Ausgrenzung kennt Christian Schenk aus eigener Erfahrung. Bereits seit 2008 lebt der Olympiasieger von 1988 mit der Diagnose „bipolare und schizoaffektive Störungen“. Beide sind durch starke Stimmungsschwankungen und psychotische Symptome wie Wahrnehmungs- und Denkstörungen gekennzeichnet. 2017 bis 2019 waren besonders harte Jahre für den ehemaligen Leichtathleten. Auf persönliche Schicksalsschläge folgten 90 Wochen Psychiatrie in Rostock, Stralsund und Berlin.
In dieser Zeit fühlt er sich von Menschen in seinem Umfeld immer wieder stigmatisiert – vor allem, weil der ehemalige Spitzensportler 2018 zugab, früher gedopt zu haben. „Für die Öffentlichkeit stand fest: Das sind keine persönlichen Schicksalsschläge, sondern Folgen des Dopings. Ich hatte meinen Stempel“, erinnert er sich. Doch noch belastender als die Vorurteile aufgrund seiner Vergangenheit ist die Unterstellung, als psychisch Kranker ohnehin nicht verlässlich und stabil zu sein. „Letztlich würde ich im Hinblick auf meine psychische Gesundheit doch sowieso wieder umfallen und mir wäre in dieser Frage nicht zu trauen“, sagt er rückblickend über die Skepsis, die ihm entgegenschlägt. Dadurch wird ihm bewusst: Inklusion im engeren Sinne – nämlich die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben trotz Erkrankungen aller Art – ist kein selbstverständliches Anliegen.
Doch Schenk bleibt zuversichtlich. Dank Medikamenten und einem antrainierten Zeitmanagement stabilisiert er sich. Gerade Letzteres hilft ihm, die Fülle der täglichen Aufgaben zu bewältigen. Anzeichen von Überarbeitung erkennt er inzwischen und weiß gegenzusteuern. Heute geht es ihm nach eigener Aussage gut.
Ein Verein als Vision
Nachdem Christian Schenk 2017 nach 20 Jahren Berlin und Potsdam in seine Heimatstadt Rostock zurückgekehrt ist, fungiert er von Ende 2020 bis 2021 als Landestrainer der Paraleichtathletik für Mecklenburg-Vorpommern, dann für kurze Zeit als Spezialist für Teilhabe in einer Rostocker Agentur. Doch es reicht ihm nicht, nur in bestehenden Gefügen mitzuarbeiten. Er will mehr bewegen für Menschen mit Behinderungen. „Inklusion wird viel zu monothematisch behandelt. Die Arbeitswelt, Musik, Sport, Gesellschaft – jeder Bereich agiert im Bereich Inklusion für sich und setzt eigene Schwerpunkte. Aber das Leben ist doch vielfältig – so wie der Zehnkampf“, erklärt der zweifache Vater. Zugleich ist er fasziniert, welche Strukturen hinter dem Thema Inklusion stecken – wie wichtig beispielsweise Rehatechnik für das mobile Leben vieler eingeschränkter Menschen ist.
Immer wieder spricht er mit Menschen, die ihn in seiner Vision von inklusiver Vielfalt inspirieren. Einer von ihnen ist ein Hornist, der das Instrument aufgrund körperlicher Einschränkungen meisterhaft mit den Füßen spielt. „Mach doch einen Verein daraus“, rät ihm schließlich sein väterlicher Freund Horst Klinkmann, ein Internist und Nephrologe, der als führender Experte für künstliche Organe gilt.
Am 16. Oktober 2021 wird all inklusiv Rostock von Schenk gegründet. Für ihn ist klar: Dieser Verein soll seine berufliche Vollzeitaufgabe werden. Sein Engagement verortet er bewusst in der Hanse- und Universitätsstadt. „Wenn Externe Rostock und MV betrachten, dann stehen wir für Natur, Wasser, Hansa und Rechts“, sagt Schenk. „Ich möchte, dass Rostock auch für etwas Soziales steht – für Inklusion.“ All inklusiv soll mit seinem Engagement deutlich über die Landesgrenzen bekannt und ein Vorbild darin werden, wie Städte Inklusion verwirklichen können. Der Verein organisiert Veranstaltungen rund um das Thema, um das gesellschaftliche Bewusstsein zu fördern. Dabei greift Schenk auf seine weitreichenden Kontakte aus Sport, Politik und Gesellschaft zurück.
Mit Netzwerk und Ausdauer
Ein Schlüsselprojekt ist das Inklusionsfestival, das vom 5. bis 7. September an unterschiedlichen Orten in Rostock in die vierte Runde gehen wird. Es soll Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen ansprechen. Im vergangenen Jahr bot es 21 verschiedene Veranstaltungen – darunter Foto- und Tanzkurse, Rollstuhlbasketball, Lesungen und Fachvorträge. Das diesjährige Motto: „Tanzen. Inklusiv!“ Die bekannte deutsche Choreografin Sascha Waltz mit ihrem Projekt „In C“ und die Chorosom Tanzcompany haben bereits zugesagt, inklusive Tanzkunst nach Rostock zu bringen.
