Die Grafik zeigt auf einer Deutschlandkarte, wie viele wohnungslose Menschen je 10.000 Einwohner:innen je Bundesland untergebracht wurden. Die Erhebung ist Stand Februar 2024.

Gute Arbeit?

Jeder Euro hilft, neue Recherchen zu realisieren!

Obdachlosigkeit

Nur wer gezählt wird, zählt

Die Europäische Kommission fördert seit 2024 eine zweijährige Pilotstudie, um wohnungslose Menschen zu erfassen. Im zweiten Projektjahr beteiligt sich auch Rostock. Lokal begleitet und unterstützt wird die Untersuchung vom Projekt „MOiNS“, das langzeitobdachlosen Menschen in der Hansestadt eine eigene Wohnung ermöglichen will.
Wir brauchen euch, damit unsere Inhalte kosten- und werbefrei bleiben.

Die EU setzt sich ehrgeizige Ziele. Bis 2030 soll die Wohnungslosigkeit in der Union überwunden sein. Dafür braucht es belastbare Zahlen, denn bisher wird die Zahl obdach- und wohnungsloser Menschen vor allem geschätzt. Das Projekt European Homelessness Counts soll erstmals valide und vergleichbare Daten erheben, um anschließend Maßnahmen zu entwickeln, mit denen Wohnungslosigkeit zielgerichtet begegnet werden kann. Mehr als 30 Städte aus 20 EU-Staaten nehmen derzeit an der Studie teil.

Gezählt und befragt werden Menschen ohne Unterkunft, Menschen in Notunterkünften und Einrichtungen für Obdachlose, aber auch verdeckt Wohnungslose, die zeitlich befristet bei Freunden, Bekannten oder Verwandten übernachten. Ziel sei eine sogenannte Vollerhebung, an der sich alle relevanten Dienste und Einrichtungen, die Kontakt zu mindestens einer der Zielgruppen haben, beteiligen, erläuterte Volker Busch-Geertsema während der Auftaktveranstaltung zum Thema „European Homelessness Counts in Rostock“ Anfang April im Rostocker Rathaus. Busch-Geertsema ist Vereinsvorstand der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung. Die Bremer Forschungsinstitution koordiniert die Studie in Deutschland.

Obdach- und Wohnungslosigkeit ist vorwiegend in Städten mit mehr als 100.000 Einwohner:innen ein Problem, heißt es im aktuellen Wohnungslosenbericht der Bundesregierung.1 In MV trifft das auf die einzige Großstadt Rostock zu. Dass es im Stadtbild so wirkt, als sei das Ausmaß überschaubar, ist ein trügerischer Schein. „Die Dimension der Wohnungslosigkeit in Rostock haben wir nicht auf dem Schirm, denn sichtbar ist nur die Spitze des Eisbergs“, sagt Steffen Bockhahn (Linke), Senator für Soziales in der Hansestadt.

Es ist einer der Gründe, warum Rostock Teil der europäischen Studie ist. Obdachlosigkeit in Metropolen wie Berlin und Hamburg ist bekannt. Doch in regionalen Oberzentren im ländlichen Raum, zumal in Ostdeutschland, sei die Problematik viel weniger öffentlich, beschreibt Busch-Geertsema.

Die Grafik zeigt auf einer Deutschlandkarte, wie viele Menschen je 10.000 Einwohner:innen je Bundesland verdeckt wohnungslos sind. Die Erhebung ist Stand Februar 2024.

