Sie liegt abgelegen in einem Wald, rund sechs Kilometer von der Kleinstadt Boizenburg entfernt. Genau im Grenzdreieck zu Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Die Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete und Asylsuchende des Landes Mecklenburg-Vorpommern, auf einem ehemaligen Kasernengelände in Nostorf-Horst. In den Gebäuden können bis zu 600 Geflüchtete untergebracht werden.
Seit 30 Jahren ist es die erste Unterkunft für Migrant:innen, die nach MV kommen. Initiativen wie Pro Bleiberecht, Women in Exile oder der Flüchtlingsrat MV fordern seit Jahren, die Unterkunft zu schließen. Sie sei „keine Häuslichkeit, sondern eine Zwangslage“. Seit Jahren gebe es dort weder eine ausreichende Versorgung, wie eine umfangreiche Seelsorge oder Therapiemöglichkeiten, noch entsprechend geschultes Personal. Und das, obwohl viele Menschen auf ihrer Flucht psychische und physische Gewalt erfahren mussten. Hinzu komme, dass Geflüchtete dort nach wie vor abgeschottet von der Gesellschaft an den Rand des Bundeslandes geschoben werden. Deshalb stehe die Einrichtung bis heute symbolhaft für den anhaltenden institutionalisierten Rassismus.
Mehr dazu: Interview mit ehemaliger Bewohnerin
Das liege mitunter daran, dass die Gesetze im Asylbereich nach wie vor rassistisch angelegt seien, sagt Ulrike Seemann-Katz vom Flüchtlingsrat MV. Und diese Verankerung von Rassismus in der Rechtsordnung sei nicht über Jahre gewachsen, sondern beständig, seitdem das Asylrecht erstmals stark beschnitten wurde. Das passierte im Zuge des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen.
Von Lichtenhagen nach Nostorf-Horst
Mecklenburg-Vorpommerns erste zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (Zast) befand sich bis 1992 in Rostock-Lichtenhagen. In einem elfgeschossigen Wohnblock mit Sonnenblumenmosaik an der Seite waren sowohl die Anmeldestelle als auch die knapp 300 Unterkünfte für Asylbewerber:innen untergebracht. In den anderen Aufgängen des Blocks waren Wohnungen.
Als nach der Wende die Zahl der Migrant:innen immer weiter anstieg, dachten Landes- und Kommunalpolitik über eine neue Aufnahmestelle mit mehr Kapazität nach. Im Fokus stand bereits 1991 ein ehemaliges Kasernengelände in Rostock-Hinrichshagen, wo bis zu 600 Menschen hätten untergebracht werden können, doppelt so viele wie in Lichtenhagen. Der Ort sollte jedoch nur als Übergangslösung dienen, bis eine passendere Anlaufstelle woanders gefunden wäre. Denn, so habe es damals geheißen, für den Tourismus im angrenzenden Graal-Müritz sei eine dauerhafte Stelle dort „nicht vorteilhaft“, erzählt die Wissenschaftlerin Cindy Harder, die sich im Rahmen ihrer Promotion an der TU Chemnitz mit der Aufarbeitung der damaligen Ereignisse beschäftigt. Bezugsbereit war die Unterkunft im Juni 1992. Die Asylbewerber:innen wurden jedoch erst im August unter anderem dorthin gebracht, kurz bevor die Situation in Lichtenhagen eskalierte.
Die Zast war bereits in den Monaten zuvor weit über ihre Kapazitätsgrenzen ausgelastet. Die Mitarbeitenden kamen mit dem Bearbeiten immer neuer Anträge nicht hinterher, sodass in der Spitze rund 400 Asylbewerber:innen zum Teil tagelang vor der Unterkunft ausharren mussten. Der Unmut der Bevölkerung eskalierte im August 1992 dann unter großer medialer Aufmerksamkeit.
Räumliche Trennung, Auslagerung und Isolation
Eine Alternative zu Lichtenhagen und der Übergangslösung Hinrichshagen musste her. Eine günstige Lösung fand sich auf einem ehemaligen Kasernengelände in Nostorf-Horst. Die war bereits in Landesbesitz und somit schnell einzurichten. Andere Ideen, etwa andere ehemalige Kasernen in Hagenow, Storkow, Tramm oder Goldberg, wurden aufgrund starker Proteste der dortigen Bevölkerung wieder fallen gelassen, erzählt Harder.
