Öffentliche Büchereien
Vielleicht der letzte Ort für alle
Von Betty Koschka und Martje Rust
Lesedauer: ca. 11 Minuten
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„Es gibt Leute, die sagen mir, Bibliotheken sind in 15 Jahren tot“, berichtet Martina Bade, Leiterin der Rostocker Stadtbibliothek. Diese Leute hätten die Vorstellung, man brauche nur fünf IT-Expert:innen und zwei Menschen, die sich mit dem Markt auskennen, und dann könne man von Netflix bis zur Bibel alles digital schalten. Bibliotheken seien damit überholt, zitiert sie weiter die vorurteilsbehaftete Vorstellung einiger. Dabei verfügt ihre Einrichtung online bereits über ein Angebot von 95.437 Medien. Bibliotheken seien kein Ort der bloßen Bücherausleihe und -abholung. Bade stellt klar: „Wir sind dazu da, jedem eine Teilhabe an Information zu bieten und ihn oder sie zu beraten.“ Wer eine Zeitung lesen will, bekommt sie hier kostenlos. Die Stadtbibliothek Rostock verfügt über acht verschiedene Tages- und Wochenzeitungen sowie rund 500 Zeitschriftenabonnements. Sechs Onlinetageszeitungen und 93 digitale Magazine sind darunter. Martina Bade und ihre Kolleginnen sind digital längst breit aufgestellt und geschult im Umgang mit neuen Medien.
Digital setzt sich nur bedingt durch
Die Corona-Pandemie habe der Nachfrage nach digitalen Angeboten einen weiteren Schub gegeben, sagt Bade. Dank Bundeszuschüssen konnte die Rostocker Bibliothek in der Vergangenheit viel Elektronik beschaffen. Manchmal habe sie dabei gehandelt, bevor überhaupt ein Interesse da war, räumt die Leiterin ein. So bot die Stadtbücherei zeitweise Ipads mit nahezu allen Zeitschriften der Welt an. Ein Dienst, der nicht genutzt wurde. „Die digitalen Angebote sind zwar die Zukunft, aber die physischen Buchbestände werden nie ganz verschwinden“, ist sich Bade sicher. Die Zahlen geben ihr recht: Gegenüber DVDs, Hörbüchern, CDs und Konsolenspielen, mit 119.956 Entleihungen im Jahr 2022, lag die Zahl der ausgeliehenen Printmedien beim Dreifachen. Die Stadtbibliothek baut dennoch ihren Medienbestand weiter aus, um allen Generationen ein facettenreiches Angebot machen zu können. So eröffnete sie Anfang April einen sogenannten Makerspace im Stadtteil Toitenwinkel. Kinder von 10 bis 16 Jahren können sich dort etwa in den Bereichen Programmierung, Gaming, Mediengestaltung und Robotik ausprobieren. Der offene Raum soll Kinder befähigen, sich sicher in der digitalen Welt zu bewegen, so die Leiterin.
Denn auch das ist Aufgabe der Bibliotheken: Bildung und Teilhabe. Für alle. Und zwar erschwinglich.
Demokratische Bildung, nicht nur durch Bücher
Auch in der Stadtbibliothek Greifswald sollen Kinder und Jugendliche neue Medien ausprobieren können. Regelmäßig gibt es dazu im Rahmen der Computerspielschule Angebote. Auch Schulklassen kommen zu Workshops. Aber auch auf den gesamten drei Etagen der Einrichtung herrscht zwischen den Regalen mit Büchern, Zeitungen, DVDs, aber auch Spielen täglich reger Andrang. Im vergangenen Jahr zählte die Einrichtung 74.636 Besucher:innen. Jedoch seien das 37 Prozent weniger als 2019. Dieser Rückgang sei auf die Pandemie zurückzuführen, erklärt Leiterin Anja Mirasch im Jahresbericht. Die Bibliotheken waren in dieser Zeit zum Teil mehrere Monate geschlossen. Die Nutzer:innen müssten sich erst wieder an die Möglichkeit erinnern.
