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Rechtsruck im linken Rathaus

Wie geht es weiter in Rostock?

Die größte Stadt Mecklenburg-Vorpommerns galt mit linker Oberbürgermeisterin als progressive Hochburg im Land. Doch mit der Wahl der achten Bürgerschaft hat das Stadtparlament seine rot-rot-grüne Mehrheit verloren. Trotz fehlenden Wahlprogramms für die Hansestadt zieht die AfD mit den meisten Stimmen in die Bürgerschaft. Auch das neue Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) schafft es aus dem Stand mit fünf Sitzen. Was bedeutet das für Rostock?

Die Hälfte der bisherigen Bürgerschaftsmitglieder muss das Rostocker Stadtparlament verlassen. Von insgesamt 53 Abgeordneten haben die Rostocker:innen nur 26 erneut gewählt. Am Mittwoch, den 17. Juli, fand die konstituierende Sitzung der neuen Bürgerschaft statt. Und entgegen der politischen Praxis stellt die AfD als stärkste Kraft weder den Bürgerschaftspräsidenten noch seine Erste oder Zweite Stellvertretung. Diese Posten gingen an Heinrich Prophet (CDU), Jutta Reinders (Die LINKE) und Anke Knitter (SPD). Als weitere Mitglieder des Präsidiums wurden Rainer Bauer (UFR), Lajos Orban (BSW) und Anja Eggert (Grüne) gewählt.

Anders als angekündigt, trat AfD-Mann Michael Meister nicht zur Wahl des Präsidenten an, sondern nur zur Wahl seines Ersten Stellvertreters. Diese verlor er mit 13 zu 32 Stimmen gegen Reinders, vier enthielten sich. Doch da die AfD mit neun Personen in der Bürgerschaft sitzt, müssen vier Mitglieder der anderen Parteien für den AfD-Mann als Vizepräsidenten gestimmt haben.

Balkendiagramm mit Icons von Menschen: Bürgerschaftswahl in Rostock, Sitze und Stimmenanteile in Prozent. AfD: 9 und 17,5; CDU: 9 und 16,3; Die Linke: 8 und 14,4; SPD: 8 und 14,1; Grüne: 6 und 11,1; BSW: 5 und 9,4; FDP: 2 und 3,6; Rostocker BUnd: 2 und 3,1; UFR: 1 und 2,6; die PARTEI: 1 und 2,2; Volt: 1 und 1,7; Freie Bürger: 1 und 1,4

Wie in ganz MV werden es auch im Stadtparlament mehr Parteien und Bündnisse. In Rostock sind es zwölf. So ist zu erklären, dass die AfD mit 17,5 Prozent der Stimmen stärkste Kraft ist. Die neuen Machtverhältnisse in der Bürgerschaft werden dazu führen, dass sich nicht mehr so leicht Mehrheiten finden lassen. „In der Kommunalpolitik gibt es zwar keine festen Koalitionen, aber Mehrheiten und Mechanismen, auf die man sich mehr oder weniger verlassen konnte“, erklärt Politikwissenschaftler Dr. Jan Müller von der Universität Rostock. 

Mit insgesamt 22 Stimmen hat Rot-Rot-Grün nicht die erforderliche Mehrheit – auch nicht mit den beiden potenziellen Stimmen von Volt und der PARTEI. CDU und FDP kommen selbst zusammen mit der AfD nur auf 20 Stimmen. Wie sich das neue Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und seine fünf Vertreter:innen in der Bürgerschaft verhalten werden, ist offen. Sie könnten das Zünglein an der Waage sein.

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Die Parteien, die jeweils einen Sitz haben, haben sich mit anderen Parteien zu Fraktionen zusammengeschlossen. In der vergangenen Bürgerschaft arbeiteten die Unabhängigen Bürger für Rostock (UFR) mit der CDU zusammen, die PARTEI mit der Linken. In der achten Bürgerschaft bilden UFR und die PARTEI zusammen mit der FDP eine Fraktion. Der Rostocker Bund bildet zusammen mit den Freien Wählern eine Zählgemeinschaft – für die nötige Fraktionsstärke fehlt eine vierte Person. Damit erhält die Gruppe auch keine Sitze in den Ausschüssen der Bürgerschaft.  