Für Ulrike Seemann-Katz vom Flüchtlingsrat MV zeigt das deutlich, wie sehr sich die Politik habe in die Knie zwingen lassen. Man wollte mit der Lösung Nostorf-Horst den Unruhen ein Ende setzen und die Migrant:innen „aus der Schusslinie bringen“, zum Schutz vor den Rechtsextremen, aber auch aus den Augen der unzufriedenen Gesellschaft. Das ergab den geringsten Widerstand und eine vorerst schnelle Lösung. Cindy Harder sieht diese Problemlösung als offen rassistisch, denn die Idee der räumlichen Trennung, Auslagerung und Isolierung Asylsuchender sei offensiv durchgesetzt worden.
Als weiterer Vorteil angepriesen wurde, dass kurze Zeit später auch die zuständigen Behörden bei Asylfragen mit auf das Gelände in Horst ziehen konnten. So waren Asylanträge schneller zu bearbeiten, lange Fahrtwege wurden vermieden und alles war an einem Ort zentralisiert. „1992 war das ein relativ neuartiges Konzept“, erklärt Hannah Berth von Pro Bleiberecht. Heute nennt sich so etwas Ankerzentrum. Das größte Problem dabei sei, dass die Menschen vor Ort abgeschottet werden. Bei dezentraler Unterbringung hätten Asylsuchende besseren Zugang zu Vereinen und Initiativen und damit zu mehr Unterstützungsmöglichkeiten. „Diese Normalität, dass die Lösung eine Isolation ist anstatt Asylsuchende Teil der Gesellschaft sein zu lassen, ist rassistisch“, findet die Aktivistin, die regelmäßig bei Mahnwachen und Demonstrationen für eine bessere und vor allem antirassistische Asylpolitik eintritt. Denn die habe sich seit 1992 so gut wie nicht weiterentwickelt. Und wenn, dann nur zum Schlechteren.
Asylpolitik in der Bundesrepublik
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Bundesrepublik eines der wenigen Länder, die einen Grundsatz der kurz zuvor aufgestellten Menschenrechtskonvention in ihre eigene Verfassung aufnahmen. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, hieß es in Artikel 16, in enger Anlehnung an die Formulierung der Konvention. Damit war es politisch verfolgten Migrant:innen relativ einfach möglich, Asyl zu bekommen. Bis 1977 wurde das nahezu jedem Geflüchteten gewährt. Vor allem waren das Menschen aus dem Ostblock, die dort politisch verfolgt wurden. Damals gab es nicht mehr als 1.000 Asylanträge pro Jahr. Viel mehr Menschen kamen dagegen als eingeladene Gastarbeiter:innen. Mit dem Militärputsch in der Türkei Ende der Siebzigerjahre stiegen die Zahlen dann schlagartig an, auf mehr als 100.000 im Jahr.
Mit weiteren Kriegen und Krisenherden setzte sich der Trend ab Mitte der Achtzigerjahre fort, weshalb bis 1992 die Asylanträge in Deutschland auf mehr als 400.000 im Jahr anstiegen. Geflüchtete kamen aus dem Iran, dem Irak, dem Libanon, dem ehemaligen Jugoslawien oder aus Rumänien. Es begannen die ersten politischen Debatten um eine Einschränkung des Asylrechts. Der Zuzug weiterer Migrant:innen sollte vermieden werden, so der Tenor. Im Koalitionsvertrag der damaligen schwarz-gelben Regierung heißt es explizit: „Deutschland ist kein Einwanderungsland.“ Durch eine bürokratische Verschärfung der Asylverfahren wollte die Politik eine Flucht in die Bundesrepublik weniger attraktiv erscheinen lassen und sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ abschrecken.
DDR: Von Vertragsarbeiter:innen zu Asylbewerber:innen
In der DDR hingegen gab es lange Zeit vergleichbar wenige Asylbewerber:innen. Es kamen vor allem Vertragsarbeiter:innen, die meisten aus Vietnam. Erst im Zuge der Wiedervereinigung wurden auch die neuen Bundesländer in die Aufnahme von Geflüchteten miteinbezogen. Anteilig wurden sie auf die neuen Bundesländer verteilt, zwei Prozent kamen nach MV.
