Corona-Proteste
Solidarität, Verantwortung, Nächstenliebe
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Der Greifswalder Marktplatz war zweigeteilt an diesem Abend. Ein mehrere Meter breiter Korridor mit sogenannten Hamburger Gittern auf beiden Seiten trennte die erste Kundgebung von Befürworter:innen von Impfungen gegen Sars-Cov-2 von der montäglichen Kundgebung der Impfgegner:innen. In der Mitte standen noch der Weihnachtsbaum und eine Handvoll Polizist:innen. Am oberen Teil des Marktes, wo die Lange Straße vorbeiführt, hatte das Bündnis „Greifswald für alle“ eine kleine Bühne mit zwei Lautsprechern aufgebaut, auf der nach und nach eine ganze Reihe an Redner:innen ihre Argumente für eine Impfung vortrugen.
Als Erster sprach Oberbürgermeister Stefan Fassbinder die Freiheitseinschränkungen in der Pandemiebekämpfung an. Er erinnerte daran, dass Freiheiten Einzelner oder ganzer Gruppen beschnitten werden mussten und teils auch Grundrechte einschränkt wurden. In seinen Augen war dies notwendig, um der Ausbreitung des Virus Herr zu werden und damit die Pandemie in den Griff zu bekommen. Fassbinder wies darauf hin, dass die von manchen geforderte Freiheit, sich nicht impfen zu lassen, auf Kosten der Freiheit anderer gehe, denn nur wenn genug Menschen geimpft würden, sei auch wieder mehr Freiheit möglich. Er appellierte an die Zuhörer:innen, sich ihrer Verantwortung nicht zu entziehen, sich impfen zu lassen, und so wieder mehr Freiheit zu ermöglichen. Vereinzelt gab es während seines Vortrags Störgeräusche, Böller und privates Sirenengeheul von außerhalb des Kundgebungsbereichs.
Nach dem OB kam die Abteilungsleiterin der Immunologie der Universitätsmedizin Greifswald, Professorin Barbara Bröker, auf die Bühne. Sie bezeichnete das Virus als einen mächtigen Gegner und brachte die Wirksamkeit einer Impfung auf eine kompakte Formel: eine Impfung sei besser als keine, zwei Impfungen noch besser und wer dreimal geimpft sei, habe einen sehr guten Schutz bei minimalen Nebenwirkungen. Aus ihrer Sicht werde jede:r mit dem Virus konfrontiert werden und daher auf diesen Schutz angewiesen sein. Zudem brauche der Körper Zeit, um mithilfe der Impfung seine Abwehr aufzubauen. Bis dahin seien Masken notwendig und ein gutes Hilfsmittel.
Während Bröker sprach, trugen Menschen große Buchstaben, die das Wort Solidarität bildeten, um die Kundgebungsteilnehmer:innen herum und stellten sich damit hinter der Bühne auf. Nach Angaben des Moderators befanden sich unter ihnen auch Mitglieder des Bundestages aus MV.
Der nächste Redebeitrag kam von der Direktorin des Greifswalder Zentrums für Psychologische Psychotherapie, Eva-Lotta Brakemeier. Sie erläuterte, dass Gefühle von Angst, Wut und Ärger in der aktuellen Lage normal seien, und wies darauf hin, dass die Gesellschaft der Situation nicht hilflos ausgeliefert sei. Impfen sei der Weg aus der Pandemie und verringere das Risiko einer Ansteckung und Erkrankung. Sie bot Menschen, die Angst vor einer Impfung haben, psychologische Unterstützung an. Aufmunternd rief sie zudem dazu auf, aktiv zu werden und sich impfen zu lassen, und wies darauf hin, dass anderen etwas Gutes zu tun sich nachweislich positiv auf die eigene Psyche auswirke.
Aus seinen Erfahrungen als praktischer Arzt berichtete Andreas Jülich. Seine Arbeit habe sich während der Pandemie immer wieder verändert. Zuerst seien die Menschen immer seltener in die Praxis gekommen oder später als zuvor. Vorsorgeuntersuchungen fänden kaum noch statt. Im weiteren Verlauf kamen dann die Corona- und Long-Covid-Patienten hinzu. Er berichtete von Long-Covid-Betroffenen, die ähnlich schwere Einschränkungen haben wie Menschen, die jahrzehntelange geraucht hätten, obwohl sie selbst gar nicht rauchen. Er wünsche sich wieder regen Patient:innenverkehr, dass wieder Vorsorgeuntersuchungen gemacht würden und auf den Schutz durch Masken verzichtet werden könne. Deshalb rief auch er zum Impfen auf.
