Rückblick zur Kommunalwahl 2024: KATAPULT MV hat es sich zur Aufgabe gemacht, die größte Kommunalwahlanalyse auf die Beine zu stellen, die bisher in Mecklenburg-Vorpommern stattgefunden hat. Die Redaktion hat dafür Wahllisten aus allen 724 Gemeinden des Landes zusammengetragen und ausgewertet. Eine Erkenntnis aus dieser Analyse: Mindestens 70 Personen sind zur Wahl angetreten, die eindeutig rechtsextreme oder antidemokratische Standpunkte vertreten. Dies lässt sich eindeutig anhand von beispielsweise NPD-Vergangenheit, Kontakt zur rechtsextremen Identitären Bewegung oder der Verbreitung antidemokratischer Inhalte belegen.
Einige dieser Menschen waren unserer Redaktion aus anderen Recherchen bekannt, andere haben wir nach Hinweisen aus unserer Leserschaft überprüft. Es ist dennoch davon auszugehen, dass die Anzahl der Menschen mit rechtsextremen und antidemokratischen Standpunkten bei insgesamt mehr als 16.930 Kandidierenden noch immer nicht vollständig ist. Gründe hierfür können sein, dass bestimmte Personen bisher nicht aufgefallen sind oder aber unsere Recherchen zu einigen Hinweisen keine Belege hervorgebracht haben. Was wir aber sicher sagen können: Mindestens 46 der 70 Kandidierenden, die antidemokratische Werte vertreten, wurden tatsächlich gewählt.
Mord, Waffen und NPD
In der Schweriner Stadtvertretung sitzt neuerdings AfD-Politiker Maik Flemming. Flemming soll Mitglied der Nordkreuz-Gruppe gewesen sein. Sein Name tauchte in einem Kassenbuch des Netzwerkes auf. Ebenfalls soll der ehemalige Polizist Haik Jaeger am Nordkreuz-Netzwerk beteiligt gewesen sein. Jaeger wurde im Juni dieses Jahres für die AfD in den Kreistag Ludwigslust-Parchim und in die Gemeindevertretung Neukloster gewählt. Zur Erinnerung: Nordkreuz-Mitglieder haben Namen und Adressen von fast 25.000 politischen Gegner:innen zusammengetragen und Schusswaffen und Munition gesammelt, um sie am Tag X gegen „linke Persönlichkeiten“ einzusetzen. Entsprechende Leichensäcke lagen schon bereit. Flemming und Jaeger konnten in diesem Jahr dennoch gewählt werden.Für die Heimat (ehemals NPD) ist Henry Schentz in die Stadtvertretung Eggesin eingezogen. Schentz wurde im Jahr 2000 zu einer Haftstrafe wegen versuchten Mordes verurteilt. Zuvor hatte er gemeinsam mit einer Gruppe Rechtsextremer zwei Vietnamesen lebensgefährlich verletzt. Das Gericht bescheinigte den Tätern besondere Brutalität. Schentz konnte in diesem Jahr dennoch gewählt werden.
In Gägelow (Nordwestmecklenburg) wurde Sven Krüger für die Wählergemeinschaft Heimatliebe in die Gemeindevertretung gewählt. Krüger erreichte als mutmaßliches Oberhaupt des „Nazidorfes“ Jamel deutschlandweite Bekanntheit, betrieb in Grevesmühlen den rechten Szenetreff Thinghaus und wurde bereits wegen gewerbsmäßiger Hehlerei und illegalen Waffenbesitzes verurteilt. Erst im September 2023 fand in Krügers Wohnhaus eine Razzia statt, nachdem deutschlandweit das Verbot der Hammerskins durchgesetzt wurde. Die Razzia brachte in MV neben Nazi-Devolutionalien außerdem Sprengstoff, Waffen und Munition hervor. Krüger konnte in diesem Jahr dennoch gewählt werden.Es stellt sich also die Frage: Wie ist es möglich, dass teilweise verurteilte Antidemokraten zu demokratischen Stellvertretern gewählt werden können? Ein Blick in das Landes- und Kommunalwahlgesetz gibt Aufschluss.
Augen zu beim Ehrenamt?