Neben der Umbruchzeit, den damit verbundenen Umstrukturierungen von Politik und Verwaltung, unsicheren Zukunftsaussichten und hoher Arbeitslosigkeit sorgte die plötzliche Aufnahme einer großen Zahl von Geflüchteten bei manchen für Unverständnis, Verärgerung und Hass. Das wurde nicht zuletzt auch von rechten Gruppen ausgenutzt und weiter befeuert.
So wurden auch in den neuen Bundesländern die Stimmen nach einer Verschärfung des Asylrechts lauter. Nach zahlreichen Ausschreitungen, die ihren vorläufigen Höhepunkt im Pogrom von Rostock-Lichtenhagen fanden, beugte sich die Politik dem Druck der Bevölkerung. Bis dahin hatten die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP schon mehrfach für die Einschränkung von Artikel 16 plädiert, waren aber an der nötigen Mehrheit im Bundestag gescheitert. Wenige Wochen nach dem Pogrom entschieden sich auch die bisher hadernden Oppositionsparteien, den Antrag zu unterstützen. Die SPD-Führung gab dabei bereits kurz vor der Eskalation in Lichtenhagen, zu Beginn des Pogroms am 22. August, bekannt, dass sie bereit sei, die von der CDU und FDP lange geforderte Änderung des Grundrechts auf Asyl mitzutragen. Aus dem Recht „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ wurde Artikel 16a. Das Recht auf Asyl blieb im Grundsatz erhalten, wurde jedoch durch vier Unterpunkte an Bedingungen geknüpft, die als sehr schwer erfüllbar gelten. Im Mai 1993 wurde die Änderung rechtskräftig. Sie gilt bis heute.
Asylgesetze seit 30 Jahren praktisch unverändert
Mit dem geänderten Grundgesetzartikel begann auch eine Welle neuer Sozial- und Asylrechtsbeschränkungen, die sich in den letzten 30 Jahren kaum verändert und in jedem Fall die Lage der Betroffenen nicht vereinfacht haben.
Die Möglichkeit, in Deutschland überhaupt ein Asylverfahren zu bekommen, wurde stark erschwert. Nach der Drittstaatenregelung, die kurz nach der Grundgesetzänderung eingeführt wurde, dürfen nur Personen in Deutschland Asyl beantragen, die direkt gekommen und nicht über ein anderes als sicher geltendes Land eingereist sind. Im Fall von Deutschland, das umgeben von EU-Staaten ist, quasi unmöglich. Diese Regelung wurde sogar ins EU-Recht übernommen.
Auch die Einstufung sicherer Herkunftsländer ist ein seit den Neunzigerjahren bestehendes Konzept. Hat die Bundesregierung ein Land offiziell als sicher eingestuft, müssen Asylbewerber:innen beweisen, dass sie dort politisch verfolgt werden. Das sei äußerst schwer in Dokumenten zu erfassen, bemängelt Pro Bleiberecht. Grundsätzlich ignoriere das Konstrukt, dass das Menschenrecht auf Asyl unteilbar ist, was auch die Herkunft eines Menschen betreffe, sagt Seemann-Katz.
Für eine schnellere Abschiebung von Migrant:innen wurde 1993 das bis heute bestehende Flughafenverfahren eingeführt. Asylanträge können so direkt am Flug- oder Seehafen entschieden werden. Ebenso entstand damals die Regelung der befristeten Aufenthaltstitel. Eine Aufenthaltserlaubnis kann seitdem zeitlich begrenzt werden, in der Regel auf drei Jahre. Vor ihrer Verlängerung muss sie noch einmal umfassend geprüft werden.
