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Filmfest im Rostocker Stadthafen

„Das normale Leben einer Sexarbeiterin“

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Lesedauer: ca. 10 Minuten

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Moritz Morszeck: Hallo Anna, im ersten Moment erwartet man bei dem Schlagwort „Sexarbeit“, dass du eine:n stereotype:n Sexarbeiter:in in den Fokus stellst und eine Geschichte erzählst, die von erzwungener Sexarbeit handelt. Das tust du bewusst nicht. Warum hast du dich dazu entschieden, diese Seite der Sexarbeit darzustellen?

Anna Wagner: Der Film ist als Erstsemesterprojekt an der Uni entstanden und wir hatten die Vorgabe, dass es ein dokumentarisches, kurzes Format sein sollte. Unser großes Oberthema war „Was ist mir fremd?“. Wir sollten uns ein Thema suchen, bei dem wir bei der Recherche aus unserer Komfortzone herausgehen, von dem wir keine Ahnung haben. Da habe ich erst mal Querbeet angefangen zu suchen. Ich meine, es gibt viele Themen, wo man keine Ahnung hat und wo ich aus der Komfortzone herausgehen kann. Ich bin dann auf das Buch Mein Huren-Manifest. Inside Sex-Business von einer Hamburger Sexarbeiterin gestoßen, die viel aktivistisch unterwegs ist. Es ist total spannend, da dieses Buch auch die andere Seite aufzeigt, die man nicht so kennt. Wenn man „Sexarbeit“ oder gerade den geläufigeren Begriff „Prostitution“ sagt, der tatsächlich eher abwertend ist, hat jede:r meist schon ein Bild im Kopf. Mir ist es da ganz ähnlich ergangen. Bei meiner Recherche habe ich mir ganz oft an die eigene Nase fassen müssen, weil ich mir dachte, ich gehe da total offen ran, aber ich merkte dann doch, wie man durch die Medien schon ein Bild im Kopf hat. Ich dachte mir, alles hat zwei Seiten. Es gibt nicht immer nur die gute Seite oder die schlechte Seite – ich wollte die gute Seite zeigen, denn die schlechte Seite kennt man meist schon. Durch das Buch von Undine de Riviere bin ich auf ganz viele spannende Themen gekommen, die ich gar nicht kannte. Ich wollte damit zeigen: Sexarbeiter:innen sind ganz normale Menschen, die sich im Normal- sowie Idealfall für den Beruf entschieden haben und dafür auch einen Grund hatten. Außerdem sieht man den Leuten auch nicht unbedingt an, dass sie Sexarbeiter:innen sind.

Sexarbeiter:innen sind eben auch nur Menschen. Menschen, die gerne anonym bleiben wollen. Diese Anonymität wird vermehrt aufgehoben. Mit der Einführung des Prostituiertenschutzgesetzes 2017 hat sich die Lage verschärft – es schreibt eine Meldung der Berufstätigkeit vor. Wie konntest du zu den Sexarbeiter:innen Nadine Kopp und Thomas Aeffner, die von ihren Erfahrung in deinem Kurzfilm erzählen, Kontakt aufnehmen?

Generell gehen Leute ganz unterschiedlich damit um, wenn man Sexarbeiter:in ist, und dementsprechend traf ich natürlich auch auf gesprächsbereite Menschen. Ich hatte damals beim Berufsverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen angerufen und das Feedback bekommen, dass es sehr schwierig ist, da die Branche immer eher Negativpresse hat und dadurch die Leute sehr vorsichtig sind – gerade, wenn man eine so kurzfristige Anfrage stellt. Darüber habe ich tatsächlich keinen Kontakt bekommen. Ich bin dann auf Nadine Kopp über drei Ecken gekommen, da jemand an unserer Universität mit ihr schon gedreht hatte. Und auf Thomas Aeffner bin ich aufüber seine Internetseite gestoßen, weil ich gesehen habe, dass er bereits bei anderen Filmprojekten mitgemacht hat. Dadurch, glaube ich, sind die Leute offen, ihre Sicht der Dinge zu zeigen. Beide habe ich angefragt und total nette Antworten bekommen, weil sie möchten, dass das Bild, wie es eigentlich ist, öffentlicher wird.

Spannende Erfahrung. Im Zuge meiner Recherchen habe ich mich gefragt, wer sind eigentlich Sexarbeiter:innen. Von Escortservice bis Sexualbegleitung zu erotischen Massagen kann alles unter Sexarbeit gefasst werden. Was nimmst du als Sexarbeit wahr?

