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Direkte Demokratie in MV

Was bringen Bürgerentscheide?

Von und

Lesedauer: ca. 8 Minuten

MV-Karte zu Bürgerentscheiden zur Unterbringung Geflüchteter. Wo einer stattgefunden hat: Grevesmühlen, Bützow, Greifswald; Wo am Sonntag einer stattfinden wird: Waren; Wo darüber abgestimmt wird, OB Geflüchtete untergebracht werden: nirgends

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Was auf Landes- oder Bundesebene der Volksentscheid ist, ist in den Kommunen in MV der Bürgerentscheid: Er ermöglicht direktdemokratische Teilhabe in konkreten politischen Fragen. So wurde im Frühjahr in Loitz per Bürgerentscheid über den Verkauf einer Gemeindefläche entschieden. 2019 gab es einen Bürgerentscheid in Garz auf Rügen über einen Naturcampingplatz. In Parchim waren die Bürgerinnen 2011 aufgerufen, über die Umbenennung der Leninstraße zu entscheiden. Und auch zur Kreisgebietsreform im gleichen Jahr konnten Bürgerinnen direkt über die Namen der neuen Kreise abstimmen.

Grundsätzlich sind Bürgerentscheide in der Lage, Themen auf die politische Agenda zu setzen oder korrigierend auf bereits getroffene Entscheidungen einzuwirken. Themengleiche Bürgerentscheide wie in Grevesmühlen, Greifswald, Bützow und Waren sind dagegen etwas Neues. In Greifswald und Grevesmühlen wurden Grundstücke der Kommunen nicht für die Unterbringung von Geflüchteten freigegeben. In Bützow war ein Bürgerentscheid über Pläne zum Bau einer Geflüchtetenunterkunft wegen zu geringer Beteiligung gescheitert. Was allerdings die Landkreise nicht von ihrer Pflicht entbindet, Geflüchtete unterzubringen, gegebenenfalls auch in Grevesmühlen und Greifswald. Die Ergebnisse der Abstimmungen haben nur ausgeschlossen, dass dies auf städtischen Flächen passiert.

Starke Wirkungsmacht und begrenzter Einfluss

Bürgerentscheide sind verbindlich und wirken wie Beschlüsse der Gemeindevertretung. Dies unterscheidet sie von unverbindlichen Bürgerbefragungen, die sich Bützows Bürgermeister Christian Grüschow (parteilos) eigentlich für die Frage der Geflüchtetenunterkunft in seiner Stadt gewünscht hatte. Doch die Stadtvertretung beschloss im September, dass am 12. November ein Bürgerentscheid stattfindet. Auch in Waren wurde der Bürgerentscheid von der Stadtvertretung beschlossen, initiiert von den Fraktionen von CDU und FDP/MUG, die gemeinsam mit der AfD dafür stimmten.

Das unterscheidet ihn von den Bürgerentscheiden zu Geflüchtetenunterkünften in Grevesmühlen und Greifswald, die durch Bürgerbegehren initiiert wurden.

Infografik zum Ablauf eines Bürgerentscheids. 1. Bürgerbegehren (Initiative von Bürger:innen durch Unterschriftensammlung) oder Vertreterbegehren (Initiative von Gemeindevertretung durch Mehrheitsbeschluss; 2. Bürgerentscheid: Sind sie dafür, dass im Eigentum der Stadt Waren (Müritz) stehende Grundstücke zwecks Errichtung von Containerdörfern zur Unterbringung von Geflüchteten an den Landkreis MEcklenburgische Seenplatte verpachtet oder verkauft werden?; 3. Zustimmung/Ablehnung von mehr als der Hälfte der Abstimmenden: nein  = abgelehnt, ja = angenommen; Zustimmung/Ablehnung von weniger als 25 Prozent der Wahlberechtigten: nicht erfolgreich

„Die Bürgerinnen und Bürger treten in der Sachfrage an die Stelle der gewählten Vertreterinnen und Vertreter“, erklärt Christian König, Sprecher des Vereins Mehr Demokratie. Ein Bürgerentscheid sei das wirkmächtigste Instrument, das den Bürgerinnen und Bürgern zur politischen Einflussnahme zur Verfügung stehe. Die Frage ist nur: Was folgt daraus für die Bürgerentscheide in Grevesmühlen, Greifswald, Bützow und Waren?

„Ein Bürgerentscheid in einer Gemeinde ist nicht dafür da, die Flüchtlingspolitik allgemein oder die Unterbringung auf Kreisebene zu regeln“, erklärt der Rostocker Politikwissenschaftler Jan Müller. Ein Entscheid, der eine konkrete Ja/Nein-Frage enthält, könne die Flüchtlingspolitik nicht beeinflussen. Dafür brauche es Engagement in politischen Parteien. Direkte Demokratie sei nicht als Ersatz zur repräsentativen Demokratie zu verstehen. „Wer wirklich etwas verändern will, der sollte sich zur kommenden Kommunalwahl aufstellen lassen“, so Müller.