Angelegenheiten zu Wahlen und Kandidierenden werden in Mecklenburg-Vorpommern durch die Kommunalverfassung MV (KV) sowie das Landes- und Kommunalwahlgesetz (LKWG) geregelt. Darin wird beispielsweise festgehalten, dass Kandidierende von Parteien bestimmt werden können – aber auch von Wählergruppen oder als Einzelbewerber:innen. Diese Vorschläge müssen bis zum 75. Tag vor der Wahl – in diesem Jahr war das der 26. Februar – eingereicht worden sein. Kandidieren dürfen alle, deren Wahlunterlagen fristgerecht und vollständig eingereicht wurden. Bringen Bürger:innen oder andere Politiker:innen Beschwerden hervor, hat der zuständige Wahlausschuss bis zum spätestens 52. Tag vor der Wahl zu entscheiden, ob der Wahlvorschlag zulässig ist. Das bedeutete für die letzte Kommunalwahl in MV etwa drei Wochen Zeit, um Wahlvorschläge zu sichten, zu überprüfen und Beschwerden einzureichen. Denn eine gesonderte Überprüfung von Kandidierenden, die in Kreistage, Stadt-, Gemeinde- oder Ortsvertretungen einziehen wollen, ist gesetzlich nicht vorgeschrieben. Lediglich bei der Wahl ehrenamtlicher und hauptamtlicher Bürgermeister:innen müssen die Wahlausschüsse Kandidierende in Bezug auf ihr „jederzeitiges Eintreten für die freiheitlich-demokratische Grundordnung“ prüfen. Für sie gilt das Beamtenstatusgesetz.
Tatsächlich müssen angehende Politiker:innen in der Regel auch kein Führungszeugnis vorlegen, welches bescheinigt, ob eine Person vorbestraft ist oder nicht. Es mag überraschen, dass ein solches Dokument beispielsweise im öffentlichen Dienst oder für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen benötigt wird – nicht aber für demokratisch gewählte politische Organe.
Gefährliches Potenzial erkennen
Im Klartext: Sind rechtsextreme und antidemokratische Bestrebungen von Kandidierenden unbekannt, werden übersehen oder bleiben schlichtweg ohne Beschwerde, gibt es keine gesetzlichen Regelungen, die einer Kandidatur auf kommunaler Ebene im Weg stehen. Selbst wenn der Verfassungsschutz bestimmte Personen bereits im Blick hat, wird dazu nicht gewarnt. Das Innenministerium MV teilt auf Nachfrage von KATAPULT MV dazu mit, dass vom Gesetzgeber eine „Weitergabe von Informationen zu Wahlbewerbern […] ausdrücklich nicht vorgesehen“ ist.
Immerhin sind im Landkreis Nordwestmecklenburg zur Kommunalwahl 2024 dennoch zwei Beschwerden zu Wahlvorschlägen eingegangen, die zu einer Nichtzulassung eines Bürgermeisterkandidaten geführt haben. In Vorpommern-Greifswald wurden insgesamt fünf Zulassungsbeschwerden gegen Kandidierende eingereicht. Davon hat der zuständige Wahlausschuss in zwei Fällen eine Nichtzulassung beschlossen. Aus welchen Gründen das geschah, bleibt allerdings unter Verschluss.
Es drängt die Frage, ob Rechtsextreme und Antidemokrati:nnen in Deutschland überhaupt ihr Wahlrecht verlieren können. Die kurze Antwort lautet: Jemandem das passive Wahlrecht – also das Recht darauf, sich für Wahlen aufstellen zu lassen – zu entziehen, ist nur unter strengen Voraussetzungen möglich – beispielsweise, wenn er oder sie aufgrund eines Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden sind und es sich bei der Straftat um ein Verbrechen handelt, das auch im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht ist. Volksverhetzung reicht also beispielsweise nicht aus. Denn hier ist die Mindeststrafe nicht ein Jahr, sondern drei Monate. Hat also jemand Volksverhetzung betrieben und wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, darf er trotzdem kandidieren. Außerdem gilt der Ausschluss nur für fünf Jahre.
Es ist aber auch möglich, dass Richter:innen jemandem das Wahlrecht entziehen. Gründe können beispielsweise verfassungsfeindliche Einwirkung auf öffentliche Sicherheitsorgane, Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole und verfassungsfeindliche Verunglimpfung von Verfassungsorganen sein. Der richterliche Beschluss gilt für zwei bis maximal fünf Jahre. Beide Optionen zeigen: Es ist juristisch gesehen sehr schwierig und braucht einen großen bürokratischen Vorlauf, um Menschen nicht kandidieren zu lassen – selbst wenn sie kein Geheimnis aus ihren rechtsextremen oder antidemokratischen Einstellungen machen. Wenn also die Gesetzeslage nicht konsequent vorsieht, auffällig antidemokratische Kandidierende von – zumindest kommunalen – politischen Ämtern fernzuhalten, welche Möglichkeiten hat die Zivilgesellschaft dann noch, außer eigeninitiativ Beschwerden gegen Wahlvorschläge einzureichen? Eine Möglichkeit stellt die Petition Kein Mandat bei Volksverhetzung dar, die im Juni vom Düsseldorfer Indra Ghosh gestartet wurde.