Volt, die mit Lisa Rieker das erste Mal in die Rostocker Bürgerschaft einzieht, wird eine Fraktion mit den Grünen bilden. Rieker wolle sich „für eine Politik des Wandels und des Fortschritts einsetzen“. Ihre Ziele seien „eine klimafreundliche Stadtentwicklung, die Förderung der Mobilität für alle und Maßnahmen gegen Spaltung und Rassismus.“

Bürgerschaft ohne klare Mehrheiten

Finden sich keine Mehrheiten, müssen die Inhalte ausgehandelt werden, erklärt Politikwissenschaftler Müller. Das sehen einige Parteien als Vorteil. Sybille Bachmann erwartet von den vermehrt wechselnden Mehrheiten in der Bürgerschaft mehr sachbezogene Politik. Auch Julia Kristin Pittasch (FDP) meint: „In Zukunft werden wechselnde Mehrheiten in der Bürgerschaft erforderlich sein. Das kann dazu führen, dass zukünftig gemeinsame, pragmatische Lösungen im Vordergrund stehen, was wir sehr begrüßen.“ Der Kreisvorsitzende der Freien Wähler, Roger Schmidt, hofft ebenfalls auf eine Fokussierung auf Sachfragen.

Auch die Grünen halten die vielfältigere Bürgerschaft für einen „Gewinn für die Demokratie“. Sie würden „auch in dieser Vielfalt konstruktiv um Mehrheiten für unsere Positionen werben.“ Doch eines stellen die Rostocker Grünen klar: „Wir werden nicht mit der AfD zusammenarbeiten.“

Laut SPD hingegen drohe „der kleinste gemeinsame Nenner oder ein Scheitern von Projekten.“ Doch auch der Kreisverband Rostock macht deutlich: „In jedem Fall wird die Sozialdemokratie in keiner Form mit der AfD zusammenarbeiten, ihre Anträge ablehnen und ihre Kandidaten nicht wählen.“ Darüber hinaus würden die Sozialdemokrat:innen eine klare Abgrenzung für eine Zusammenarbeit mit anderen Parteien voraussetzen. Ihr Umgang mit dem BSW würde also davon abhängen.

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Auch Sybille Bachmanns Rostocker Bund schließt eine Zusammenarbeit mit der AfD aus:.Doch eine Ausgrenzung der Rechtsaußenpartei würde Wähler:innen „weiter in die Arme der Blauen treiben.“ Stattdessen solle die AfD, wie andere Parteien auch, durch inhaltliche Auseinandersetzung „entzaubert“ werden. 

Der Kreisvorsitzende der Linken, Karsten Kolbe, befürchtet eine „quälende Lähmung der Stadt“, weil Oberbürgermeisterin und Bürgerschaft mehr gegen- als miteinander arbeiten, und fordert von allen demokratischen Parteien, miteinander zu kooperieren. Er sieht aber auch die Chance, „dass wieder vermehrt das bessere Argument zählt und nicht der vermeintlich falsche Absender“. Gleichzeitig stellt er klar: „Jegliche Form der Zusammenarbeit mit den Verfassungsfeinden der rechtsextremen AfD schließen wir konsequent aus.“

Oberbürgermeisterin Eva-Maria Kröger (Die Linke) erwartet, dass sich die demokratischen Kräfte abstimmen und Mehrheiten schaffen, damit Politik und Verwaltung handlungsfähig bleiben. „Ich wünsche mir, dass sich die anderen Parteien zusammenraufen, zum Wohle der Stadt.“