Fehlende Daten zu einem komplexen Problem

Mit Notunterkünften, Übernachtungsmöglichkeiten, Begegnungsstätten und Suppenküchen hat Rostock ein vielfältiges Hilfesystem für wohnungslose Menschen etabliert. Dennoch gibt es bisher keine Erhebungen über die genaue Gesamtzahl derer, die auf die Angebote angewiesen sind, weder in Rostock noch im ganzen Land oder auf Bundesebene. Lediglich die Teilgruppe wohnungsloser Menschen, die institutionell untergebracht sind, wird in einer nationalen Statistik erfasst. Zum Stichtag 31. Januar 2024 waren es bundesweit 439.465 Personen.2 In MV sind es mehr als 700.3 Dagegen fehlen Daten zu verdeckt wohnungslosen Menschen und zu Menschen ohne Unterkunft, die auf der Straße leben. Angeführte Zahlen dazu sind nur Schätzungen.

Sicher ist: Wohnungslosigkeit ist ein komplexes Problem, das verschiedene Ursachen hat. Viele Wohnungs- und Obdachlose sehen sich häufig mehreren Schwierigkeiten gegenüber, die sie insgesamt überfordern. Dazu gehören soziale, finanzielle oder gesundheitliche Herausforderungen und Notsituationen. Oftmals erschwert Wohnungslosigkeit den Zugang zu anderen sozialen Infrastrukturen wie Bildung, Gesundheitsversorgung und sozialer Sicherheit, heißt es im Wohnungslosenbericht. Gleichzeitig verschärfen psychische und körperliche Gesundheitsprobleme, die häufig mit Armut und Wohnungslosigkeit einhergehen, die Situation ebenso wie Erfahrungen von Diskriminierung und Stigmatisierung. Betroffene geraten in eine Abwärtsspirale, die sie weiter in die Isolation treibt.4

Die Grafik zeigt auf einer Deutschlandkarte, wie viele wohnungslose Menschen je 10.000 Einwohner:innen je Bundesland ohne Unterkunft sind. Die Erhebung ist Stand Februar 2024.

In Rostock werden nun Daten erhoben

Mit der Erfassung aller wohnungslosen Personengruppen, die in Rostock voraussichtlich Anfang Oktober stattfinden wird, können erstmals belastbare Daten herangezogen werden. Mit ihnen sollen die bestehenden Hilfsangebote überprüft und gegebenenfalls weiterentwickelt werden. Zudem werde die Stadtgesellschaft auf das Thema Wohnungslosigkeit aufmerksam gemacht. „Es wird deutlich, dass die vermeintliche Gruppe der wohnungslosen Menschen sehr differenziert betrachtet werden muss“, erklärt Busch-Geertsema. Das wirke sich auf die strategische Ausrichtung der Wohnungsnotfallhilfen und auf die Wohnraumversorgung aus.

„Mit den Erkenntnissen aus der Studie wollen wir auch kritisch auf unsere Arbeit in der Verwaltung blicken“, sagt Anika Leese, Leiterin des Amtes für Soziales und Teilhabe in Rostock. Ziel sei es, herauszufinden, wo die Hansestadt investieren müsse, um die Zahl der Wohnungslosen nicht nur zu stabilisieren, sondern auch zu senken. „In Rostock haben wir eine angespannte Wohnraumsituation mit weniger als einem Prozent Leerstand“, berichtet sie. Das sei kritisch und könne zu einer steigenden Zahl an Wohnungslosen führen. Deshalb brauche es eine gemeinsame Anstrengung aller, um Wohnungslosigkeit zu überwinden.

Housing First – ein neuer Ansatz

Partner des europäischen Datenvorhabens ist in Rostock das lokale Projekt MOiNS, das die EU-Studie in der Hansestadt unterstützt und zugleich einen konkreten Weg aus der Wohnungslosigkeit aufzeigt. Als erste Kommune in MV setzt Rostock mit MOiNS ein sogenanntes Housing-First-Modell um, das obdachlosen Menschen dauerhaft Wohnraum verschaffen soll.

Das Konzept von Housing First: Zuerst kommt die Wohnung, dann alles andere. Obdachlose und verdeckt wohnungslose Menschen sollen aus ihrem eigenen Wohnumfeld heraus zurück in die Mitte der Gesellschaft gelangen.