Sozialleistungen für Asylsuchende unter Existenzminimum
Bis Asylbewerber:innen einen Aufenthaltstitel bekommen, müssen sie warten. Der Zeitraum kann von wenigen Wochen bis hin zu Jahren reichen. In dieser Zeit werden sie mit Sozialleistungen unterstützt. Allerdings sind die bis heute deutlich niedriger als bei deutschen Bürger:innen. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bekommen Bewerber:innen seit 2021 monatlich 364 Euro. Das liegt unter Hartz-4-Niveau, dem Existenzminimum von 446 Euro. Solange sie noch in Erstunterkünften untergebracht sind, wird die Summe in Sachleistungen erbracht, wie Lebensmittel, Kleidung oder Gutscheine, nur in Ausnahmefällen als Taschengeld. Hannah Berth von Pro Bleiberecht nennt das AsylbLG „ein rassistisches Parallelgesetz, das Asylsuchenden weniger Leistungen zuspricht als anderen“.
Hinzu kommen die unzureichenden Gesundheitsleistungen, sagt Seemann-Katz. Asylbewerber:innen sind in Deutschland nicht krankenversichert, können sich auch keinen Arzt oder keine Ärztin selbst aussuchen, sondern werden zugeteilt. In Nostorf-Horst gibt es eine Zusammenarbeit mit der örtlichen Klinik und Ärzt:innen. Anders als in anderen Bundesländern, wie Berlin, Schleswig-Holstein, Bremen, Hamburg und Thüringen, bekommen Asylbewerber:innen in MV keine Krankenkarte. Sie können nur mit Behandlungsscheinen, die zuvor beim Sozialamt beantragt werden müssen, ärztliche Hilfe aufsuchen.
Diese Regelungen greifen insgesamt massiv in den Bewegungsradius von Asylbewerber:innen ein, was durch die geltende Residenzpflicht noch verstärkt wird. So heißt das Gebot, den vorerst zugewiesenen Landkreis nicht zu verlassen.
Zaghafte Fortschritte
Einige positive Veränderungen gab es seit den Neunzigerjahren jedoch: Asylbewerber:innen dürfen mittlerweile arbeiten, einige haben einen Anspruch auf weitere Sozialleistungen erworben, beispielsweise auf Bafög.
Dazu wurde das Bleiberecht geändert: Seit 2007 garantieren die Paragrafen 25a und b des Aufenthaltsgesetzes einen sogenannten Chancenaufenthalt und damit die Aussicht auf einen Aufenthaltstitel, wenn Asylbewerber:innen bereits acht Jahre in Deutschland leben. Der Zeitraum wurde Anfang Juli auf fünf Jahre verringert. Bereits zu Beginn dieses Jahres hatte MV in Eigenregie eine solche Regelung als Kulanzklausel eingeführt. Die hatte aber bisher keine bindende Wirkung auf die Entscheidungen der zuständigen Ausländerbehörde, erklärt der Flüchtlingsrat. Außerdem kritisiert die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, dass die neue Regelung wiederum nur einen Aufenthaltstitel auf Probe beinhalte und das nur für ein Jahr. Um auch in Zukunft Kettenduldungen zu vermeiden, fordert die Organisation eine Entfristung. Sie war es auch, die die Bundesländer mit der Kampagne „#RechtAufZukunft“ dazu aufrief, in Eigenregie mit Vorgriffserlassen Abschiebungen zu verhindern.
Nach Meinung von Pro Asyl und dem Flüchtlingsrat MV könnte die Regierung ebenso wie bei diesen selbstinitiierten Änderungen in der landesweiten Asylpolitik auch weitere Maßnahmen anstoßen, wie etwa die Unterbringung von Geflüchteten verbessern.
Warum Nostorf-Horst schließen sollte
Indem die Zentralisierung von Behörden und Asylsuchenden in Nostorf-Horst beibehalten werde, versuche man, die Abschottung von Migrant:innen von der Gesellschaft und schlussendlich auch ihre Diskriminierung zu legitimieren, findet der Flüchtlingsrat. Die geografische Nähe zu Behörden, um schnellere Verfahren zu garantieren, sei im Zeitalter von Internet und Apps zu hinterfragen. Nötige Informationen und Unterlagen können digital viel schneller übermittelt werden. Mit einer dezentralen Verteilung von Geflüchteten wäre die Chance auf eine nachhaltige Integration zudem viel realistischer. Man könne sich gegenseitig kennenlernen, Verständnis wecken.