Plattform verhindern und Diskurs antreiben
Ghosh ist eigentlich als Physiker tätig, engagiert sich aber schon seit den 1980ern politisch. Seine erste Petition hat er im November 2023 gestartet. Unter dem Motto Wehrhafte Demokratie: Höcke stoppen sammelte mit seinem Team mehr als 1,7 Millionen Unterschriften. Das Ziel: die Bundesregierung dazu bewegen, beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf Grundrechtsverwirkung nach Artikel 18 Grundgesetz für den AfD-Politiker Björn Höcke zu stellen. Der vom Verfassungsschutz eingestufte Rechtsextremist soll damit sein Wahlrecht, seine Wählbarkeit und seine Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter verlieren. Zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.Und auch für sein neues Anliegen zur Mandatschaft bei Volksverhetzung setzt Ghosh auf eine Onlinepetition: „Die Hemmschwelle, sich daran zu beteiligen, ist niedrig. Dadurch kann man potenziell sehr viele Leute aktivieren und Aufmerksamkeit in Richtung Politik generieren“, erklärt der Physiker. Die Beteiligung an solchen Petitionen zeige außerdem, dass große Teile der Bevölkerung eine Notwendigkeit zur Veränderung sehen und die „nicht nur alle vier Jahre praktisch mit einem Kreuz ausdrücken wollen“. Trotzdem ergänzt Ghosh: „Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut und da muss eine Demokratie eine Menge aushalten.“ Dass Volksverhetzung allerdings sanktionslos bleibt – erst recht für demokratische Stellvertreter:innen – „darf einfach nicht sein“, resümiert der Physiker.Mit Blick auf die rechtsextremen und antidemokratischen Kandidierenden in MV bleibt aber die Frage: Ist eine solche Petition genug, um die Demokratie wirklich zu schützen? Ghosh findet, dass sie dazu beitragen kann, volksverhetzenden und menschenverachtenden Gedanken eine Bühne zu entziehen. „Es muss selbstverständlich sein“, fasst Ghosh zusammen. „Wer im Parlament sitzt, muss sich auch zu fundamentalen Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung – im Besonderen zur Unantastbarkeit der Menschenwürde – bekennen.“
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 35 von KATAPULT MV.
Quellen
- Bündnis 90/Die Grünen MV (Hg:): Gewaltorientierte Rechtsextremisten kandidieren für die AfD, auf: gruene-fraktion-mv.de (7.6.2024).↩
- Speit, Andreas: Staatsgefährder wird Abgeordneter, auf: taz.de (27.6.2024).↩
- KATAPULT MV (Hg.): Rechtsextreme und antidemokratische Kandidat:innen, auf: katapult-mv.de (28.6.2024).↩
- Tagesspiegel (Hg.): Todeslisten von Rechtsextremisten, auf: tagesspiegel.de (6.7.2019).↩
- Walther, Gerd: NPD schickt Straftäter in den Kreissozialausschuss, auf: die-linke-pur.de (22.7.2011).↩
- Endstation Rechts (Hg.): Neonazis aus Jamel treten zur Kommunalwahl an, auf: endstation-rechts.de (6.4.2019).↩
- NDR (Hg.): Hammerskins-Verbot: Waffenfund bei Durchsuchungen in MV, auf: ndr.de (19.9.2023).↩
- § 62 Landes- und Kommunalwahlgesetz MV, auf: landesrecht-mv.de.↩
- § 20 Landes- und Kommunalwahlgesetz MV, auf: landesrecht-mv.de.↩
- E-Mail des Innenministerium MV am 1.8.2024.↩
- § 7 Absatz 1 Beamtenstatusgesetz (BeamtStG).↩
- E-Mail des Innenministerium MV am 1.8.2024.↩
- E-Mail des Landkreises Nordwestmecklenburg vom 9.8.2024.↩
- E-Mail des Landkreises Vorpommern-Greifswald vom 7.8.2024.↩
- Fehndrich, Martin: Ausschluss vom Wahlrecht, auf: wahlrecht.de.↩
- Ghosh, Indra: Wehrhafte Demokratie: Kein Mandat bei Volksverhetzung, auf: weact.campact.de.↩
- Telefonat mit Indra Ghost am 13.8.2024.↩
- Ghosh, Indra: Wehrhafte Demokratie: Höcke stoppen, auf: aktion.campact.de.↩