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Pflegeelternschaft

Ein Thema, das keinen interessiert

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Lesedauer: ca. 7 Minuten

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Wenn jemand aufgrund von psychischen Problemen, Krankheit oder finanziellen Schwierigkeiten gezwungen ist, das eigene Kind abzugeben, muss eine Betreuung gefunden werden – ob zeitweise oder auf Dauer. Neben Kindernotdiensten und Wohngruppen gibt es auch die Pflegeelternschaft. Freiwillige übernehmen die Aufgaben, die die leiblichen Eltern (vorübergehend) nicht mehr leisten können. Wirklich bekannt ist ihre Arbeit aber nicht. Dabei finden sich in den Lokalmedien immer wieder Aufrufe, dass Pflegeeltern dringend gesucht werden. Die Resonanz hält sich dennoch in Grenzen, sagen Beteiligte.

Grundsätzlich gibt es zwei Arten von Pflegeelternschaft: Bei einer Bereitschaftspflege werden Kinder nur kurzfristig und über einen begrenzten Zeitraum aufgenommen. Meist werden die Pflegeeltern bei akuter Kindeswohlgefährdung hinzugezogen, wo schnell gehandelt werden muss. Daneben gibt es die Dauerpflege – entweder für einen bestimmten Zeitraum oder unbegrenzt. Viele Kinder im Kleinkindalter werden möglichst schnell in Familien gegeben, wo sie im besten Fall bis zur Volljährigkeit bleiben. Dabei gibt es – anders als bei einer Adoption – regelmäßige Treffen mit den leiblichen Eltern.

Während ein Adoptionsverfahren mehrere Jahre dauern kann, kann eine Pflegeelternschaft meist schon nach wenigen Monaten beginnen. Allerdings gebe es in Bezug auf Pflegeelternschaft weniger Anfragen, jedoch viele Kinder, sagt Susann Widuckel vom Pflege-Familien-Zentrum (PFZ) in Rostock. Der Bedarf ist da: Im vergangenen Jahr hatten sie so viele Anfragen nach einer Inobhutnahme wie noch nie.

Niemand hat umfassende Zahlen

Allerdings ist es schwierig, überhaupt Daten zu bekommen. Auf Anfrage verweist das Sozialministerium MV auf den Landesverband für Jugendämter. Der wiederum nennt die acht einzelnen Jugendämter, weil er mangels Zuständigkeit keine Auskunft geben könne.

Das Statistische Landesamt kann schließlich Zahlen liefern. Allerdings nur über die Kinder und Jugendlichen, für die eine sogenannte Pflegeerlaubnis besteht. Das sind knapp 1.800. „Leider können wir zur Anzahl der Pflegeeltern in Mecklenburg-Vorpommern keine Aussage treffen, diese liegt uns nicht vor.“ Beim Rostocker PFZ ist man von der mangelhaften Datenlage wenig überrascht. „Pflegefamilien haben einfach keine Lobby.“ Es gebe kein großes politisches Interesse an ihnen.

Leider können wir zur Anzahl der Pflegeeltern in Mecklenburg-Vorpommern keine Aussage treffen, diese liegt uns nicht vor.
Statistisches Amt MV

Für die Hansestadt nennt das Zentrum im Jahr 2022 insgesamt 189 Pflegefamilien. Im vergangenen Jahr kamen 29 neue Paare und Einzelpersonen hinzu, die bereit waren, ein Kind in Pflege zu nehmen. In der Bereitschaftspflege sind es gerade einmal fünf. Hilfe bei der Organisation und Vermittlung gibt das PFZ.

