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Kreistag Vorpommern-Greifswald

Parteien aus der Mitte senden Signal an die Bundespolitik

Von und

Lesedauer: ca. 8 Minuten

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Kreistagspräsidentin Sandra Nachtweih (CDU) begann die Sitzung mit der Anweisung, Schilder vom Zuschauerbalkon zu entfernen. Mitglieder der Initiative für eine bessere Schülerbeförderung in Katschow auf Usedom hatten die Forderung „Schützt unsere Katschower Kinder“ aufgehängt. Hintergrund ist ein Umweg für die Schulkinder. Wegen Bauarbeiten wird der Ort zurzeit nicht vom Schulbus angefahren. Deshalb müssen Schüler:innen etwa eineinhalb Kilometer die stark befahrene B 110 entlanggehen, um zur nächsten Bushaltestelle zu kommen.

Den entsprechenden Dringlichkeitsantrag mit auf die Tagesordnung zu setzen, lehnte der Kreistag jedoch ab. Heute finde vor Ort zusammen mit den betroffenen Verkehrsbetrieben, Eltern und Bildungseinrichtungen eine Diskussionsrunde zu möglichen Lösungen statt. Deshalb sei eine Dringlichkeit nicht gegeben, erklärte der stellvertretende Landrat Jörg Hasselmann (CDU).

Gemeinsamer Dringlichkeitsantrag zur Energiepolitik

Eine Dringlichkeitsvorlage von CDU, SPD, Linker, Tierschutzpartei und Grünen wurde dagegen neu ins Sitzungsprogramm aufgenommen und ihr später auch stattgegeben: In einem gemeinsamen Antrag verlangen die Fraktionen Unterstützung von Landes- und Bundesregierung insbesondere für den Mittelstand. Mit dem gemeinsamen Antrag wolle man ein Zeichen setzen, dass Berlin nicht ohne Widerhall Beschlüsse setzen dürfe, sagte Norbert Raulin (SPD). Philipp Amthor (CDU) forderte, Enttäuschung und Wut aus dem Mittelstand nicht „den Vereinfachern“ mit „vermeintlich einfachen Antworten“ zu überlassen.

Mit dem Beschluss wurde Landrat Michael Sack (CDU) beauftragt, ein Schreiben an die Landesregierung zu verfassen und darin konkrete nächste Schritte in der Energiepolitik zu fordern. In seinem Bericht unterstrich auch der Landrat selbst noch einmal die Sorgen, vor allem mit Blick auf die steigenden Haushaltskosten, die auf die Kommunen zukommen werden. Allein durch das Kinderförderungsgesetz (Kifög) würden die Kosten aufgrund steigender Energiepreise und Personalvergütung auf 11,96 Euro pro Kind ansteigen. Das seien allein im Bereich des Kifög für 2023 Mehrkosten von 2,5 Millionen Euro. Auch Betriebskosten für Bürger:innen würden zunehmen, unter anderem aufgrund der sogenannten Kostenunterkunftsrichtlinie (KdU), die die Höhe der vom Staat übernommenen Kosten für Unterkunft, Heizung und Warmwasser regelt, und die regelmäßig angepasst werden müsse. Ob der Haushalt trotz aller Preissteigerungen ausreichen wird, ließ Sack offen. Er hoffe auf Ideen und Lösungen, nicht nur mit Entlastungspaketen, denn die würden letztendlich auch auf den Schultern der Landkreise geschnürt.

Hinsichtlich des Dringlichkeitsantrags zeigten sich CDU und Grüne erfreut, dass mit Kompromissen ein gemeinsamer Antrag formuliert werden konnte. Während die Grünen darin einem begrenzten Weiterbetrieb der Kernkraftwerke zustimmen, ging die CDU-Fraktion auf eine Erweiterung von Windkraftflächen im Sinne einer nachhaltigen Energiepolitik ein.

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Ulrike Berger, betonte jedoch, dass Kernkraft keine endgültige Lösung sei. Für einen begrenzten Zeitraum sei sie aber hilfreich, um den Energiebedarf zu decken. Der Ausbau von Windanlagen soll laut Antrag im regionalen Planungsverband neu besprochen, die Fläche erweitert werden.

Bei vier Enthaltungen lehnte nur Uwe Fiedler, Fraktionschef des Konservativen Bürgerbundes Vorpommern (KBV), den Antrag ab, alle anderen stimmten dafür.

