenbar kein Interesse daran. Es ist nicht das erste Mal, dass die Zeitung den Pressekodex ignoriert und mit Verharmlosungen und Relativierungen von rechts auffällt.
Lothar fragt in seinem Leserbrief: „Wann wird endlich in den Medien nicht die Dichtung, sondern die Wahrheit genannt?“ Da haben wir gute Nachrichten für dich, Lothar! Wenn du das Pogrom in einen größeren Kontext gesetzt haben möchtest, wenn du mehr über die Perspektive der Betroffenen erfahren möchtest, die der rassistischen Gewalt ausgesetzt waren, wenn du von den politischen Folgen bis heute und von der fehlenden juristischen und politischen Aufarbeitung erfahren möchtest, und wenn du wissen möchtest, wie viele der Festgenommen aus dem Osten und wie viele aus dem Westen kamen, empfehlen wir dir und allen anderen unsere aktuelle Zeitung: eine Sonderausgabe zum Thema. Und unsere Lichtenhagen-Themenseite.
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Autor:innen
Geboren in Rostock.
Aufgewachsen in Rostock.
Studierte in Rostock. Und Kiel.
ist KATAPULT MVs Inselprofi und nicht nur deshalb gern am Wasser. Nutzt in seinen Texten generisches Femininum.