Montagabend, 18 Uhr, Trecker mit Flutlicht und arschkalt. Gemeinsam mit 3.500 anderen Leuten und einer Handvoll Deutschlandflaggen – nicht bei uns – stehen wir auf dem Stralsunder Marktplatz an einer kleinen, hell beleuchteten Bühne. Aus Boxen, die an den Seiten aufgebaut sind, dröhnt elektronische Musik. Bass ist da, denken wir. Manche nicken im Takt. Direkt vor einer Box verstehen wir uns gegenseitig nicht mehr. Ein bisschen wie eine große Party, könnte man meinen. Ist es aber nicht.
Die Bürgerschaftsfraktion „Bürger für Stralsund“ (BfS) hat mit Unterstützung der CDU zur Demo geladen. Es sei mit weit weniger Menschen gerechnet worden, sagt uns die Polizei vor Beginn. 350 bis 400 Personen. Auch die Veranstalter äußern Verwunderung über die weit größere Zahl an Teilnehmer:innen. Sonderlich überraschend kann es für sie jedoch nicht gewesen sein. So konnten die Bürger für Stralsund schon 2022 im Rahmen der Proteste gegen steigende Energiepreise mit ihrer Rücktrittsforderung an die Bundesregierung Tausende Menschen auf den Alten Markt locken. Laut OZ soll es im Herbst 2022 die größte Demonstration in Stralsund seit der Wende gewesen sein. Schon damals stellte KATAPULT MV fest: Die Teilnehmerzahlen wurden überschätzt.Die BfS ziehen an – mit einer breiten Palette an Themen von bürgerlich bis populistisch. Damals wie heute herrscht Aufbruchstimmung. Warum so viele gekommen sind, wird schnell klar. „Das muss bis Berlin hallen“, orchestriert BfS-Mitglied Maik Hofmann von der Bühne herab das Hupen und Blinken der Trecker.
BfS laden zur Revolution
Die Stralsunder:innen sind unzufrieden, die Redner auch. Gründe dafür haben sie viele. Dass nun auch noch die deutschen Bauern leiden und benachteiligt werden, habe das Fass schließlich zum Überlaufen gebracht. Die BfS nutzt die Gunst der Stunde und hat im Demonstrationsaufruf, mit Rückhalt der CDU, „die Unterstützung der Landwirte, gegen die Existenzbedrohung der arbeitenden Bevölkerung und des Mittelstands, für den sofortigen Rücktritt der Regierung in Berlin und für aktive und dauerhafte Friedenslösungen“ gefordert. Von der CDU Stralsund beigesteuertes Motto: „Stralsund hält zusammen“.
BfS-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Haack und Maik Hofmann wechseln sich bei minus vier Grad auf der Bühne ab. Haack gibt zu Beginn die Richtung des Abends vor: Unterstützung der Landwirte, Frieden und die Unfähigkeit der Bundesregierung. Die bloße Unterstützung der Bäuer:innen reicht der Fraktion offenbar nicht. Es solle wieder „um Frieden“ gehen, so Haack. Dieser solle „uns allen wichtig sein“. Was die Regierung in Berlin betrifft, so seien sie vor anderthalb Jahren mit ihrer Rücktrittsforderung noch ausgelacht worden. Das sehe jetzt anders aus: „Wenn wir uns heute die Wahlforschungsdienste angucken, dann sagt (…) weit mehr als die Hälfte der Deutschen, die Regierung [möge] zurücktreten. Damit endlich wieder Platz wird für vernünftige Politik, für den deutschen Bürger.“ Damit eignen sich die Bauernproteste perfekt für die BfS, um ihre alten Forderungen aufzuwärmen und erneut zum Protest zu laden.
Redner weitgehend einig: Bundesregierung muss weg
Neben den angekündigten Rednern, dem Landwirt Aurel Hagen, dem Borner Bürgermeister und Vorsitzenden der BfS/FDP-Kreistagsfraktion Gerd Scharmberg sowie Oberbürgermeister Alexander Badrow (CDU) – hier als „Privatperson“ unterwegs –, gibt es weitere Beiträge auf der Bühne.