Forderung nach sofortiger Öffnung von Nord Stream 2 abgelehnt

Dafür beantragte die KBV-Fraktion die sofortige Öffnung der Gaspipeline Nord Stream 2. In seiner Rede unterstellte Fiedler den USA Scheinheiligkeit und Heuchelei. Sie seien Kriegstreiber, weshalb die Sanktionen gegen Russland sofort aufgehoben werden müssten.

Schon Nord Stream 1 funktioniere nicht, weil Gas von Russland bewusst zurückgehalten werde, entgegnete der CDU-Politiker Amthor. Da müsse nicht noch eine zweite Pipeline folgen. Er forderte Fiedler auf, sich an die Fakten zu halten und keine Lügengeschichten Putins weiterzuverbreiten.

Dies unterstützte auch Ulrike Berger von den Grünen: Sie bezeichnete Fiedlers Antrag als „Nonsensantrag“, der es eigentlich nicht wert sei, thematisiert zu werden. Die Falschaussagen Fiedlers machten eine Antwort aber doch nötig: So sei ja schon Nord Stream 1 nicht vollständig gefüllt, argumentierte die Grünen-Politikerin. Da brauche es nicht noch eine weitere leere Pipeline. Zudem dürften Sanktionen gegen Kriegstreiber nicht einfach abgewendet werden. Auch kritisierte sie den von Fiedler zum wiederholten Male gezogenen Vergleich der Demokratie mit der Nazidiktatur.

Viel Redezeit für Falschmeldungen

Ob Russlandsanktionen, Energiepolitik, Digitalisierung oder Corona – KBV-Mann Fiedler ergriff mehrfach das Wort, überschritt zum Teil die Redezeit und griff Falschinformationen auf. So verglich er etwa die einrichtungsbezogene Impfpflicht mit der Judenverfolgung in der Nazizeit, die Vorgaben zur „Coronainjektion“ mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933. Auch kritisierte er die Arbeit des Paul-Ehrlich-Instituts und dessen Namen. Diskussionen über die Digitalisierungsstrategie des Landkreises sehe er kritisch: alles werde „digital durchleuchtet“ und gesammelt, sodass ein Ausbau digitaler Prozesse überdacht werden müsste. Seine Vorwürfe zur Datensammlung seien nicht belegbar, sollten aber „ein Denkanstoß sein“, so Fiedler.

Selbst Fraktionskollege Ralph Weber lenkte mehrfach öffentlich ein und distanzierte sich von den Aussagen seines Fraktionsvorsitzenden Fiedler.

Die Beschlussvorlage, die Sanktionen aufzuheben, wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Ebenso die sofortige Öffnung von Nord Stream 2.

Abfallwirtschaftssatzung beschlossen

Neben der Energiepolitik beriet der Landkreis über eine neue Abfallwirtschaftssatzung ab dem kommenden Jahr. Sie wurde zwar beschlossen, doch das Problem dabei: In die neue Abfallentsorgung werden nun auch Kleingartenanlagen einbezogen. Das heißt, dass die örtlichen Versorgungsbetriebe auch dort zukünftig Mülltonnen bereitstellen müssen, bezahlt von den Gartenbesitzer:innen. Darüber zeigte sich der Kreisverband der Gartenfreunde Greifswald verärgert. Im Vorfeld sei über diese wesentliche Änderung nicht mit den betroffenen Verbänden gesprochen worden, so die Vorsitzende Kathrin Buchholz in der Bürger:innenfragestunde. Es gebe überregionale und deutschlandweit bindende Gerichtsurteile, wodurch diese Satzungsänderung nötig sei, verteidigte Vizelandrat Hasselmann das Vorgehen. Die Gespräche mit den Gartenvereinen würden in den kommenden Wochen folgen.

Als problematisch sah das Erik von Malottki (SPD) und warb für eine Vertagung der Entscheidung, um die Kleingärtner:innen noch im Vorfeld miteinzubeziehen. Bislang sei Vorpommern-Greifswald der einzige Landkreis in MV, in dem auch für Kleingärten die Abfallsatzung gelte, argumentierte Malottki. Vorpommern-Rügen plane die Einführung erst für Anfang kommenden Jahres. Somit wäre noch Zeit, die genaue Auslegung der Vorschriften zu klären.

Das wollte Hasselmann nicht gelten lassen. Die Vorgaben seien gesetzlich bindend, alle anderen Landkreise müssten in den kommenden Monaten nachziehen, sodass man eher früher als später handeln solle. Auch die Entsorgungsbetriebe müssten sich schließlich vorbereiten können.