Säulendiagramm: Verlierer:innen und Gewinner:innen Bürgerschaftswahl Rostock, Vergleich zu 2019 in Prozentpunkten: Grüne -7,8; Die Linke -5,5; UFR -4,7; Rostocker Bund -1,1; Die PARTEI -0,3; SPD -0,3; Freie Wähler 0,1; FDP 0,3; Volt 1,7; CDU 1,8; AfD 7,8; BSW 9,4

Gewinner der Wahlen in MV

Dass die AfD in der Europawahl stark abschneiden würde, damit habe Müller gerechnet, erzählt der Politikwissenschaftler. Doch nicht damit, dass sie auch in Nordwestmecklenburg, Schwerin und Rostock stärkste Kraft werden würde. Die politische Arbeit der AfD sei auf kommunaler Ebene in der Vergangenheit nicht überzeugend gewesen. „Die Mitglieder sind oft zerstritten, aus der Partei aus- und in andere Bündnisse eingetreten“, erklärt Müller. 

Auch in Rostock zerlegte sich die AfD-Fraktion 2019, wenige Monate nachdem fünf Mitglieder in die Bürgerschaft eingezogen waren, selbst: Zwei Mitglieder wurden aus der AfD ausgeschlossen, zwei traten aus der Partei aus, die AfD verlor ihren Fraktionsstatus. Zuletzt saß nur noch Thomas Koch als fraktionsloses AfD-Mitglied in der Bürgerschaft. Im neuen Stadtparlament wird niemand von ihnen vertreten sein. 

Und schon vor der konstituierenden Sitzung der neuen Bürgerschaft hat die AfD bereits einen Personalwechsel in ihrer Fraktion vorgenommen: Anna Ehlert hat auf ihr Mandat verzichtet, nachgerückt ist Sven Sydow, ehemaliger Aktivist der als rechtsextrem eingestuften Jugendorganisation der AfD, der Jungen Alternative.

Die AfD hatte für Rostock kein Wahlprogramm. Wir hätten gerne gewusst, was ihre zentralen Vorhaben und Ziele für die Stadt sind und wer die neuen Bürgerschaftsmitglieder sind. Unsere Anfragen blieben unbeantwortet

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Der eigentliche Gewinner der Wahlen sei das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), sagt Müller: Es kam aus dem Stand auf über sechs Prozent in den Kreistagen. Nun sitzt die neue Partei in den Kreistagen von Ludwigslust-Parchim, Vorpommern-Greifswald und der Mecklenburgischen Seenplatte sowie in der Rostocker Bürgerschaft. Und das mit eher unbekanntem Personal, ohne einen eigenen Landesverband, ein halbes Jahr nach Gründung der Partei.

Auch die Vertreter:innen des BSW beantworteten unsere Fragen nicht. So bleibt die neue Partei der links-nationalen ehemaligen Linkenpolitikerin für Stadtpolitik und Zivilgesellschaft ein Buch mit sieben Siegeln. Auch Politikwissenschaftler Müller ist ratlos, wie er zugibt. 

Die Zuwachsgewinnerin ist die Europapartei Volt. Im Vergleich zu den Ergebnissen der vorherigen Wahlen 2019 konnte die Europapartei ihre Wähler:innenstimmen verdreifachen. Auch in Rostock hat sie das erste Mal einen Sitz in der Bürgerschaft.

Verlierer der Wahlen in MV

Das Ergebnis der zweitstärksten Partei, der CDU, nennt Müller historisch: „Das erste Mal in der Landesgeschichte ist die CDU nicht die stärkste Kraft bei den Kommunalwahlen.“ Ob und welche Konsequenzen die Rostocker Christdemokrat:innen aus dem Ergebnis ziehen, hat die CDU, wie unsere anderen Fragen, nicht beantwortet.

Auch die Linke verlor Stimmen. „Angesichts der dramatischen Erosion sowie der Spaltung unserer Partei sind wir trotz der Verluste nicht unzufrieden“, so der Kreisvorsitzende Kolbe.