Bis auf Badrow finden alle Redner markige Worte im Einklang mit den BfS-Forderungen. Auch wenn sich CDU-Mitglied Hagen und FDP-Politiker Scharmberg zuvor von der Rücktrittsforderung distanziert haben, lassen sie diese in ihren Redebeiträgen doch anklingen.
Scharmberg, der zuvor in der OZ nicht so weit gehen wollte, den Rücktritt der Regierung zu fordern, steht am Mikrofon: „Wenn diese Regierung in Berlin sich nicht besinnt, dann muss sie sich Tag für Tag mit der Forderung der Gesellschaft, mit der Forderung des Volkes auseinandersetzen, die den Rücktritt dieser Regierung fordert.“ – Beifall. „Wenn hier die Forderung aufgemacht wird, die Regierung muss zurücktreten, dann doch nicht, weil wir böse Menschen sind, sondern ganz einfach, weil wir von dieser Summe der Fehler, die hier gemacht werden, einfach die Schnauze voll haben. Weil wir einfach Angst haben müssen, dass sie (die Regierung, Anm. d. Red.) uns wirklich in den Ruin treiben“, meint der Borner Bürgermeister. Und das, obwohl, wie Scharmberg reflektiert feststellt, nicht alles auf die Politik der vergangenen zwei Jahre zurückgeführt werden könne.
Aurel Hagen geht die Bürokratie für Landwirt:innen zu weit. In den letzten Jahren sei ihnen, aber auch anderen Berufsgruppen immer mehr davon aufgebürdet worden. Von zusätzlichen finanziellen Belastungen mal abgesehen. Es herrsche bei den Landwirten und einem „Großteil der Bürger (…) kein Vertrauen mehr in diese Regierung“. Dabei wollten alle doch nur ihren „Job machen, so wie wir es gelernt haben“, so Hagen. „Und wir wollen keine Anträge ausfüllen. Wir wollen keine Statistiken machen und mehr so’n Scheiß. Weil ich weiß ja selber, wie ich Statistiken ausfülle, und darum vertraue ich Statistiken nicht,“ sagt der Landwirt, der auch Vorstandsmitglied des Bauernverbands Nordvorpommern ist.
Die Privatperson Alexander Badrow neben der Bühne nickt bei Hagens Ausführungen zur Bürokratie. Auch er tritt später für ein paar Worte ans Mikrofon, hält sich aber überraschend kurz. Wenn er sich in den letzten Monaten mit Menschen unterhalten habe, etwa Unternehmerinnen und Unternehmern, dann hätten ganz viele gesagt: „Weißt du, Alexander, man fragt sich langsam, warum man das alles noch macht. Man fragt sich, warum man die vielen Zettel ausfüllt, die die Bürokratie für uns bereithält. Und man fragt sich, ob sich das Ganze überhaupt noch lohnt.“ Alle würden mit Sorgen in die Zukunft schauen. „Wir wissen sehr genau, wie schwer das ist, Arbeitsplätze zu schaffen und zu halten. Wenn ich sehe, wie – vielleicht aus Unkenntnis – mit Unternehmern umgegangen wird, macht das wütend.“ Zum Gütetermin als Amtsvorsteher der Hansestadt zur Thematik des Bürgergartens war der Oberbürgermeister Badrow am selben Tag jedoch selbst nicht erschienen. Am Ende der aktuellen Entwicklung steht für Landwirt Hagen fest, dass, wenn es so weitergeht, bald alle Lebensmittel nur noch aus dem Ausland in den Supermarkt kommen.
Zwischen „Revolutiönchen“ und Politikverdruss
Autor Klaus Bock, der bereits bei vergangenen BfS-Demonstrationen als Redner aufgetreten ist, fordert mit deutlichen Worten eine andere Regierung, „schon um unsere Demokratie zu verteidigen. Auch gegen eine inkompetente Regierung.“ Bock spricht von der „Macht der Straße“, die in Stralsund entfesselt werden könnte. Er wünscht sich eines Tages „wenigstens ein kleines Revolutiönchen“, oder „wenigstens vernünftige Wahlergebnisse“. Es müssten nur einige die Richtigen wählen. Selbst wenn die AfD und die Wagenknecht-Partei seriöse Wahlergebnisse erzielen würden, stelle sich für ihn die Frage, ob sie koalieren wollen. Da er keine Mehrheit für die beiden Parteien prognostiziert, würden „die Damen und Herren, die uns da vorgesetzt werden, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht besser sein als die, die bisher dagewesen sind“.