Um das voranzutreiben, hat die Einrichtung im Frühjahr ihr Foyer umgestaltet, „damit es noch mehr zum Verweilen einlädt“, so Mirasch. Das nächste Projekt soll die Gestaltung des Innenhofs werden. Denn auch für Mirasch ist klar, dass die Bibliotheken nicht nur ein Ort zum Bücherholen und -wieder-Abgeben sind. „Viele kommen, um Leuten zu begegnen, täglich die Zeitung zu lesen oder um den Veranstaltungen beizuwohnen.“ Und genau das ist laut Mirasch so wichtig. Für sie erfüllen Bibliotheken einen Bildungsauftrag, leisten nicht zuletzt auch Demokratieförderung. So finden vor Ort regelmäßig Diskussionsrunden statt, zuletzt im Vorfeld des Greifswalder Bürgerentscheids. Und sie beobachte immer wieder: „Mit einigen Angeboten kann man gesellschaftliche Gruppen zusammenbringen, die sich sonst nicht begegnen.“ Das Besondere: Niemand werde ausgeschlossen, die Bildung hier sei für alle da, so die Bibliothekschefin. Und damit sind sie eine der letzten öffentlichen Einrichtungen, in denen das ohne Einschränkungen so ist.
Auf den Schultern vieler Engagierter
Dass diese Angebote möglich sind, ist nicht zuletzt auch den hinter vielen Bibliotheken stehenden Fördervereinen zu verdanken. Neben den zur Verfügung stehenden Landesmitteln für öffentliche Bibliotheken werben sie weitere Drittmittel ein. Das sei auch in Greifswald ein Vorteil, berichtet Mirasch. Außerdem gebe es zahlreiche Kooperationspartner, die bei Veranstaltungen mithelfen oder Projekte anstoßen. Doch nicht alle Einrichtungen können dies vorweisen. Rostock und Greifswald sind gut aufgestellt. Vor allem in den ländlichen Gebieten wird die Struktur der Einrichtungen tendenziell jedoch kleiner, das Engagement um sie herum rarer.
Stadt-Land-Gefälle
Wenn es dort Büchereien gibt, verfügen sie in der Regel nicht über ein eigenes Gebäude, sondern nutzen meist Räume in Gemeindehäusern. Und es arbeiten auch nicht 20 Leute darin, sondern maximal zwei. Hinzu komme, so Mirasch als Verbandsmitglied der landesweiten Bibliotheken, dass die Finanzierung öffentlicher Bibliotheken zu den freiwilligen Leistungen der Kommunen zähle. Bei finanzieller Schieflage der Gemeinde fallen sie demnach, wie alle Kulturangelegenheiten, zuerst hinten runter. Mit Blick auf den Bildungsauftrag der Einrichtungen – vor allem auch der Demokratiebildung – sei das fatal. In den vergangenen fünf Jahren wurden die Bibliotheken in Eldena, Grimmen und Grabow geschlossen – aus wirtschaftlichen Gründen. Damit fallen jedoch auch Schulangebote in den Bibliotheken weg. Nicht alle Schulen könnten sich längere Anfahrtswege für ein Projekt in der nächstgelegen Stadt leisten, erläutert Mirasch. Damit gehen schnell Netzwerke verloren. Auch in Neustadt-Glewe hatten sich zuletzt massive Probleme beim Erhalt der städtischen Bibliothek angekündigt. Diese konnten mittlerweile mit dem Landesverband gelöst werden. Die Bibliothek bleibt.Um eine Lösung zu finden, habe der Landesverband der Bibliotheken dazu Gespräche aufgenommen.
Besonders auf dem Land gebe es generell nicht so viele öffentliche Angebote wie in den Städten. Daher müssen besonders dort Kultureinrichtungen, wie Bibliotheken, dringend erhalten werden, fordert Ramona Schütt. Sie ist nicht nur Bibliothekarin, sondern auch Busfahrerin für das öffentliche Nahverkehrsunternehmen Rebus. Fünf Tage die Woche lenkt sie einen Bücherbus durch den Landkreis Rostock, steuert von Pepelow über Gelbensande bis Lüssow insgesamt 54 Orte an. In einigen Gemeinden ist die nächste größere Bücherei mit öffentlichen Verkehrsmitteln weit entfernt, weil dort keine eigene existiert, etwa in Brodhagen, Groß Potrems oder Vorbeck im Rostocker Umland. In einigen Dörfern fährt die letzte Verbindung bereits um 16 Uhr, benötigt anderthalb Stunden inklusive Umsteigen in Güstrow für die knapp 18 Kilometer in die Hansestadt. „Die Landbevölkerung ist auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen und das ist meist schwierig“, erklärt Schütt.