Fast wöchentlich tingelt Christian Schenk zwischen Rostock, Berlin und Hamburg zu politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Meetings. Auf ihnen sollen Allianzen für die Inklusion geschmiedet werden: Projektpartner müssen begeistert, Netzwerke für eine breite Unterstützung aufgebaut und Sponsoren gefunden werden. Kontakte zu knüpfen oder bestehende zu nutzen, ist Schenks Stärke. „Es ist absolut von Vorteil, dass ich sehr gut vernetzt bin. Das ist wohl das größte Geschenk, das mir mein Sport und der Olympiasieg machen konnten.“
Viele kennt er seit Jahren und Jahrzehnten. Die frühere Bundesministerin Ulla Schmidt, Ex-Tennisprofi Michael Stich, die ehemalige Parasportlerin Verena Bentele – sie alle unterstützen seine Mission. Die Schauspielerin und Moderatorin Carol Campbell wurde im Februar zu Schenks Stellvertreterin im Vereinsvorstand gewählt. Regelmäßig begrüßt er prominente Gäste wie den Aktivisten Raúl Krauthausen oder den Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Jürgen Dusel, in seinem Podcast. Gemeinsam mit ihnen will er die Öffentlichkeit für das Thema Inklusion sensibilisieren.
Inklusion: „Zu sperrig, zu unsexy“?
Von Anfang stößt Christian Schenk bei seiner Vereinsarbeit auf Herausforderungen. Das Thema Inklusion sei „zu sperrig, zu unsexy“, erinnert er sich an erste Gespräche mit Rostocker Politiker:innen.
Die Besuchszahlen des letzten Festivals blieben teilweise unter seinen Erwartungen. Menschen, die er begeistern wollte, kamen nicht so zahlreich wie erhofft. „Es herrscht nach wie vor viel Scham, viel Unsicherheit. Und es kostet eine gewisse Überwindung, aus der Einsamkeit und Ängstlichkeit herauszukommen“, ist seine Begründung.
Schenk ist es gewohnt, klare Entscheidungen zu treffen. Im Bereich der Inklusion stößt er jedoch immer wieder auf Hindernisse, da viele Menschen oder Unternehmen nicht bereit sind, sich eindeutig zu positionieren. „Viele möchten sich einbringen, aber sie können oder wollen nicht klar mit Ja oder Nein antworten“, sagt er. Der Schritt, gemeinsam neue Wege zu gehen und gewohnte Denkmuster zu verlassen, sei für viele eine große Hürde. Auch für ihn ist dieser Prozess eine ständige Lerngelegenheit, um zu verstehen, was in welchem Zeitraum möglich ist. „Und wenn man jeden Tag etwas dazulernt, dann ist schon etwas gewonnen“, fügt er hinzu. Lernbereitschaft – noch so eine Eigenschaft, die ihm aus dem Zehnkampf zugutekommt.
Auch kleine Schritte sieht er als Erfolge. „Es ist schön, wenn ich in der Stadt von fremden Menschen mit Behinderungen gegrüßt werde. Das werte ich als Zeichen.“
Als weiteren Meilenstein bewertet Christian Schenk die aktuelle Einbindung eines Hamburger Projektes, deren Verantwortlichen Mitte letzten Jahres auf ihn und seine Arbeit aufmerksam geworden waren. Die Initiative KulturistenHoch2 ist ein Generationenprojekt in Kooperation mit Hamburger Schulen speziell für ältere Menschen, die sich aufgrund ihres geringen Einkommens kulturelle Teilhabe nicht oder nur sehr selten leisten können. Seit vergangenem November läuft es unter dem Dach von all inklusiv Rostock und soll ab September auch in Mecklenburg-Vorpommern ausgerollt werden. Erste Gespräche mit Schulen und Sozialverbänden laufen, um die sogenannten Tandems – ein Paar, bestehend aus einem oder einer Jugendlichen und einer älteren Person – für kulturelle Erlebnisse zueinanderzubringen. „Die Übernahme dieses Projekts war für uns eine Herzensangelegenheit. Kultur ist ein wichtiger Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe und Inklusion, und dieses Projekt ermöglicht es, Brücken zwischen den Generationen zu bauen“, sagt Schenk.
Ein weiteres Netzwerk, von dem er lernen kann, mit dem sich neue Türen öffnen und Mitstreiter finden lassen. So groß seine Vision für all inklusiv ist – Christian Schenk weiß, dass der Weg lang und steinig ist. Doch es sind gerade diese Vielseitigkeit und Ausdauer, die ihn einst als Leichtathleten auszeichneten, die auch heute seinen Kurs bestimmen. „Es ist und bleibt mein persönliches Anliegen, scheinbar Unmögliches möglich zu machen – als Teil eines gesellschaftlichen Zehnkampfs.“
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