Die Lokalpolitiker:innen sind sich einig, dass mit den Wahlen die Bundespolitik der Ampelregierung abgestraft wurde. Die Grünen haben ihr Ergebnis im Vergleich zu den vergangenen Kreistagswahlen halbiert. „Aber über 5 Prozent ist immer noch ein gutes Ergebnis für die Grünen in MV“, bilanziert Müller. 

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Die Landes-SPD hat bei beiden Wahlen historisch schlechte Ergebnisse erzielt. Auch die SPD in Rostock sieht die Gründe dafür in der Bundespolitik: „Viele Menschen wollten vor allem einen Denkzettel Richtung Bundesregierung verteilen“, heißt es vom Kreisverband. Lokale Themen hätten bei der Wahlentscheidung vermutlich eine untergeordnete Rolle gespielt. Weitere Gründe dafür sehen viele Genoss:innen in der Landespolitik, doch Ministerpräsidentin Manuela Schwesig weist diese Vorwürfe zurück.

Stärkste Parteien zur Bürgerschaftswahl Rostock 2024 nach Stadtteilen. In den Plattenbauvierteln des Nordostens und Nordwestens die AfD, in Reutershagen und Südstadt SPD, in KTV und Hansaviertel die Linke, Stadtmitte die Grünen, sonst CDU

Auswirkungen zunehmend rechts-konservativer Stimmung befürchtet

Viele zivilgesellschaftliche Initiativen und Vereine befürchten, dass es mit den neuen Machtverhältnissen in der Bürgerschaft schwieriger wird, ihre Arbeit fortzuführen. „Wir erwarten, dass die demokratischen Kräfte in der Bürgerschaft zusammenstehen, um Handlungsfähigkeit zu sichern“, fordert zum Beispiel Yvonne Niekrenz, Vorständin beim Frauenbildungsnetz MV. Sie rechne damit, dass antifeministische Anfeindungen zunehmen werden. Daher sei gerade jetzt politische Bildung im Kontext von Sexismus und Gleichstellung wichtig.

Auch Ulrike Bartel vom Verein Stark Machen, dem Trägerverein der Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt und Stalking in Stralsund und Rostock, sagt: „Der Rechtsruck erschwert unsere Arbeit.“ Doch der Verein hätte immer die Unterstützung aller demokratischen Parteien. „Wir hoffen, daran wird sich in Zukunft nichts ändern“, so Bartel.

Der Migrantenrat fordert: „Es ist entscheidend, dass die Demokraten neue Mehrheiten finden, um wichtige soziale Projekte voranzutreiben und das friedliche Zusammenleben in unserer Stadt zu fördern.“ Außerdem erwarte der Beirat, dass die demokratischen Kräfte nicht mit der AfD zusammenarbeiten.

Themenseite: Kommunalwahl 2024

Auch die Initiative Rostock Nazifrei erwartet von den neuen Bürgerschaftsmitgliedern, „dass sie sich eindeutig gegenüber der rechtsextremen AfD positionieren, es weiterhin zu keinerlei Zusammenarbeit kommt und sie nicht auf die Selbstverharmlosungsstrategie der AfD hereinfallen“. Die Aktivist:innen rechnen damit, dass Demokratieprojekte verächtlich gemacht werden und nach Ansicht der AfD nicht weiter gefördert werden sollen. „Aus anderen Städten und Bundesländern wissen wir, dass die AfD die Demokratie vor allem von innen heraus zersetzen will“, warnt Rostock Nazifrei.