Das fand ich tatsächlich damals bei meiner eigenen Recherche auch total spannend, weil es viele Bereiche umfasst, die ich gar nicht so auf dem Schirm hatte. Das ist vielen Leuten nicht bewusst und auch gerade bei Thomas Aeffner ist es total spannend, da er zum Beispiel Sexualbegleiter ist und verschiedene Personengruppen begleitet. Er arbeitet viel mit körperlich oder geistig behinderten Menschen oder in Altersheimen – für Menschen, die oftmals nicht die Möglichkeit der körperlichen Liebe haben. Das hat mich selbst auch fasziniert, denn das ist nicht das Bild, das man von der klassischen Sexarbeit im Kopf hat. Es gibt da einfach ganz viele Arten, wo sich jede:r bewusst sein sollte, dass es das gibt. Ich fand es spannend, dass auch ganz viele Menschen der Gesellschaft Kunden:innen von Sexarbeit sind. Umso unverständlicher, dass es trotzdem so ein negatives Bild hat, obwohl es viele Leute in Anspruch nehmen. Das finde ich spannend.

Es wird auch mit großer Sicherheit über aktuelle Zahlen hinaus eine erhebliche Dunkelziffer geben. Die Anonymität vereinfacht den Dreh sicherlich nicht. Dein Film endet mit einem Schild, das auf „Kein Filmen erlaubt!“ hinweist. Wie konntest du die Bilder einfangen?

Ich habe mir die Orte im Vorhinein anschauen können und bin da vorbeigefahren. Ich dachte mir, bevor ich da mit Kameramann vorbeifahre, schaue ich erst mal selber nach, welche Orte sich anbieten. Ich muss tatsächlich auch gestehen, dass manche Orte ein komisches Gefühl in mir auslösen, was total irrational ist. Wo ich mir denke, das ist ja eigentlich nicht das, was ich mit diesem Film zeigen wollte. Gerade, wenn es eben heißt, das ist ein betreuter Straßenstrich im Kölner Industriegebiet, den man von außen nicht sieht. Ich musste mich im Vorfeld informieren, damit ich wusste, wie ich da hinkomme. Und, wenn man davorsteht und dann das Verboten-Schild sieht, denkt man sich: „Schon auch spannend.“ Oder auch beim Pascha – das große, pinke Gebäude –, das ganz bekannt ist in Köln: Wenn einen Leute da mit Kameras sehen, ist man nicht so gerne gesehen. Deswegen haben wir versucht, es nur gebäudetechnisch zu zeigen und gar nicht groß Menschen vor die Kamera zu nehmen. Wir haben zu Zeiten gedreht, bei denen dort auch nicht so viel los war.

Gut, dass ihr da auf keine Widerstände getroffen seid.

Also ich könnte mir vorstellen, wenn man am Abend auf dem Straßenstrich filmt, dass die Kunden:innen oder Sexarbeiter:innen nicht begeistert wären. Ich dachte mir, das würde ich selber nicht wollen als Sexarbeiterin oder, wenn ich da hingehen will. Deswegen dachte ich mir, zeige ich es lieber tagsüber, weil es auch etwas ist, das die Normalität darstellt. Ich bin auf keine Widerstände gestoßen, außer Schilder, die die Kamera verboten haben. Das wäre aber sicherlich auch gegangen, wenn ich es angefragt hätte.

Hast du während deiner Recherchen oder auch der Dreharbeiten in Erfahrungen bringen können, wie die Lebenswege der Sexarbeiter:innen aussehen?

Ich habe nur Erfahrungen durch Nadine Kopp und Thomas Aeffner und kann dementsprechend nur von diesen beiden berichten. Die Leute, die es nicht unbedingt an die Öffentlichkeit bringen wollen, berichten auch nicht davon. Bei Nadine war es so: Sie hat in der Pflege gearbeitet und für sie war es körperlich sehr anstrengend und belastend von den Arbeitszeiten her, sodass sie sich das als Alternativjob gesucht hat. Sie hat für sich entschieden, dass der Beruf für sie viele Vorteile bietet – die Arbeitszeiten sind flexibel und sie kann sich ihre Kunden aussuchen, was sie in der Pflege eben nicht immer konnte. Dadurch hat sie den Beruf gewechselt.