Zumindest müssten in Horst selbst das Beratungsangebot und die psychische Betreuung ausgebaut, Schutzräume geboten werden. Laut Seemann-Katz habe sich im Zuge der Corona-Pandemie zumindest die Kommunikation mit externen Vereinen schon etwas verbessert. Beide Seiten bemühten sich. Aber das Problem, überhaupt Zutritt zu bekommen, bleibe, bemängeln Pro Bleiberecht oder Women in Exile. Die meisten Anfragen für Besuche würden abgelehnt. Außerdem müsse für Personal, Versorgung und Sicherheit auch ausreichend Geld zur Verfügung gestellt werden, räumt Seemann-Katz ein. Das sei in MV nur bedingt der Fall.
Seit 2015 gibt es eine weitere Unterkunft für Asylsuchende in Stern-Buchholz bei Schwerin. Sie wurde eröffnet, als die Zahl Geflüchteter unerwartet anstieg, heißt es auf der Internetseite des Landesamtes für innere Verwaltung. Das sei keine bessere Lösung als Horst, aber zumindest werde das soziale Klima dort positiver wahrgenommen, so Seemann-Katz. Das Problem: Diese Unterkunft gehört nicht dem Land. Das Innenministerium MV teilt auf Anfrage mit, dass etwaige Erweiterungen immer in Abstimmung mit dem Finanzministerium und durch die Staatliche Bau- und Liegenschaftsverwaltung vorgenommen werden könnten. Über die konkrete Unterbringung an den einzelnen Standorten entscheide zudem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
Zusätzlich existierte noch eine Wohnunterkunft in Basepohl im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. 2015 und 2016 waren dort rund 3.000 Geflüchtete untergebracht. Später sollte sie nur noch als Reservestandort genutzt werden. 2019 wurde sie dann aber vom Land abgegeben und stehe nicht mehr zur Verfügung, so eine Sprecherin des Innenministeriums. Damit spare das Land monatlich mehrere Hunderttausend Euro ein.
Neue Regierung bleibt unkonkret
Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, die Ankerzentren schließen zu wollen. Wann genau, ließ sie offen.
Der Flüchtlingsrat MV hofft, dass die neue Landesregierung zumindest wie angekündigt die seit 2001 geltenden Richtlinien für Gemeinschaftsunterkünfte für geflüchtete Menschen überarbeitet. Noch sehe es aber nicht danach aus. In einer Pressemitteilung schreibt der Verein Ende vergangenen Jahres: Die Koalitionsvereinbarung setze zwar mehr auf eine interkulturelle Öffnung anstatt auf die Durchsetzung von Abschiebungen, die wesentlichen Punkte seien aber sehr vage formuliert. Besonders enttäuschend sei es, dass sich im ganzen Vertrag kein einziger Hinweis auf eine Verbesserung der Unterbringungssituation Asylsuchender finde. Vor der Wahl hatten das 33 Organisationen und Institutionen gefordert. Die Linke versprach deren Umsetzung, die SPD sagte zu, sie zu prüfen.
So oder so bleibe aber auch weiterhin „ein Auf und Ab“, bilanziert Seemann-Katz. „Die grundsätzliche Krux sind die geteilten Zuständigkeiten zwischen Sozial- und Innenministerium“, sagt sie. Ersteres sei für die Integration von Geflüchteten zuständig, für ihr Asylverfahren aber das Innenministerium. Nicht nur in MV scheine es die Aufgabe der Innenpolitik – früher wie heute – zu sein, eine Zuwanderung und die dafür erhobenen Voraussetzungen nicht so attraktiv zu machen, um nicht noch mehr Menschen dazu zu animieren. Dabei werde jedoch die Perspektive der Geflüchteten vergessen, die weniger wegen attraktiver Lebens- und Arbeitsbedingungen ihre Heimat verlassen, sondern in den meisten Fällen, weil sie vor Krieg fliehen, verfolgt, bedroht und diskriminiert werden, ihnen Steinigung oder andere Todesstrafen drohen.
Und solange die Entscheidung über die Asylpolitik beim Innenministerium liege, werde sich an den bestehenden Regelungen und Zuständigkeiten nichts ändern, ist Seemann-Katz überzeugt. Und ebenso wenig an der institutionalisierten Diskriminierung von ausländischen Bürger:innen.
