Eine der modernsten und nachhaltigsten Schiffsrecyclinganlagen weltweit soll auf dem ehemaligen Gelände der Stralsunder Volkswerft entstehen. So zumindest bewarben es die Betreiberfirma Leviathan und die Hansestadt in einer gemeinsamen Pressemitteilung bereits im Herbst 2023.1 Bisher gibt es noch keine solche Einrichtung in Deutschland, die Schiffe zerlegt und den Schrott wieder an Stahlwerke und damit in den Kreislauf zurückführt. Und das auch noch nachhaltig, wie das Unternehmen betont.
Derzeit aber steht die dafür vorgesehene Halle auf dem Werftgelände noch so unberührt da wie kurz nach der Insolvenz der MV-Werften Anfang 2022.
Stralsund statt Südasien
Gegründet wurde Leviathan vor neun Jahren von Simeon Hiertz und Karsten Schumacher aus Bremen. Beide kommen aus dem Schiffbau, waren lange in der Beratung zu Schiffssicherheit tätig.
Die Nachfrage nach Recyclingwerften wird in den kommenden Jahren deutlich steigen, prognostizieren sie. Nach Angaben des Deutschen Reederverbands werden rund um den Globus derzeit pro Jahr etwa 700 Seeschiffe außer Dienst gestellt.2 Eine Entsorgungswerft in Deutschland gibt es bisher nicht, in Europa sind es 43. Ein Großteil der Schiffe weltweit wird jedoch – vor allem aus Kostengründen – in Pakistan, Indien und Bangladesch direkt am Strand zerlegt – trotz verheerender Arbeits- und Umweltbedingungen. Das sogenannte Shipbreaking zählt zu den gefährlichsten und umweltschädlichsten Gewerben der Welt.
Um das zu ändern, hatte sich die Europäische Union 2013 eine neue Regelung auferlegt: Schiffe, die unter EU-Flagge auf den Weltmeeren unterwegs sind, dürfen „nur noch auf zugelassenen Recyclingwerften der EU-Liste abgewrackt werden“.3
Das wollten die beiden Bremer Unternehmer angehen und eine solche Werft in Deutschland aufbauen. Bevor sie Stralsund fanden, hatten sie auch andere Standorte wie Flensburg und Kiel in Betracht gezogen. Die Infrastruktur in der Hansestadt sei jedoch ideal – ein ehemaliges, noch gut ausgestattetes Werftgelände mit einer direkten Anbindung ans Schienennetz zum Weitertransport, erklärt Schumacher. Auch die Schiffshebeanlage und ein Teil der Außenfläche der ehemaligen Volkswerft könnten als Lager- und Abstellplatz für ausrangierte Schiffe dienen.
2021 begannen sie ihr Projekt offiziell. Die Werftnachbarn stehen hinter der Idee. Bis vor Kurzem tat das auch die Stadt. Eine Halle und ein Büro für Leviathan gibt es bereits, erzählt Projektleiter Hiertz. Der Pachtvertrag für die Halle ruhe derzeit, um Kosten zu sparen. Das Büro sei aber aktiv.4 Einmal pro Woche sind die Bremer selbst vor Ort. Noch aber wirkt alles kahl und unpersönlich.
Insgesamt sind 60 Arbeitsplätze geplant. Sowie die Genehmigung vorliegt, könnten binnen zwei Wochen die ersten 10 bis 15 Mitarbeiter:innen anfangen, sagt Hiertz. Bewerber:innen gebe es bereits. Über drei Jahre soll dann personell weiter aufgestockt werden, so der Plan.
In der Halle sollen einmal bis zu 140 Meter lange Schiffe zerlegt werden können. Eine gängige Größe für Kutter und kleinere Frachtschiffe. Ein Fahrzeug dieser Größe könnte das Unternehmen in vier Tagen auf ein normiertes Schrottmaß zerlegen und in transportfähige Kisten verpacken, erläutert Schumacher, ähnlich wie beim Rückbau von Kraftwerken. Das Material soll dann per direkter Bahnanbindung vom Werftgelände an die Stahlwerke geliefert werden.
Das Besondere bei Leviathan: Die Schiffe sollen mit Robotertechnik im Zwei- bis Drei-Schicht-System auseinandergeschnitten werden. Die eigens modifizierten Roboterarme zerlegen die Schiffe mit einem Gemisch aus Wasser- und Sandstrahl – automatisiert und nahezu CO2-frei.5 Erste Tests am Pilotprojekt in Kiel waren erfolgreich. Die Roboter selbst werden mit erneuerbarer Energie betrieben. „Vor allem kann damit die Verletzungsgefahr für die Mitarbeitenden bei solchen Großanlagen noch einmal deutlich gesenkt werden“, ergänzt Hiertz. In anderen Betrieben geschieht das Schiffsrecycling noch per Hand. Ihre Variante wäre vollautomatisiert. Arbeitsunfälle lassen sich so noch besser vermeiden. Eine künftig potenziell sehr gefragte Technik: Gespräche mit internationalen Investoren liefen bereits, zuletzt mit einer Firma aus Tokio. Geld kann aber erst dann fließen, wenn eine Genehmigung vorliegt. Dann soll auch die Robotertechnik nach Stralsund umziehen.