Bisher bringen Kleingärtenbesitzer:innen ihre Abfälle selbst zu Wertstoffhöfen oder entsorgen sie zu Hause. Vor allem die Zuwege zu vielen Sparten sehen Linke und SPD problematisch: Die Abholung von Tonnen müsse dringend im Vorfeld geklärt werden, betonten Birgit Socher (Linke) und Raulin (SPD). Selbst in städtischen Anlagen kämen zum Teil keine großen Fahrzeuge durch. Alle Tonnen an die Straße zu stellen, hielten alle für keine gute Idee.

Letztendlich stimmte der Kreistag gegen eine Verschiebung der Diskussion und auch ein Änderungsantrag der SPD zur neuen Satzung wurde abgelehnt. Sowohl die Abfallsatzung als auch die entsprechende Gebührensatzung wurden beschlossen. Malottki kündigte daraufhin an, ein Bürgerbegehren gegen das Verfahren einleiten zu wollen.

Weitere Beschlüsse

Das Rufbussystem des Landkreises, Ilse, soll nach einstimmigem Beschluss aufrechterhalten werden. Es habe sich bewährt. Auch der Betrieb mobiler Impfteams und Impfzentren durch das Deutsche Rote Kreuz bleibt bestehen. Die Weiterführung des Projektes „JUGEND STÄRKEN im Quartier“ (JUSTiQ), welches bereits in zwei Förderphasen unterstützt wurde, wird fortgeführt. Das Projekt soll Kommunen dabei helfen, Jugendliche und junge Erwachsene auf dem Weg in die Selbständigkeit zu unterstützen.

Beschlossen wurde des Weiteren der Verkauf des ehemaligen Gaswerks in Ueckermünde, der ehemaligen Musikschule Ueckermünde, der ehemaligen Rettungswache in Strasburg und einer weiteren Liegenschaft in der Hausmannstraße in Pasewalk. Diese Objekte würden vom Landkreis nicht mehr gebraucht, so die Begründung.

Den Tagesordnungspunkt zur Einführung der Biotonne im Landkreis zog Grünenfraktionschefin Berger zurück. Der Vorsitzende der Ostvorpommerschen Versorgungsgesellschaft (OVVG) solle sich zur Notwendigkeit des Vorhabens äußern dürfen, habe aber nicht anwesend sein können. Der Punkt werde in den kommenden Umweltausschuss und die nächste reguläre Kreistagssitzung vertagt. Bislang ist Vorpommern-Greifswald der einzige Landkreis in MV ohne Biotonne.

Sonderkreistag

Wegen der anstehenden außerplanmäßigen Ausgaben des Haushaltes ist am 24. Oktober um 16 Uhr ein Sonderkreistag geplant. Dabei wird es vor allem um Ausgaben im Kinder- und Jugendbereich, Katastrophenschutz und angekündigte Energiesparmaßnahmen gehen. Für die beschlossene Gasumlage etwa werde derzeit ein neues Team zusammengestellt, das bis Ende Oktober die Bedarfe der einzelnen Regionen klären soll. Dann würden konkrete Maßnahmen diskutiert.

Die Verwaltung soll mit der Extrasitzung ausreichend Zeit bekommen, über die Planungen und kommenden Schritte zu informieren. Ob sie in Greifswald oder Pasewalk stattfindet, ist noch nicht geklärt. Das hänge von der Raumsuche ab, so Kreistagspräsidentin Nachtweih.

Ein großer Schritt zur Digitalisierung

Für besondere Begeisterung sorgten während der gesamten Kreistagssitzung die neu eingeführten Abstimmungsgeräte. Erstmals konnten die Mitglieder statt per Karte per Knopfdruck ihre Stimme abgeben. Wegen der dazu erforderlichen neuen Abstimmungsübersicht auf der Leinwand konnten Tagesordnung und Beschlussvorlagen allerdings nicht für alle Anwesenden sichtbar angezeigt werden.

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Fußnoten

  1. Meerkatz, Cornelia: Ärger um Schülertransport auf Usedom: Grundschüler sollen an vielbefahrener Bundesstraße 110 laufen, auf: ostsee-zeitung.de (8.9.2022).
  2. Diese mussten beim Verlassen des Raumes abgegeben werden, um Abstimmungsergebnisse nicht zu verfälschen.

Autor:innen

Redakteurin bei KATAPULT MV.

Redaktionsleitung bei KATAPULT MV.

Ist in Greifswald geboren, hat in Augsburg studiert und zog für den Lokaljournalismus wieder zurück nach Meck-Vorp.

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