Rostock hat als eine der wenigen Städte eine Zwischeninstanz in der Vermittlung aufgebaut. In MV gibt es das nur noch in Schwerin. Dabei agiert ein freier Träger zwischen potenziellen Pflegeeltern und dem Jugendamt. In Rostock ist es die Caritas mit dem Pflege-Familien-Zentrum. Es ist Hauptansprechpartner für die Pflegeeltern und kümmert sich um die Vorbereitung. Das Ziel: mehr Zeit für die Zusammenführung.
Das PFZ bietet dazu auch einen Vorbereitungskurs an. Interessierte bekommen so einen guten Einblick, was bei einer Pflegeelternschaft auf sie zukommt. Die Mitarbeitenden des PFZ können damit aber auch besser erkennen, wer wirklich geeignet ist. In vielen anderen Landkreisen gebe es dieses Vorgehen nicht, erklärt Mitarbeiterin Susann Widuckel. Dort sind die Jugendämter zuständig. Sie könnten aus Kapazitätsgründen meist nur Gespräche anbieten.

„Schön und schlecht zugleich“

Grit Gaida ist seit der Gründung des PFZ im Jahr 2008 dabei. Über die Jahre beobachtet die heutige Leiterin einen Aufwärtstrend bei der Bereitschaft, eine Pflegeelternschaft zu übernehmen: Vor 15 Jahren bestanden in Rostock etwa 70 Pflegeverhältnisse. Heute sind es rund 180. „Das ist schön und schlecht zugleich.“ Denn jedes Kind, das aus der eigenen Familie genommen werden muss, sei eines zu viel. Aber dass es diese Menschen gibt, die sich zur Pflege der Kinder bereit erklären, sei großartig. Meist sind die Interessierten zwischen 30 und 50 Jahre alt. Auch immer mehr gleichgeschlechtliche Paare und Alleinerziehende gebe es. Oder Anfragen zur sogenannte Verwandtenpflege, berichtet Widuckel: „Wenn sich zum Beispiel die Großeltern für die Pflegschaft entscheiden.“ Auch sie können den kostenfreien Kurs belegen. Alle Familienmodelle seien willkommen.

Wenn es keine Kapazitäten gibt, sind die einzigen Ausweichmöglichkeiten der Kindernotdienst oder Wohngruppen.
Grit Gaida, Pflege-Familien-Zentrum (PFZ) in Rostock

Der Bedarf steigt: Gab es im Jahr 2022 noch 46 Anfragen nach einer Pflegefamilie, waren es 2023 schon 65. „Wenn es keine Kapazitäten gibt, sind die einzigen Ausweichmöglichkeiten der Kindernotdienst oder Wohngruppen“, so Gaida. Aber eine gute Lösung seien das nicht immer – vor allem nicht für Jüngere. Zumal die Wohngruppen an der Belastungsgrenze seien.

Lösungen nicht für alle ideal

Wohngruppen seien ein gutes Konzept für Ältere, betont Gaida, wobei auch hier differenziert werden müsse. Für Kinder unter sechs Jahren sei jedoch eine Pflegefamilie das Beste. Doch davon gibt es nicht genug.
In Rostock reicht die Altersspanne in manchen Wohngruppen somit vom Kleinkindalter bis zum jungen Erwachsenen, erzählt ein Mitarbeiter aus der Sozialarbeit, der nicht genannt werden will. „Für Jugendämter ist es einfacher und schneller in der Vermittlung – auch in der späteren Zusammenarbeit. Denn Familien sind halt Familien, das ist immer emotionaler und mit weniger Distanz.“

Vor allem müssten sich mehr Netzwerke bilden, fordert Leiterin Gaida, um Pflegeeltern besser unterstützen zu können. Alleingelassen werden soll mit diesen Aufgaben keiner. Und das gelte auch für die leiblichen Eltern.

Leibliche Eltern nicht vergessen

Für sie bietet das PFZ Biografieaufarbeitungen oder Elterncafés zum Austausch an. „Gerade die leiblichen Eltern empfinden große Scham, dass sie ihr Kind nicht selbst betreuen können“, erklärt Gaida. Das Verständnis in der Bevölkerung sei ziemlich gering. Das nehme sie in den Vorbereitungskursen mit potenziellen Pflegeeltern häufig wahr. „Wenn es um die Perspektive der leiblichen Eltern geht, merkt man, wie sehr es in den Köpfen arbeitet.“ Viele würden im Kurs zum ersten Mal die Beweggründe hinterfragen. Das bringe Empathie.