Pachtvertrag droht auszulaufen
Das Tragische für die beiden Pioniere: Eigentlich ist alles schon seit vier Jahren klar. Bevor sie den Genehmigungsantrag einreichen konnten, mussten sie in MV aber erst einmal Aufklärungsarbeit leisten. Denn von der europäischen Verordnung hätten die ersten Ansprechpartner:innen beim Umweltministerium und Staatlichen Amt für Landwirtschaft und Umwelt (Stalu) nichts gewusst, berichten die beiden Unternehmer. Ein Jahr habe die Klärung ungefähr gedauert. Jetzt – drei Jahre später – stehen sie immer noch vor einer leeren Halle, in der sie nicht anfangen dürfen.
Die Hansestadt führt auf Nachfrage an, dass nun noch „geschaut“ werden müsse, wie es weitergehe. Denn eigentlich müsste die zuständige Genehmigungsbehörde – in diesem Fall das Stalu Stralsund – nach Paragraf 10 Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) innerhalb von sieben Monaten den Antrag geprüft haben.6 Auf dieser Grundlage hatten Stadt und Unternehmen auch die Reservierungsvereinbarung für die Halle geschlossen. „Da die Fristen abgelaufen sind und es nicht erkennbar ist, wann beziehungsweise ob ein Recyclingbetrieb starten kann, ist die Hansestadt gezwungen, zur Minimierung des Pachtausfalls die Halle kurzfristig neu zu verpachten“, so die Stadt. Das wurde Ende Februar auch Leviathan mitgeteilt. In einer Mitteilung an die Firma heißt es, das gesamte Gelände solle einem neuen Einzelnutzer exklusiv verpachtet werden. Damit drohe das Projekt zu scheitern, so Hiertz.7 So schnell aber wollen sie nicht aufgeben, betonen sie und bleiben in Klärungsversuchen mit der Stadt.
Ob und wann das Unternehmen eine Genehmigung bekommt, ist also weiterhin unklar. Und dazu noch, ob es dann auch wirklich die Halle in Stralsund wird.
Vor allem Immissionsschutzauflagen problematisch
„Es ist alles etwas kompliziert – insbesondere wegen der Genehmigungen für [den] Immissionsschutz“, heißt es von der IG Metall zum Stand des Antrags.8 Das wird vom Umweltministerium bestätigt.9
Für das Abwracken von Schiffen bedarf es nämlich einer „Genehmigung nach Paragraph 4 BImSchG in Verbindung mit Nummer 8.11.2.1 der Anlage 1 der 4. Bundes-Immissionsschutzverordnung zur Behandlung von gefährlichen Abfällen“. Kurz: Weil zerlegte Altschiffe als gefährlicher Abfall gewertet werden, braucht es eine Sondergenehmigung.
All das haben die Unternehmer bereits am 11. März letzten Jahres beantragt. Noch warten sie.
Zur Beschleunigung des Genehmigungsverfahrens setzte das Stalu Anfang des Jahres aufgrund einer neuen Regelung10 einen Projektmanager ein. Dieser soll die weiteren Verfahrensschritte betreuen. Davon sei auch Leviathan in Kenntnis gesetzt worden. „Die vertraglichen Abstimmungen zwischen dem Projektmanager, der Genehmigungsbehörde und der Antragstellerin stehen kurz vor dem Abschluss“, erklärt das Umweltministerium. Anschließend prüfe man die vorliegenden Antragsunterlagen auf Vollständigkeit. Die weitere Vorgehensweise werde erst danach konkret abgestimmt. Einen genauen Termin für die Genehmigung könne man „nach derzeitigem Sachstand“ noch nicht nennen.
Bei Hiertz und Schumacher löst dies alles nur noch Kopfschütteln und ein müdes Lächeln aus. Bisher haben sie in ihr Projekt bereits fast zwei Millionen Euro gesteckt. Drei Viertel davon verursacht von MVs Bürokratie. An der Umsetzung ihres Vorhabens halten sie trotzdem fest. Denn die Notwendigkeit wird von Jahr zu Jahr größer.