Im Landkreis Rostock fährt die letzte rollende Bibliothek
Ihre fahrende Bibliothek ist wie auch die anderen Büchereien eine öffentliche Einrichtung des Landkreises, gehört aber heute zum Unternehmen Rebus. Entstanden sei die Idee des Bücherbusses nach der Wende, erklärt Schütt. In der DDR habe es in nahezu jeder Gemeinde eine Bibliothek gegeben. Durch die Kreisreformen nach der Wiedervereinigung fielen viele dieser Einrichtungen weg. Dafür wurden Bücherbusse bundesweit vom Staat eingesetzt. So gab es auch in Mecklenburg-Vorpommern mehrere der rollenden Bibliotheken. Heute hat Schütts Bücherbus mit dem Baujahr 1992 nicht nur historischen Wert, sondern auch ein Alleinstellungsmerkmal. „Er ist mittlerweile der einzige Bücherbus in MV“, erklärt Schütt. Seit 1996 fährt die Bibliothekarin über die Dörfer. Seitdem sind Trägerschaften für die anderen Bücherbusse in MV aus finanziellen Gründen weggebrochen. „Wir sind alle sehr froh, dass unser Bücherbus noch fahren darf“, betont sie.
Bis zu sechs Bücher können von den Nutzer:innen vier Wochen lang ausgeliehen und auch verlängert werden. Insgesamt 54 Haltestellen steuert sie mit ihrer fahrenden Bibliothek an und versorgt Kinder, Erwachsene und Senior:innen mit Büchern, Hörbüchern, DVDs, CDs und Kassetten. Besonders die Senior:innen auf den Dörfern wollten die digitale Entwicklung nicht mitmachen, erzählt die Bibliothekarin. Es gebe daher noch viele „klassische“ Leser:innen. Auch wenn der Bücherbus nicht den Komfort einer ganztägigen Öffnung bieten kann, sei es zumindest ein Kulturangebot, erklärt Schütt.
Büchereien werden zu Bühnen
„Es gibt immer noch ein verzerrtes Berufsbild der kaffeetrinkenden, Bücher über die Theke hebenden Bibliothekarin.“ Das sagt Martina Torner, Leiterin der Stadtbibliothek Gadebusch. Dabei bezeichnet sie sich und ihre Kollegin Jenni Schafranski unter anderem auch als Eventmanagerinnen. In der Kleinstadt organisiert Torner unter anderem Theater, Kabarett und Konzerte von Cello bis Rock. Bei Abendveranstaltungen wird die kleine Küche der Bibliothek zum Ausschank umfunktioniert. Torner und ihre Kollegin stemmen dann den Barbetrieb. „Vielleicht ist dem Nachwuchs nicht ganz klar, was der Beruf mit sich bringt oder bringen wird. Der Nachwuchs wird immer breitere Aufgaben haben, auch digital“, erklärt Torner. So finden sich in Gadebusch ähnliche digitale Medienangebote wie in Rostock: Whiteboards, Spielecomputer und Co-Working-Spaces.
Vielseitiges Aufgabenfeld, kreative Angebote
Dass es weit mehr als die klassische Ausbildung zur Bibliothekarin gibt, bestätigt auch Leiterin Anja Mirasch aus Greifswald. Unter ihren 23 Mitarbeiterinnen findet sich eine facettenreiche Ausbildungs- und Studienpalette: von Germanistin über Sozialpädagogin bis hin zur studierten Informationsmanagerin. Pro Jahr bekomme sie 35 bis 40 Bewerbungen, habe regelmäßig Schülerpraktikant:innen und Bundesfreiwilligendienstler:innen. Auch Bibliothekshelferinnen ohne eine Ausbildung gibt es. Und sie alle seien Gold wert, hebt Mirasch hervor. Denn jede Person bringe das Team an irgendeiner Stelle oder mit irgendeiner Idee weiter. Und – fügt sie hinzu – das wirkt sich auch auf die Bibliothek selbst aus. Während die in Greifswald vor allem auf das Thema Nachhaltigkeit setzt, bestimmen Themen rund um Natur und Garten beispielsweise die Bibliothek in Ludwigslust. Zum einen wegen des angrenzenden Parks, zum anderen, weil die Leiterin selbst gärtnert, weiß Mirasch. Einige Büchereien im Land verleihen auch ganz andere Sachen als nur Bücher, Filme oder Videospiele. In der Uwe-Johnson-Bibliothek in Güstrow beispielsweise setzt Leiter Tilmann Wesolowski besonders auf eine naturwissenschaftliche und technische Ausrichtung. Sogar Teleskope oder 3D-Drucker können dort ausgeliehen werden. Wegen ihrer Modernität wurde die Einrichtung im vergangenen Jahr beim Bundeswettbewerb als Bibliothek des Jahres ausgezeichnet. Als erste aus MV.
