Ein Mann, eine Frau und ein Kleinkind, nicht älter als zwei Jahre, stehen am Bahnhof in Boizenburg. Es ist nach 20 Uhr und ein kalter Wind weht über den Bahnsteig. Suchend schauen sie sich um, sprechen Passanten an, wirken orientierungslos. Sie laufen Gleis auf, Gleis ab und bleiben dann doch am Bahnsteig sitzen.
Eine junge Frau aus Boizenburg spricht sie an und stellt schnell fest: Die Familie kommt von weit her. Es sind Ukrainer auf dem Weg zur Erstaufnahmeeinrichtung. Wie sie dorthin kommen sollen, wissen sie nicht. In der Hand halten sie nur eine Adresse und die Nummer eines Rufbusses.
Die Boizenburgerin wählt die Nummer, muss viele Angaben machen, warten und nach einer halben Stunde am Telefon feststellen, dass der Rufbus erst in zwei Stunden vor Ort wäre. Sie radelt nach Hause, holt ihr Auto und wird der Familie helfen, ihr Ziel nach einer langen Reise zu erreichen.
Dies ist die Schilderung der jungen Frau aus Boizenburg. Sie beschreibt eine Szene, die so oder so ähnlich immer wieder am dortigen Bahnhof zu beobachten ist. Geflüchtete erreichen die Stadt auf der Suche nach Horst. Dass Horst kein Mann ist, sondern ein Ort, ist manches Mal die erste Information, die den Ankommenden fehlt. Wie man vom Boizenburger Bahnhof ins gut neun Kilometer entfernte Horst kommen soll, ist eine ganz andere Frage.In Horst (offiziell: Nostorf-Horst) befindet sich die Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Es ist oft die erste Anlaufstelle für geflüchtete Menschen aus aller Welt. In den ersten vier Monaten des Jahres 2023 kamen 1.696 Flüchtlinge hier unter. Die allermeisten von ihnen reisten per Zug an.
Erstverteilung geschieht über Computersystem
Geflüchtete werden in Deutschland nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. Sie kommen in verschiedenen Teilen des Landes an und manche von ihnen werden nach Mecklenburg-Vorpommern geschickt. Dafür bekommen sie eine Bahnfahrkarte sowie eine Anlaufbescheinigung mit Zieladresse und persönlichen Daten, wie Renate Gundlach, Sprecherin des Landesinnenministeriums, erklärt. „Die Asylbewerber sollen sich in der Regel innerhalb von drei Tagen in die Erstaufnahmeeinrichtungen begeben. Die Ankunftszeiten in Boizenburg hängen davon ab, aus welchem Bundesland die Flüchtlinge kommen und welchen Zug sie gewählt haben“, so Gundlach.
Und genau da liegt das Problem. Denn den Ämtern liegen zwar Informationen darüber vor, wie viele Flüchtlinge Mecklenburg-Vorpommern zugewiesen wurden, nicht aber, „wann diese losgefahren sind und in Boizenburg ankommen“, so Gundlach. Und so sieht man regelmäßig die suchenden Augen und fragenden Blicke von Geflüchteten, die nicht wissen, wie sie nach Horst kommen sollen.
Behörden informieren mit Tafeln
Boizenburgs Bürgermeister Rico Reichelt (Die Linke) kennt das Problem. Wie viele andere habe auch er schon Ankommende privat nach Horst gefahren. Am liebsten würde er einen Shuttleservice für die Geflüchteten anbieten, sagt er, doch zu jeder Tageszeit einen Fahrer zu stellen, sei der Stadt nicht möglich. „Wir als Stadt bräuchten Informationen dazu, wann Geflüchtete ankommen“, so Reichelt. Doch diese Information ist nirgends vermerkt und kann deswegen nicht geteilt werden.
Die Behörden setzen deshalb auf Informationen vor Ort. Seit Kurzem hat das Landesamt für Migration eine neue Infotafel am Busbahnhof angebracht. In fünf Sprachen, darunter Französisch, Arabisch und Russisch, beinhaltet sie Informationen darüber, dass der Ort Horst mehrere Kilometer vom Bahnhof entfernt liegt.