Fast 2.000 Schiffe abwrackreif
Eine Schiffsrecyclinganlage in Deutschland hätte große Vorteile: Der Export ausrangierter Schiffe ins Ausland, etwa nach Dänemark, ist teuer. Denn dafür ist eine Genehmigung für Abfallverbringung nötig. Das ist auch der Grund, warum Hiertz und Schumacher heute noch keine konkrete Zahl potenzieller Kund:innen nennen können. Rein rechtlich würden diese nämlich Probleme bekommen, sobald sie ihr Schiff für abwrackfähig erklären. Dann gilt es umgehend als Abfall und darf nicht mehr in oder aus deutschen Häfen fahren. Bevor es also keine Schiffsrecyclinganlage in Deutschland gibt, halten sich potenzielle Auftraggeber:innen bedeckt. Laut der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation sind derzeit weltweit 1.946 Schiffe mit einer Länge zwischen 120 und 140 Metern älter als 25 Jahre. Dann beginnen sich Reedereien zu fragen, wohin mit ihren veralteten Fahrzeugen.
Laut Schumacher gebe es aber allein von vielen Hafenmeister, auch in MV, eine hohe Nachfrage: „In fast jedem Hafen liegen alte Kähne, Restaurantschiffe oder Kutter, deren Besitzer gar nicht mehr bekannt ist. Ausfuhren ins Ausland können sie sich nicht leisten. Loswerden aber wollen sie sie schon. Und da kämen wir ins Spiel.“
Die Nachfrage in den anderen europäischen Schiffsrecyclinganlagen werde immer größer. Im dänischen Odense seien die Auftragsbücher für die nächsten drei Jahre bereits voll, erzählen Schumacher und Hiertz.
Langfristig wollen beide mit ihrem Unternehmen auch größere Schiffe als 140 Meter zerlegen. Für die sogenannten Post-Panamax-Schiffe etwa, die wegen ihrer Breite nicht durch die alte Schleuse des Panamakanals passen, existiert derzeit keine einzige Möglichkeit zum Abwracken. Selbst für die Strände in Südasien seien sie zu groß. Aktuell gibt es bereits 127 solcher übergroßen Schiffe, die über 25 Jahre alt sind und somit potenziell schrottreif. „Mit jedem Jahr, das wir warten, türmt sich der Tsunami aus Stahl weiter auf“, warnt Hiertz.
Fast Erster gewesen
So hätte Stralsunds Werft die erste Recyclinganlage für Schiffe in Deutschland werden können – und die erste roboterbasierte nachhaltige dieser Art weltweit, wie das Unternehmen selbst schreibt. Die Technologie ging nun aber an den zweiten Standort von Leviathan ins niedersächsische Brake. Den Genehmigungsantrag hatten Schumacher und Hiertz im August 2024, also nach dem für Stralsund, eingereicht und nach knapp sechs Monaten – Mitte Februar – einen positiven Bescheid erhalten. Dort laufen nun die Vorbereitungen. Die Schiffsrecycler betonen jedoch: Der Standort an der Unterweser sei für weitaus kleinere Schiffe und nicht für die Entsorgung gefährlicher Abfälle ausgelegt. Auch die anderen Bedingungen seien nicht so ideal wie in Stralsund. Dennoch könnten sie nun endlich anfangen, ihre Technik unter Beweis zu stellen.
Neben Stralsund und Brake sind nach Angaben der IG Metall derzeit drei weitere Schiffsrecyclinganlagen in Deutschland beantragt: in Emden, Bremen und Bremerhaven. Auch ein Unternehmen in Wilhelmshaven soll einen Antrag vorbereiten. Stralsund und MV haben aber weiterhin die Chance, ihren maritimen Standort gewinnbringend als eine der Ersten zu nutzen.
- Hansestadt Stralsund (Hg.): Volkswerft: Aufbau und Betrieb der modernsten und nachhaltigsten Schiffsrecyclinganlage weltweit, auf: stralsund.de (12.9.2023).
↩︎ - Verband Deutscher Reeder (Hg.): Schiffsrecycling – den Fortschritt anerkennen, auf: reederverband.de. ↩︎
- Bundesministerium für Digitales und Verkehr (Hg.): Schiffsrecycling, auf: deutsche-flagge.de. ↩︎
- Telefonat mit Simeon Hiertz am 5.2.2025.
↩︎ - leviathan.eu. ↩︎
- E-Mail der Pressestelle der Hansestadt Stralsund vom 5.2.2025. ↩︎
- E-Mail von Simeon Hiertz vom 21.2.2025. ↩︎
- E-Mail von Heiko Messerschmidt vom 7.2.2025. ↩︎
- E-Mail der Pressestelle des Ministeriums für Klimaschutz, Landwirtschaft, ländliche Räume und Umwelt MV vom 6.2.2025.
↩︎ - § 2b I Neunte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. ↩︎