Und bei Thomas Aeffner war es so: Er ist in Rente gegangen und hat sich dann dafür entschieden, er will noch darüber hinaus etwas machen, worin er einen Lebenssinn sieht oder was ihn erfüllt. Daraufhin hat er geschaut, was er so machen kann, und ist dann auf die Sexualbegleitung gestoßen, weil er anderen Leuten helfen möchte, die sonst nicht die Möglichkeiten haben und so körperliche Liebe erfahren.

Nun hast du vor allem Sexarbeiter:innen in den Fokus genommen, die sich freiwillig dazu entschieden haben, diesen Beruf auszuüben. Warum hast du dich dazu entschieden, einen positiveren Weg aufzuzeigen?

Für mich war es zum einen das Zeitargument. Wir hatten von der Universität die Vorgabe, dass der Film nicht länger als zwei Minuten sein sollte, und deswegen wollte ich nur die positive Seite zeigen. Daneben hat man bereits die negative Seite im Kopf. Die Zwangsprostitution kann sich jede:r noch dazudenken oder kann sich überlegen, warum die negative Seite nicht behandelt wird. Ich habe mich da an dem Buch Mein Huren-Manifest orientiert und die Autorin hat gesagt, dass alle Kollegen:innen, denen sie bisher über den Weg gelaufen ist, diesen Beruf freiwillig ausüben. Aber sie meinte natürlich auch, es gibt die Leute, die in der Zwangsprostitution sind. Das darf natürlich nicht unter den Tisch fallen. Undine de Riviere hat den Zusammenhang zwischen Zwangsprostitution und Sexarbeit verglichen mit dem zwischen Blondinen und einem niedrigen IQ. Es kann zusammen vorkommen, aber es muss nicht. Ob es tatsächlich so ist, kann ich nicht belegen, da es relativ wenige Studien dazu gibt. Es gibt eben auch genug Leute, die ihre Erfahrungen nicht teilen. Außerdem bleiben die negativen Aspekte in der Klatschpresse mehr im Kopf und dementsprechend kann ich gar nicht sagen, was die Wahrheit ist. Ich wollte eben von meiner Seite aus die andere Seite zeigen, sodass die Leute für sich entscheiden können, was sie als ihre Wahrheit ansehen.

Du hast gerade schon angesprochen, dass das Bild durch Medien in der Vergangenheit geprägt ist. Was meinst du, warum das noch heute in der Gesellschaft vorherrscht?

Ich glaube, dass es einfach lange braucht, um ein derart negatives Bild loszuwerden, wenn es einmal in den Köpfen der Menschen drin ist. Es gibt auch diesen Mythos: Ein negativer Fakt löscht gleich zehn positive Fakten aus. Ich glaube eben, dass die Medien weiterhin dieses Bild beeinflussen. Eine Messerstecherei am Straßenstrich löst viel größere Schlagzeilen aus als das normale Leben einer Sexarbeiterin. Und eben das kommt dann bei den Leuten an.

Für deinen Dreh hast du dich mit dem Buch Mein Huren-Manifest. Inside Sex-Business auseinandergesetzt. Inwieweit haben dich die Erfahrungen von Undine de Riviere, die den Verband für erotische und sexuelle Dienstleistungen mitgegründet hat, beeinflusst?

Ziemlich stark. Sie schreibt auch ganz zum Schluss, dass es sich nur um ihre Erfahrung handelt und sie die Weisheit auch nicht mit Löffeln gegessen hat, und das ist auch das, was ich in meinem Film zeigen wollte. Es ist meine Wahrnehmung – natürlich recherchiert, aber trotzdem gibt es verschiedene Meinungen. Im ersten Teil wird ein vertontes Zitat aus ihrem Buch verwendet, wo es eben darum geht, dass alle möglichen Menschen in dieser Branche arbeiten können. Das hat mich angesprochen und war etwas, was ich transportieren wollte. Viele Sachen waren mir total neu und durch das Buch und meinen Film habe ich mich intensiv mit dem Thema auseinandersetzen können.

Dieses Interview entstand im Rahmen der unabhängigen filmab!-Redaktion zum FiSH-Filmfest im Stadthafen Rostock vom 28. April bis 1. Mai 2022 in Kooperation mit KATAPULT MV. Hier stellen sich die jungen Redakteur:innen vor: Das ist die filmab!-Redaktion 2022

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Autor:innen

war Teil der filmab!-Redaktion im Rahmen des FISH-Filmfest im Rostocker Stadthafen vom 28. April bis 1. Mai 2022.

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