Neuerdings wird nicht nur Wissen vermehrt
An Kreativität mangelt es den Einrichtungen also nicht. Die Bücherei Gadebusch verleiht seit dem Jahr 2022 Saatgut. Damit war sie landesweit die erste mit einem solchen Angebot. Mittlerweile können Interessierte auch in Greifswald, Ribnitz-Damgarten und Wismar Saatgut ausleihen und nach erfolgreicher Ernte Samen für eine Weiternutzung zurückbringen. In Gadebusch sind derzeit 33 verschiedene Sorten im Onlinekatalog zu finden. Martina Torner freut sich über den großen Erfolg des Angebots: Die Nutzer:innen bringen regelmäßig ihre Ernte oder bereits neu gewonnene Samen in die Bibliothek. „Wenn etwas übrig bleibt, stellen wir die Lebensmittel auch kostenlos vor die Tür“, erzählt sie. Vom gleichen Erfolg berichtet auch Anja Mirasch aus Greifswald. Nach der Eröffnung ihres Saatgutangebots haben sich die Nutzungsanmeldungen für die Bibliothek noch einmal sprunghaft erhöht. Viele seien dankbar dafür, auf regional angebaute Pflanzensamen zurückgreifen zu können, anstatt massenproduzierte aus dem Baumarkt erwerben zu müssen. Dabei stehe für viele auch der Nachhaltigkeits- und der Gemeinschaftsgedanke im Vordergrund. Man teilt.
Gadebusch ist beim Teilen noch einen Schritt weiter gegangen und verfügt zusätzlich über eine Bibliothek der Dinge. Neben Messgeräten für den Stromverbrauch zuhause, Projektoren und sogar alten Rekordern können auch Keramikboxen und Experimentierkästen für Kinder ausgeliehen werden.
Technik kommt und geht, Bücher bleiben
Die Selbstverständlichkeit, sich als Bibliothek insgesamt vielfältig aufzustellen, zieht Martina Torner aus ihren Erfahrungen in der freien Wirtschaft, erzählt sie. Nachdem sie den Beruf in Gadebusch gelernt und elf Jahre im Bibliothekswesen gearbeitet hatte, wechselte Torner in ein Logistikunternehmen. Nach 18 Jahren kehrte sie als Bibliotheksleiterin in ihren Heimatort Gadebusch zurück. Für sie war klar, dass ihre Besucher:innen sich wie in einem Wohnzimmer fühlen sollen, zu dem jede:r Zutritt hat. Die Leiterin setzt bei der Gestaltung der Bibliothek nicht nur auf ansprechende Ästhetik, sondern auch auf die Zusammenarbeit mit regionalen Möbelherstellern. Für sie werbe eine ansprechende Bibliothek auch für die Stadt oder Region als einen Ort zum Leben.
Denn am Ende seien Bibliotheken eben auch Orte der Begegnung. Daher plädiert Torner ebenfalls dafür, „der Technik nicht alles zu überlassen“. Gegen einen Selbstverbuchungsautomaten spreche für sie prinzipiell nichts, besonders in kleinen Gemeinden sei es aber sehr wichtig, den persönlichen Kontakt zu wahren.
Anja Mirasch aus Greifswald ist sich sicher: Neue Medien werden sich immer mal wieder gegenseitig ablösen. Ihr DVD-Bestand sei zum Beispiel auch langsam nicht mehr so gefragt wie noch vor ein paar Jahren. Bücher jedoch werde es in irgendeiner Form wohl immer geben. Und am Ende kommen viele Menschen nicht nur wegen des Leseangebots, sondern für den gegenseitigen Austausch – ob materiell oder gedanklich.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 21 von KATAPULT MV.
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Autor:innen
Redaktionsleitung bei KATAPULT MV.
Ist in Greifswald geboren, hat in Augsburg studiert und zog für den Lokaljournalismus wieder zurück nach Meck-Vorp.