Der Artikel erschien in unserer aktuellen Zeitung. Sie ist eine Sonderausgabe zum Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992 und seinen Folgen bis heute. Sie kann im KATAPULT-Shop bestellt werden. Weitere Artikel zum Thema gibt es auf unserer Themenseite.
Quellen
- Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Rostock-Lichtenhagen 1992: Höhepunkt einer Welle rechter Gewalt, auf: boell-mv.de (24.5.2022).↩
- Flägel, Victoria; Graschl, Lilly: Das Pogrom am Sonnenblumenhaus, in: KATAPULT MV, Ausgabe 11, S. 6f.↩
- Hasselmann, Silke: Protokoll einer Eskalation, auf: deutschlandfunk.de (22.8.2017).↩
- Lohro (Hg.): Von Lichtenhagen nach Nostorf-Horst – Die Nachgeschichte der Zast, auf: media.lohro.de.↩
- Soziale Bildung (Hg.): Webdokumentation „Rostock-Lichtenhagen 1992“, auf: app.lichtenhagen-1992.de.↩
- AnkER steht für „Zentrum für Ankunft, Entscheidung, Rückführung“.- Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD in MV 2018, S. 107.↩
- Engler, Marcus; Schneider, Jan: Asylrecht, Flüchtlingspolitik und humanitäre Zuwanderung in der Bundesrepublik, auf: bpb.de (29.5.2015).↩
- Ebd. / Prenzel, Thomas: 20 Jahre Rostock-Lichtenhagen. Kontext, Dimensionen und Folgen der rassistischen Gewalt, S. 11 (2012).↩
- Ebd. S. 22.↩
- Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Rostock-Lichtenhagen 1992: Höhepunkt einer Welle rechter Gewalt, auf: boell-mv.de (24.5.2022).↩
- Prenzel, Thomas: Vor 30 Jahren: Die rassistisch motivierten Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen, auf: bpb.de (17.8.2017).↩
- Bach, Christine: CDU, CSU, FDP und SPD einigen sich auf eine Neuregelung des Asylrechts, auf: kas.de.↩
- Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Rostock-Lichtenhagen 1992: Höhepunkt einer Welle rechter Gewalt, auf: boell-mv.de (24.5.2022).↩
- Ebd.↩
- Flüchtlingsrat Niedersachsen (Hg.): Wer bekommt Asyl?, auf: nds-fluerat.org.↩
- Flüchtlingsrat Baden-Württemberg (Hg.): Sozialleistungen für Flüchtlinge, auf: aktiv.fluechtlingsrat-bw.de.↩
- Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (Hg.): Methodensammlung „Lichtenhagen im Gedächtnis“, auf: politischbilden.de / Eckl, Florian: Ob Bayern oder Bremen ist für Flüchtlinge ein großer Unterschied, auf: welt.de (6.4.2016) / Niedersächsische Staatskanzlei (Hg.): Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, auf: flüchtlinge.niedersachsen.de.↩
- Verbraucherzentrale (Hg.): Medizinische Versorgung von Asylbewerbern, auf: verbraucherzentrale.de (9.3.2022).↩
- § 25 b AufenthG / Flüchtlingsrat Niedersachen (Hg.): Bleibeperspektiven außerhalb des Asylverfahrens, auf: nds-fluerat.org.↩
- Bundesministerium des Innern und für Heimat (Hg.): Bundesregierung beschließt erstes Migrationspaket, auf: bmi.bund.de (6.7.2022).↩
- Pro Asyl (Hg.): Chance vertan? Erster Umsetzungsvorschlag fürs Chancen-Aufenthaltsrecht enttäuscht, auf: proasyl.de (20.6.2022).↩
- Süddeutsche Zeitung (Hg.): Land gibt Kaserne als Flüchtlings-Reserveunterkunft auf, auf: sueddeutsche.de (27.11.2018).↩
- SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP (Hg.): Koalitionsvertrag 2021-2025, S. 111.↩
- Flüchtlingsrat MV (Hg.): Koalitionsvereinbarung teils enttäuschend – Kritische Begleitung notwendig, auf: fluechtlingsrat-mv.de (9.11.2022).↩
- Flüchtlingsrat MV (Hg.): Gemeinschaftsunterbringung M-V: Positionspapier und Antworten, auf: fluechtlingsrat-mv.de (26.8.2021).↩