Der Intendant des Theater Vorpommerns, Ralf Dörnen, fasste kurz das Auf und Ab im Verlauf der bisherigen Pandemiebekämpfung zusammen. Auch jetzt sei das Theater wieder seit zwei Wochen geschlossen. Dabei möchten er und sein Theater „bald wieder für Sie spielen“.
Auch Hennis Herbst, Vorsitzender des Allgemeinen Studierendenausschusses an der Universität Greifswald, fasste die vergangenen zwei Jahre zusammen und schloss: „Die Situation belastet und kotzt uns an.“ Jedoch wüssten die Studierenden, wofür sie die Einschränkungen mitgetragen hätten, und hätten den Sinn der Maßnahmen stets verstanden. Sie hätten Solidarität gezeigt und gleichzeitig mitgeholfen, Lösungen zu finden. Auch wenn sich viele mehr gewünscht hätten, so hätten sich die Studierenden gehört gefühlt und die Antworten der Politik seien richtig gewesen. Zwar sei auch die Universität nicht völlig frei von Impfgegnerschaft, aber die Impfquote liege unter den Studierenden bei 90 Prozent und Verbreiter:innen von Verschwörungstheorien seien eine sehr kleine Gruppe.
Nach Herbst kündigte der Moderator die Redner:innen der demokratischen Parteien an. Walter Noack (CDU) betonte die Solidarität auch mit Nichtgeimpften und wies darauf hin, dass bei der Anzweiflung der Grundordnung der Demokratie in seinen Augen Schluss sei. Die AfD habe das Thema gekapert und es sei „ja wohl gelacht“, wenn man sich durch die Pandemie kleinkriegen lasse. Anna Kassautzki von der SPD erinnerte an den ersten Shutdown, in dem es noch keine Impfungen und keine Tests gab, sowie an Weihnachten 2020, als statt Familienbesuchen Videokonferenzen abgehalten wurden. Sie erinnerte daran, dass Kritik an Maßnahmen legitim sei, Angriffe auf Menschen hingegen keineswegs. Christoph Volkenand von der Tierschutzpartei zitierte nach einer Erläuterung der Folgen von Long Covid und Post Covid den Kabarettisten Urban Priol aus dessen Jahresrückblick: Wer Angst vor eine DNA-Veränderung durch Impfung habe, solle das als Chance begreifen. Daniel Seiffert (Die Linke) argumentierte, der Zustand des fälschlicherweise auf Wirtschaftlichkeit getrimmten Gesundheitssystems sei schon vor der Pandemie alarmierend gewesen und hätte in die Krise geführt, da in einer wirtschaftlich optimierten Organisation keine Reserven vorhanden seien, um mit Krisen umzugehen. Er forderte daher, das Gesundheitssystem zurück in die öffentliche Hand zu legen, eine langjährige Position seiner Partei. Hannes Damm (Bündnis 90/Die Grünen) schloss daran an und beschrieb, wie das Gesundheitssystem durch ungeimpfte Patienten überfordert werde. Eine adäquate Versorgung sei in vielen Bereichen nicht mehr gewährleistet und das betreffe alle Arten von gesundheitlichen Notfällen, nicht nur Corona-Patient:innen. Er sprach sich wie einige andere für eine allgemeine Impfpflicht aus und forderte zudem eine Freigabe der Impfpatente.
Intensivmediziner und Kardiologe Stephan Felix erzählte anschließend von Patient:innen, die er an der Universitätsklinik betreut hatte. So habe er vor Kurzem einen Patienten verloren, der ein aktiver Gegner der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung war und sich unter anderem im Internet und auf Veranstaltungen in seiner süddeutschen Heimat sehr dagegen engagiert hatte. Er erkrankte an Corona und musste aufgrund eines akuten Bettenmangels nach Greifswald verlegt werden. Dort wurde er künstlich beatmet und starb in diesem Zustand. Laut Felix ein „unwürdiger Tod“. Covid sei kein Schnupfen. Felix rief ebenso wie seine Vorredner:innen zur Impfung auf.
Michael Mahlburg beschloss die Kundgebung. Der Pastor der Jacobigemeinde bezeichnete die Impfung als aktive Nächstenliebe. Dies bedeute auch, Impfpatente freizugeben und möglichst vielen Menschen auf der Welt den Zugang zu Impfstoffen zu ermöglichen.
Die Veranstalter schätzten die Teilnehmer:innenzahl auf 200 Personen, die Polizeiinspektion Anklam konnte keine genaue Anzahl nennen. Ordner:innen der Kundgebung erzählten von wiederholten Provokationen durch einzelne Personen, die entgegen den Auflagen im Bereich der Veranstaltung die Masken abgenommen hätten. Davon und vom Lärm der Nachbarkundgebung abgesehen, konnte die Versammlung störungsfrei abgehalten werden. Nach knapp 90 Minuten war sie beendet und der Platz leerte sich schnell.