Der Verein für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt Rat + Tat und der CSD-Verein befürchten zunehmende queerfeindliche Angriffe und bangen um Projekte wie Beratungsstellen. Bisher sei die Stadt die größte Geldgeberin für den CSD Rostock, der jährlich die größte Prideparade MVs veranstaltet. Vom BSW erwartet Rat + Tat keine Unterstützung: „Die handelnden Personen hier in Rostock sind uns unbekannt, doch aufgrund der Aussagen der Bundesvorsitzenden Sahra Wagenknecht haben wir wenig Hoffnung, dass das BSW eine queerfreundliche Haltung vertritt.“ Der CSD-Verein wendet sich explizit an CDU und FDP: Jegliche Sympathien und die Zusammenarbeit mit der AfD seien auszuschließen.

Wahlbeteiligung zur Bürgerschaftswahl Rostock 2024 nach Stadtteilen. In den Plattenbauvierteln des Nordostens und Nordwestens mitunter unter 50 Prozent, in Reutershagen, Südstadt, Warnemünde, Gehlsdorf und im Osten zwischen 60 und 70 Prozent und in Stadtmitte, KTV, Hansaviertel, Gartenstadt/Stadtweide, Biestow und Brinckmansdorf über 70 Prozent

CDU und FDP rückten im Wahlkampf nach rechts

Im Wahlkampf setzte die städtische CDU um MVs Fraktionsvorsitzenden Daniel Peters auf rechte Profilierung. So stimmte die Fraktion aus CDU und UFR im April geschlossen gegen die Weiterführung der Partnerschaft für Demokratie. Peters begründete das damit, dass das Demokratie-Förderprogramm des Bundes „genau so viel mit Demokratie zu tun (hat) wie die Deutsche Demokratische Republik einst hatte“. Auch die FDP enthielt sich. Der Grund: Der Trägerverein Bunt statt braun ignoriere die Gefahr von Linksextremismus.

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Mohammad Aman Anosh, Mitgründer der Rostocker Initiative Jugend spricht, prophezeit: „Wenn die CDU mit Rechtsextremen zusammenarbeitet, haben wir keine Chance mehr.“ Er befürchtet schwere Zeiten für demokratische Projekte, politische Bildung und Antirassismusarbeit. Er selbst ist 2015 aus Afghanistan geflohen und arbeitet als Projektleiter beim Eine-Welt-Landesnetzwerk MV. Er ist schockiert und enttäuscht von den Wahlergebnissen. Die AfD habe keine Lösungen für Probleme. Ebenso wenig das BSW, findet Anosh. „Ich verstehe den Kult um die Frau nicht. Sie hat keine Lösungen, ist gegen Menschenrechte, eine menschliche Asylpolitik und Zusammenarbeit.“ 

Menschen mit Migrationsgeschichte würden als erste unter asyl- und menschenfeindlicher Politik leiden. Gleichzeitig haben Betroffene seltener die Möglichkeit, mitzuentscheiden: Nicht-EU-Ausländer:innen dürfen nicht an der Kommunalwahl teilnehmen – unabhängig davon, wie lange sie in Deutschland leben oder ob sie in Deutschland geboren wurden. Stand Ende 2022 betraf das in Deutschland 6,3 Millionen Menschen. Sie sind von den Stimmen der Wahlberechtigten abhängig. Deswegen rief der Migrantenrat Rostock vor der Wahl alle Wahlberechtigten dazu auf, ihre Stimme zu nutzen: „Ich kann nicht wählen, aber du schon.“ Der Vorsitzende des Migrantenrates, Seyhmus Atay-Lichtermann (SPD), wurde nicht in die Bürgerschaft gewählt.

Der Regionalchef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Fabian Scheller, betont, dass die Politik der AfD das Leben ihrer eigenen Wähler:innen verschlechtern und die Probleme, die sie kritisiert, verschärfen würde. „Den Arbeitskräftemangel lösen wir nicht, indem wir Menschen abschieben, den Klimawandel können wir nicht ohne erneuerbare Energien bekämpfen, die Armut nicht eindämmen, indem wir den Sozialstaat ausdünnen.“

Regionale Wirtschaft erwartet keine Auswirkungen

Die regionale Wirtschaft hingegen erwartet keine Auswirkungen des parlamentarischen Rechtsrucks in MV. „Wir müssen gucken, wie sich die neue Bürgerschaft mit den Mitgliedern in AfD und BSW aufstellt“, sagt Birger Birkholz, Geschäftsführer des Unternehmerverbands Rostock-Mittleres Mecklenburg. Er hoffe auf ein „wirtschaftsfreundliches Klima“ und dass „Themen nicht in politischen Ränkespiele behandelt, sondern sachorientiert gelöst werden“.