Gerade die leiblichen Eltern empfinden große Scham, dass sie ihr Kind nicht selbst betreuen können.
Grit Gaida, Pflege-Familien-Zentrum (PFZ) in Rostock

Vorurteile erleben aber nicht nur die biologischen Eltern. Gleiches gilt für die Pflegeeltern: Sie würden ihren unerfüllten Kinderwunsch kompensieren oder einfach nur das Geld wollen, hört Widuckel immer wieder. Viele Pflegeeltern würden sich aber aus dem Wunsch heraus, Unterstützung zu bieten, dafür entscheiden. Um zu helfen, wo es anderen schlechter geht als ihnen.

Ein Bestreben etwa vonseiten der Politik, mit falschen Vorstellungen aufzuräumen oder für die Pflegeelternschaft zu werben, sieht das PFZ derzeit nicht. „Vielleicht ist es Unwissenheit oder Scheu vor dem Thema“, mutmaßen die Mitarbeitenden. Daher versuchen sie, regelmäßig vor allem niedrigschwellige Veranstaltungen zu organisieren, zum Beispiel Filmabende mit anschließenden Gesprächsrunden.

Für Widuckel wäre ein weiterer Ansatz, das Thema stärker in die Lehrpläne von sozialen Ausbildungsberufen aufzunehmen – etwas, das bei ihr selbst komplett gefehlt habe.

Wie kann Pflegeelternschaft attraktiver werden?

Das Kompetenzzentrum Berlin bilanziert es als ein „bundesweit marginalisiertes Thema“. Dabei würden Pflegefamilien „eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe übernehmen“, heißt es in einem Appell. Darin fordert das Kompetenzzentrum vor allem mehr finanzielle Unterstützung, wie die Zahlung von Elterngeld oder eine garantierte Kindertagesbetreuung. „Diese Sofortmaßnahmen machen die Aufgabe attraktiver und entlasten zugleich die durch den Fachkräftemangel angespannte Situation in den Einrichtungen der Jugendhilfe“, so das Kompetenzzentrum.

Im Januar warb ein Pflegekind des Rostocker PFZ im Bundestag mit seiner Geschichte für mehr Anerkennung der Branche, erzählt Grit Gaida. Der Junge möchte selbst Erzieher und Sozialarbeiter werden. Die Mitarbeitenden beobachten in den letzten Jahren vermehrt ein Interesse bei Pflegekindern, später selbst einen sozialen Beruf zu ergreifen. „Viele sind motiviert, sich zu engagieren“, erzählt Widuckel.

Hoffnung für Rostock gebe dem PFZ auch die neue Jugendamtsleitung, nachdem es jahrelang nur eine kommissarische Leitung gegeben hatte. Nun wird das Amt von einer Frau geführt, die aus der Kinderpflege kommt. Beim Neujahrsempfang mit der Stadt Ende Januar wurden auch die neuen Pflegeeltern feierlich begrüßt. „Das ist wirklich eine wichtige und wertschätzende Geste gegenüber diesen engagierten Familien“, freut sich Gaida. „Das gibt Hoffnung.“

Der Artikel erschien in unserer Februarausgabe.

Über dieses Thema haben wir auch mit einem Pflegeelternpaar gesprochen. Zum Interview geht's hier.

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Fußnoten

  1. E-Mail der Pressestelle des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Sport MV vom 16.1.2024.
  2. E-Mail des Kommunalen Sozialverbands MV vom 16.1.2024.
  3. NDR (Hg.): Leben mit Pflegekindern: Familien aus Mecklenburg-Vorpommern erzählen, auf: ndr.de (15.9.2023).
  4. E-Mail des Statistischen Amtes MV vom 16.1.2024.
  5. Kompetenzzentrum Pflegekinder (Hg.): Positionspapier Familien brauchen einen guten Rahmen. Pflegefamilien erst recht! Sonst zahlen Kinder den Preis und gehen leer aus. Ein Appell! (Mai 2023).

Autor:innen

Redaktionsleitung bei KATAPULT MV.

Ist in Greifswald geboren, hat in Augsburg studiert und zog für den Lokaljournalismus wieder zurück nach Meck-Vorp.

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