Der Tafel ist auch zu entnehmen, wie die Geflüchteten die Erstaufnahmeeinrichtung erreichen sollen: mit dem Bus, der montags bis freitags zwischen 6 und 18 Uhr siebenmal fährt. Um 18:03 Uhr setzt sich dieser Bus allerdings zum letzten Mal in Bewegung. Danach oder am Wochenende sind die Ankommenden angehalten, sich ein Taxi über die ebenfalls angegebene Nummer zu bestellen. Dieses können Geflüchtete kostenfrei nutzen. „Uns sind weder positive noch negative Rückmeldungen von Bewohnern der Erstaufnahmeeinrichtung bekannt. Das spricht aus unserer Sicht dafür, dass die Informationen am Bahnhof sie ausreichend in die Lage versetzen, Horst zu erreichen“, sagt Sprecherin Gundlach.
Informationen am Bahngleis fehlen, Taxis auch
Ulli Quast sieht das anders. Er engagiert sich seit Jahren ehrenamtlich für Flüchtlinge im Ort und ist Initiator der Willkommensinitiative Boizenburg. Er sagt: „Die Tafel ist besser als gar nichts, aber eigentlich ist es zu wenig.“ Er habe es oft erlebt, dass die Flüchtlinge hilflos seien. „Sie landen hier und haben oft keine Ahnung, dass die Erstaufnahmeeinrichtung noch weit von Boizenburg weg ist. Da wäre es doch optimal, wenn die Stellen, die die Leute herschicken, auch die Informationen teilen, die auf den Tafeln stehen. Die Kommunikation ist einfach nicht da, das sehe ich als noch wichtiger an als die Informationstafeln“, sagt Quast.
Denn trotz der Informationstafel stehen die Ankommenden vor mehreren Herausforderungen, wie etwa, die Informationen überhaupt zu finden. Angebracht ist das Schild am Busbahnhof – nur ein paar Meter vom Bahngleis entfernt. Um es zu sehen, muss man jedoch wissen, dass die Bushaltestelle sich um die Ecke befindet. Wer aus Richtung Schwerin per Zug ankommt, muss zudem erst eine Unterführung passieren, um am Busbahnhof auf der anderen Seite der Gleise anzukommen. Aufgrund der dürftigen Beschilderung sind diese lokalen Zusammenhänge selbst für Muttersprachler oft schwer zu durchschauen. „Es wäre natürlich super, wenn direkt am Bahngleis, am besten auf beiden Seiten, Informationen zu finden wären. Das ist Bahngelände und Aushänge müssen von der Bahn genehmigt werden. An der Stelle sind wir damals nicht weitergekommen“, erinnert sich Ulli Quast, der sich im Jahr 2015 erstmals für eine Infotafel einsetzte.
Haben Ankommende die Information gefunden, stehen sie vor weiteren Herausforderungen. Außerhalb der Busfahrzeiten braucht es ein Mobiltelefon mit Guthaben und grundlegende Sprachkenntnisse, um ein Taxi zum Bahnhof zu bestellen. Ein zusätzliches Problem: Taxen sollen in Boizenburg oft schwer zu bekommen sein. „Der Taxidienst lief damals, und nach meiner Information auch heute noch, sehr schlecht. Die ortsansässigen Taxiunternehmen sind zu bestimmten Zeiten schwer erreichbar“, sagt Quast. Und tatsächlich, ein Testanruf in den Abendstunden bestätigt die schlechte Erreichbarkeit – niemand nimmt ab. Wie viele Geflüchtete den Taxiservice bereits genutzt haben und wie lange man durchschnittlich auf ein Taxi warten muss – diese Fragen bleiben unbeantwortet, der Taxiunternehmer reagiert trotz mehrerer Anfragen nicht.
Situation in Boizenburg ist einzigartig
Das Problem, es sei so alt wie die Erstaufnahmeeinrichtung selbst, sagt Ulrike Seemann-Katz vom Flüchtlingsrat MV. „In der Vergangenheit hat auch öfter die Polizei Geflüchtete nach Horst gefahren. Fehlende Kindersitze in den Streifenwagen sind dabei jedoch das Problem“, so Seemann-Katz. Eine optimale Lösung scheint schwer zu finden und Vorzeigebeispiele aus anderen Regionen gibt es nicht. „Zwar liegen auch anderswo die Unterkünfte oft am Stadtrand, aber zumeist sind diese fußläufig erreichbar“, sagt Seemann-Katz.
Ob die frisch angebrachten Informationstafeln am Boizenburger Busbahnhof wirklich helfen, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Ulli Quast und viele andere Boizenburger werden die Augen jedenfalls offen halten und helfen, wenn es nötig ist. Und sollten die knapp neun Kilometer weiter ein Problem sein, kündigt Ulrike Seemann-Katz jetzt schon an, werde man „erneut in die Diskussion mit dem Landesamt gehen“.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 21 von KATAPULT MV.
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