Auch die Tourismusbranche blickt gelassen in die Zukunft: „Es gibt wesentliche Einflussfaktoren für das Reisen: die Qualität des Angebots, die Erreichbarkeit, Preis, Infrastruktur, Wetter – Politik gehört nicht dazu“, erklärt Tobias Woitendorf, Geschäftsführer vom Tourismusverband MV. Das zeige eine Gästebefragung von 7.152 Übernachtungsgästen aus dem vergangenen Jahr sowie Erfahrungen mit der NPD im Landtag.

Woitendorf illustriert das außerdem an anderen Nationen mit rechtsnationalen bis autokratischen Verhältnissen, die dennoch „veritable Reiseländer“ seien: „Frankreich, Italien, Ungarn, Ägypten, Türkei, Österreich, USA“, zählt der Tourismuschef des Landes auf.

Man wolle als Tourismusregion zwar möglichst weltoffen erscheinen, doch dass MV eine gewisse „Rechtslastigkeit“ zugeschrieben werde, sei nicht neu. „Wen es bisher nicht interessiert hat, wird es jetzt auch nicht interessieren“, mutmaßt Woitendorf. Auch die touristischen Unternehmen im Land würden keine Verschlechterung der unternehmerischen Rahmenbedingungen aufgrund der neuen Machtverhältnisse befürchten.

Zivilgesellschaft kämpft weiter

Die zivilgesellschaftlichen Akteur:innen in Rostock betonen, dass sie sich von dem Rechtsruck auch in der größten Stadt des Landes nicht entmutigen lassen. „Als Migranten und Migrantinnen sehen wir keine andere Alternative, als den Kampf gegen Rechtsradikalismus, Diskriminierung und Hass fortzusetzen“, heißt es vom Rostocker Migrantenrat. Jugend Spricht fordert die Rostocker:innen auf: „Wir dürfen uns nicht entmutigen lassen, sondern müssen unsere Kräfte bündeln, um gegen Rassismus und Intoleranz anzukämpfen.“ Der CSD-Verein nimmt ebenfalls die ganze Hansestadt in die Pflicht und appelliert, sich im Alltag zu positionieren: „Wir rufen dazu auf, gemeinsam Zivilcourage zu beweisen und betroffenen Personen zu helfen, wenn diskriminierendes Verhalten beobachtet wird.“ Und Rostock Nazifrei betont: „Es ist jetzt so wichtig wie nie zuvor, zusammen zu stehen gegenüber Feinden der Demokratie.“

Die AfD wurde in Rostock mit nur 17,5 Prozent der Stimmen stärkste Kraft. Das bedeutet auch, dass 82,5 Prozent der Rostocker:innen nicht die Rechtsaußenpartei gewählt hat.

Der Artikel erschien zuerst in unserer Juliausgabe und wurde für die Onlineveröffentlichung aktualisiert.

Korrekturhinweis: In der gedruckten Version des Artikels heißt es, der Rostocker Bund schließe eine Arbeit mit der AfD nicht aus. Das ist nicht korrekt. Außerdem wurde Thomas Koch (AfD) fälschlicherweise Robert Koch genannt. Beide Fehler wurden korrigiert.