Die Mitbestimmung per Bürgerentscheid wird durch MVs Kommunalverfassung ermöglicht. Allerdings müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, wie die gesammelten Unterschriften von zehn Prozent der Stimmberechtigten oder von mindestens 4.000 Personen in größeren Orten und Landkreisen. Außerdem ist ein Bürgerentscheid nur dann zulässig, wenn die Fragestellung auch in die Zuständigkeit der Kommune fällt.

Die Entscheide zu Geflüchtetenunterkünften haben deshalb lediglich eine eingeschränkte Wirkung, denn Gemeinden und Landkreise sind verpflichtet, Landes- und Bundesgesetze, die die Unterbringung von Geflüchteten regeln, zu beachten. Hier seien die Initiatorinnen in der Verantwortung, erläutert König. Mit den Bürgerentscheiden gegen die Unterbringung auf kommunalen Flächen „dürfen die Initiativen nicht suggerieren, dass die Kommune die Wahrnehmung dieser Pflichtaufgabe umgehen könnte“. Ein Bürgerentscheid zur Nutzung städtischer Flächen sei legitim, löse aber die Herausforderung der Unterbringung nicht.

Man muss sich fragen, ob hier die direkte Demokratie ein Stück weit missbraucht wird, da gegebenenfalls falsch gespielt wird.
Christian König, Sprecher Mehr Demokratie

Sollte sich eine Mehrheit der Einwohnerinnen von Bützow im Bürgerentscheid gegen eine Gemeinschaftsunterkunft auf kommunaler Fläche aussprechen, wird der Landkreis Rostock die Unterkunft möglicherweise auf der kreiseigenen Fläche in der Dr.-Winckler-Straße errichten, erklärte im Vorfeld der Abstimmung Pressesprecherin Juliane Hinz. Das Paradoxe: Gerade diese Fläche des Landkreises in der Nähe von drei Schulen stößt in Bützow auf Ablehnung. Die Stadt wollte als Kompromiss einen eigenen Standort für eine Unterkunft für maximal 120 Menschen vorschlagen und für einen befristeten Zeitraum an den Landkreis vermieten. Doch gerade das hätten die knapp 6.500 wahlberechtigten Bützowerinnen beim Bürgerentscheid verhindern können. Nicht jedoch, dass der Landkreis seine eigene Fläche zum selben Zweck nutzt.

Nach einem gescheiterten Bürgerentscheid aufgrund zu geringer Teilnahme beschloss die Bützower Stadtvertretung, keine städtischen Flächen zu bebauen und an den Landkreis zu vermieten.

„Die Bürgerinnen und Bürger sind sich unseres Erachtens der Bedeutung und Wirksamkeit eines Bürgerentscheids bewusst“, erklärt erklärt Bützows Stadtsprecherin Katja Voß im Vorfeld der Abstimmung. Doch es sei notwendig, dass die Folgen von Bürgerentscheiden bekannt seien: Ein Nein zum Engagement der Stadt sei nicht gleichzusetzen mit einem generellen Nein zu einer Gemeinschaftsunterkunft in Bützow, so die Sprecherin.

Etwa 20 bis 30 Geflüchtete kämen pro Woche in den Landkreis Rostock und müssten untergebracht werden. Pressesprecherin Hinz nennt das eine „stark fordernde Aufgabe“. „Und sie wird nicht leichter, wenn die Kreisverwaltung in dieser Situation nicht auf die Solidarität der Gemeinden bauen kann.“

„Scheinbeteiligung“ gefährdet Demokratie

Bürgerentscheide sind verbindlich und Bürgerinnen können mit ihnen Einfluss nehmen. Doch wenn bei den Menschen das Gefühl einer „Scheinbeteiligung“ entstehe, gefährde das die Wahrnehmung, ernstgenommen und gehört zu werden, glaubt Christian König vom Verein Mehr Demokratie. Deshalb sollten alle Beteiligten klar kommunizieren, was durch den jeweiligen Bürgerentscheid geregelt werden könne und was nicht.

Schwer wiege aus Sicht von Mehr Demokratie, dass die Bürgerinnen in MV über viele wichtige Fragen gar nicht abstimmen und keinen Einfluss nehmen könnten. Der Katalog der von Bürgerentscheiden ausgeschlossenen Angelegenheiten sei im Vergleich zu anderen Bundesländern sehr lang. Im aktuellen Bürgerbegehrensbericht listet der Verein für das Jahr 2022 in MV lediglich vier von bundesweit 245 Begehren auf. Dazu kommt ein Bürgerentscheid. Zum Vergleich: In Bayern, dem Spitzenreiter bei Bürgerentscheiden, gab es 64 Begehren und 48 Entscheide.

Bürgerräte für mehr Entscheidungskompetenz

Bürgerentscheide würden von vielen Menschen als besonders demokratisch wahrgenommen, meint Janosch Pfeffer von der Leuphana-Universität in Lüneburg. Als Doktorand forscht er zur deliberativen Bürgerbeteiligung mit dem Schwerpunkt Bürgerräte.