An eine Revolution fühlt sich auch der 55-jährige Stralsunder Silvio Tesch erinnert. Tesch hat Redebedarf. Er sei den Organisatoren „schon eine ganze Weile auf die Nerven gegangen“. Er habe unbedingt „an dieses Mikrofon heute“ gewollt. Seine Rede hat es in sich: gegen die Kommunisten, gegen Bürgergeldempfänger, vom Stolz, Deutscher zu sein und gegen eine Politik, die es nicht schaffe, die Grenzen zu schützen. „Und Menschen, die in dieses Land kommen und alimentiert werden mit dem Geld, was andere Menschen erwirtschaftet haben.“ Die Stimmung kippt vom allgemeinen Politikverdruss zu Umsturzfantasien, Fremdenhass und Homophobie. Plötzlich ist auf der Bühne die Rede von Messerstechern, Massenvergewaltigungen, Frühsexualisierung von Kindern und Menschen, die herkommen und die deutsche Kultur hassen, und von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD), der vermeintlich Deutschland hasse. „Mein Hauptgefühl sagt mir, dass wir heute wieder mittendrin sind in einer Revolution. Wir brauchen ein neues Deutschland mit einer neuen Politik“, ruft Tesch und skandiert so lange „Wir sind das Volk“, bis das Publikum einstimmt. Die Rufe verklingen nach wenigen Wiederholungen.
BfS will weiter demonstrieren
Zum Ende spricht Thomas Nitz vom Nachbarschaftszentrum Grünhufe für das Projekt Stralsunder Friedensgebet und stellt sich noch einmal hinter die Landwirt:innen. „Möge das, was hier seinen Anfang nimmt, friedlich verlaufen. Mögen wir von schmerzhaftem Hass verschont bleiben, und möge uns das, was hier seinen Anfang nimmt, gelingen.“ BfS-Fraktionsführer Thomas Haack dankt allen Beteiligten und zeigt sich sichtlich zufrieden mit der Veranstaltung. Viele Zuschauer:innen haben zu diesem Zeitpunkt die Kundgebung bereits verlassen, was der Kälte und/oder der Chance auf Umgehung eines Parkhausstaus geschuldet sein könnte.
Nichtsdestotrotz: Der Aufruf im Zuge der Bauernproteste hat funktioniert. Die Masse ist zur kommenden Bürgerschaftswahl mobilisiert. Auf den Protesten im Land kann sich mit der Bundesregierung auf einen gemeinsamen Gegner geeinigt werden. „Wir werden uns wiederhören. Auf kurzen Wegen. Wir sind alle gut vernetzt. Wir sehen uns auf jeden Fall hier wieder“, verabschiedet Haack deshalb im nächtlichen Stralsund leuchtende Trecker und ein motiviertes Publikum, bis es wieder heißt: Die Regierung muss weg.
Innenminister Christian Pegel (SPD) hatte im Vorfeld gemahnt, die Demonstrierenden der Bauernproteste sollten achtgeben, mit wem sie marschieren. Dass, wenn hasserfüllte Parolen von der Bühne schallen, jedoch trotzdem geklatscht und gepfiffen wird und hinter der Bühne die Trommeln grummeln, hinterlässt keinen positiven Eindruck. Die Angst in Stralsund ist da. Die Motivation, auf die Straße zu gehen, auch. Wenn man sie nutzt wie die Bürger für Stralsund.
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Quellen
- Sommer, Ines; Büssow-Krämer, Wencke: Stralsund erlebt größte Demo nach der Wende: Was treibt mehr als 4000 Leute auf die Straße?, auf: ostsee-zeitung.de (22.9.2022).↩
- Büssow-Krämer, Wencke: Weitere Demos geplant: Stralsunder Kommunalpolitiker wollen Bauernprotest unterstützen, auf: ostsee-zeitung.de (2.1.2024).↩
- Bauernverband Nordvorpommern (Hg.): Über uns, auf: die-bauern-von-nordvorpommern.de.↩