Quellen

  1. Hanse- und Universitätsstadt Rostock (Hg.): [Youtube @HROrathaus]: Bürgerschaftssitzung 12. Juni 2024 (12.6.2024).
  2. Griesbach, Jens: Rostocker Bürgerschaft: Gemeinsame Front gegen AfD-Präsidenten, auf: nordkurier.de (4.7.2024).
  3. E-Mail von Lisa Rieker vom 12.6.2024.
  4. E-Mail von Julia Kristin Pittasch vom 11.6.2024.
  5. E-Mail von Roger Schmidt, Kreisvorsitzender der Freien Wähler, vom 11.6.2024.
  6. E-Mail von Felix Drath, Kreisgeschäftsführer der Grünen, vom 12.6.2024.
  7. E-Mail von Fritz Beise, Regionalreferent SPD-Kreisverband Rostock, vom 13.6.2024.
  8. E-Mail von Sybille Bachmann vom 11.6.2024.
  9. E-Mail von Karsten Kolbe, Kreisvorsitzender der Linken, vom 14.6.2024.
  10. E-Mail von Ulrich Kunze, Pressesprecher Hanse- und Universitätsstadt Rostock, vom 11.6.2024.
  11. DPA (Hg.): AfD in Rostocker Bürgerschaft verliert Fraktionsstatus (7.12.2019).
  12. Gemeindewahlleiter der Hanse- und Universitätsstadt Rostock (Hg.): Öffentliche Bekanntmachung über das Nachrücken einer Ersatzperson in die 8. Bürgerschaft der Hanse- und Universitätsstadt Rostock, auf: rathaus.rostock.de (16.7.2024).
  13. @hroganzlinks: Beitrag vom 4.1.2022, 22:27 Uhr, auf: x.com.
  14. afd-hro.de
  15. E-Mail von Karsten Kolbe vom 14.6.2024.
  16. E-Mail von Fritz Beise, Regionalreferent SPD-Kreisverband Rostock, am 13.6.2024.
  17. Ludmann, Stefan: MV-SPD sucht nach Wegen aus der Ergebniskrise, auf: ndr.de (11.6.2024).
  18. E-Mail von Jugend spricht vom 12.6.2024.
  19. E-Mail von Yvonne Niekrenz, Vorständin beim Frauenbildungsnetz MV, vom 12.6.2024.
  20. E-Mail von Ulrike Bartel, Geschäftsführerin von Stark Machen e. V., vom 12.6.2024.
  21. E-Mail vom Migrantenrat Rostock vom 12.6.2024.
  22. Nachricht von Rostock Nazifrei am 13.6.2024.
  23. E-Mail von Johanna Weinberg vom 11.6.2024.
  24. E-Mail von Franko Wegner vom CSD Rostock vom 12.6.2024 / KATAPULT MV (Hg.): [Instagram @katapult.mv]: Rechte Gewalt gegen queere Menschen (4.6.2024).
  25. Ludmann, Stefan: SPD wirft CDU-Chef Peters Rechtsruck vor, auf: ndr.de (24.4.2024).
  26. Mediendienst Integration (Hg.): Politische Teilhabe, auf: mediendienst-integration.de.
  27. E-Mail vom Migrantenrat Rostock vom 21.5.2024.
  28. Telefonat mit Fabian Scheller vom DGB am 11.6.2024.
  29. Telefonat mit Birger Birkholz am 13.6.2024.
  30. Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern (Hg.): Gästebefragung Mecklenburg-Vorpommern. Ausgewählte Ergebnisse 2022/2023, auf: api.statistik.tourismus.mv (27.10.2023).
  31. Telefonat mit Tobias Woitendorf am 13.6.2024.
  32. E-Mail vom Migrantenrat Rostock vom 12.6.2024.
  33. E-Mail von Jugend spricht vom 12.6.2024.
  34. E-Mail von Franko Wegner vom CSD Rostock vom 12.6.2024.

Autor:in

  • Bild von KATAPULT MV Redakeurin Victoria Flägel

    Redakteurin in Rostock

    Rostock-Redakteurin und kinderlose Katzenlady

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