Trotz des starken direktdemokratischen Charakters sieht Pfeffer in der eingeengten, auf ein Ja/Nein-Format reduzierten Fragestellung eine Schwäche der Bürgerentscheide. Die Initiatorinnen könnten bereits mit der Formulierung eines Entscheides eine bestimmte Richtung vorgeben. Außerdem seien Bürgerentscheide anfällig für Manipulation und böten Raum für Hetzkampagnen und Fehlinformationen. Sie seien lediglich Meinungsabfragen oft uninformierter Bürgerinnen, die wenig Austausch mit unterschiedlichen Perspektiven eingehen würden. „Das kann nicht die Demokratie sein, die wir uns wünschen.“

Pfeffer schlägt deshalb vor, neben Bürgerentscheiden auch Bürgerräte für bestimmte Themen einzusetzen. „Beide ergänzen sich gut in ihren Stärken und Schwächen.“ Ein Bürgerrat besteht aus zufällig ausgewählten Teilnehmerinnen, die für ein begrenztes Themengebiet und auf Zeit berufen werden. Damit soll vermieden werden, dass die Mitglieder den Zwängen von gewählten Politikerinnen unterliegen. Zur Idee der zufällig besetzten Bürgerräte gehört ein intensiver Austausch verschiedener Meinungen, der in einer mehrheitsfähigen Lösung gipfelt. Das sei etwas anderes als die reine Meinungsabfrage der Stimmberechtigten, erklärt Pfeffer.

Doch auch Bürgerräte haben Schwächen. Zwar bilden sie durch die Zufallsauswahl die Gesellschaft deutlich besser ab als jedes Parlament, doch als verhältnismäßig kleine Gruppe sind sie nicht statistisch repräsentativ. Die zufällig berufenen Mitglieder können einerseits frei agieren, weil sie keine Rechenschaft ablegen müssen. Andererseits sind sie weder von einer Mehrheit gewählt, noch können sie abgewählt werden. Kritikerinnen fordern deshalb, dass Bürgerräte keine Entscheidungen treffen, sondern lediglich beraten sollten. „Eine Lösung wäre ein Zusammenspiel von Bürgerrat und Bürgerentscheid“, so Pfeffer. Empfehlungen des Bürgerrates könnten durch einen Bürgerentscheid legitimiert werden. Ebenfalls sei es denkbar, dass der Bürgerrat die Fragestellung für einen Bürgerentscheid festlegt.

Bürgerräte können von lokaler bis hinauf zur bundespolitischen Ebene einberufen werden. Der erste vom Bundestag beauftragte Bürgerrat befasst sich mit dem Thema „Ernährung im Wandel. Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“. Am 14. Januar hat dieser Empfehlungen zur Verbesserung der Ernährungspolitik beschlossen. Im Mai 2023 setzte die Stadtvertretung von Malchin einen Bürgerrat ein, der Empfehlungen zum Energiekonzept der Stadt entwickeln soll. Der Gestaltungswille scheint also vorhanden.

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 25 von KATAPULT MV. Für die Online-Veröffentlichung wurde er bzgl. der Bürgerentscheide in Bützow und Waren aktualisiert.

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Fußnoten

  1. Autorinnen verwenden generisches Femininum.
  2. NDR (Hg.): Bützow: Bürgerentscheid beschlossen – wie geht es nun weiter?, auf: ndr.de (12.9.2023).
  3. E-Mail von Christian König vom 11.10.2023.
  4. E-Mail von Jan Müller vom 11.10.2023.
  5. König, Christian: Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Mecklenburg-Vorpommern, S. 3, auf: mevo.mehr-demokratie.de (Oktober 2022).
  6. E-Mail von Juliane Hinz vom 12.10.2023.
  7. NDR (Hg.): Bützow: Bürgerentscheid zur Flüchtlingsunterkunft beschlossen, auf: ndr.de (12.9.2023).
  8. E-Mail von Katja Voß vom 12.10.2023.
  9. Mehr Demokratie (Hg.): Bürgerbegehrensbericht 2023: Mecklenburg-Vorpommern im Ländervergleich abgeschlagen, auf: mevo.mehr-demokratie.de (1.6.2023).
  10. Deliberativ bezeichnet öffentliche Diskurse, öffentliche Beratung und Teilhabe der Bürgerinnen.
  11. Mehr Demokratie e.V. (Hg.): Neun Ideen für gesunde Ernährung, auf: buergerrat.de (14.1.2024).
  12. Initiative Zukunftshandeln MV (Hg.): Bürgerräte für MV, auf: zukunftshandeln-mv.de.

Autor:innen

Geboren in Rostock.
Aufgewachsen in Rostock.
Studierte in Rostock. Und Kiel.

ist KATAPULT MVs Inselprofi und nicht nur deshalb gern am Wasser. Nutzt in seinen Texten generisches Femininum.

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