Sandra Knobloch ist bei MOiNS für die Wohnraumbeschaffung zuständig. „Wer am Modell Housing First teilnimmt, kann sich aussuchen, in welchem Stadtteil wir nach einer passenden Wohnung suchen“, erklärt sie, denn Wohnungslose sollen in ihrem Kiez bleiben können, wenn sie es möchten. Knobloch ist die Schnittstelle zwischen ihnen und den Vermieter:innen und sucht vor allem bedarfsgerechte Wohnungen mit einem bis anderthalb Zimmern. In der Kommunikation möchte sie mögliche Voreingenommenheiten abbauen und Vertrauen stärken. „Housing First bietet den Vermietern ein Rundumpaket“, argumentiert die Fachangestellte, denn Sozial- und Facharbeiterinnen kümmern sich nicht nur um eine geregelte Finanzierung der Miete, sondern auch um alle Belange der neuen Mieter:innen. 15 Wohnungen will MOiNS pro Jahr vermitteln.

„Mit Housing First bietet die Hansestadt ein zusätzliches Angebot zu den bereits bestehenden Hilfseinrichtungen wie dem Nachtasyl und den Gemeinschaftsunterkünften für Wohnungslose“, erklärt Julia Wenzel, die im Projekt MOiNS für die Fachberatung Housing First zuständig ist. Sie weiß: Nicht alle Wohnungslosen können und wollen in diesen Einrichtungen unterkommen. Viele hätten vielschichtige individuelle Probleme, die mit einem Leben in Gemeinschaftsunterkünften nicht vereinbar seien.

Knapp 400 Personen in Rostock dauerhaft wohnungslos

Housing First bedeutet, dass der Erhalt einer Wohnung an fast keine Bedingungen geknüpft ist. Lediglich formale Voraussetzungen gilt es zu beachten: Die Teilnehmer:innen des Projektes müssen volljährig und alleinstehend sowie erkennbar in Rostock beheimatet sein. Wer nicht ins Projekt passt, soll in weiterführende Hilfsangebote vermittelt werden. MOiNS wirkt ausschließlich kommunal. Ein sogenannter Obdachlosentourismus solle vermieden werden.

Wohnungslose Menschen erhalten mithilfe des Projekts eine feste eigene Wohnung mit Mietvertrag. „Wohnen ist ein Menschenrecht“, nennt Wenzel das oberste Prinzip von Housing First. Dabei sei es wichtig, den Menschen die Würde zu geben, „selbst entscheiden zu können, wie ihr Leben weitergeht“. Der Bedarf scheint hoch. In Rostock leben nach aktuellen Schätzungen derzeit etwa 60 bis 80 obdachlose und knapp 300 wohnungslose Menschen. Hinweise auf die Anzahl geben Hilfsangebote wie die Begegnungsstätte Bahnsteig 1, wo etwa 200 Personen eine Postadresse angemeldet haben. „Die Zahl ist relativ aktuell, denn wer nicht regelmäßig vorbeischaut, verliert die Adresse wieder“, weiß Knobloch.

Sozialarbeiterinnen unterstützen im neuen Zuhause

Bis zu 15 Teilnehmerinnen und Teilnehmer wollen Wenzel und ihre Kolleginnen pro Monat beraten und beweisen, „dass es möglich ist, wieder in eine eigene Wohnung zu kommen, eine Arbeit zu finden und ein soziales Umfeld aufzubauen“. Die Wohnung ist der Anfang von allem. Hier sollen die ehemals Wohnungslosen frei über ihren Alltag entscheiden dürfen und nicht mit Verboten konfrontiert werden, solange ihre Verhaltensmuster und Gewohnheiten im Rahmen des Zumutbaren bleiben. Das schließt auch Suchtverhalten ein. Zwei Sozialarbeiterinnen unterstützen in der neuen Wohnung, geben Anstöße und Vorschläge für eine Tagesstruktur und die damit verbundene Integration in die Gesellschaft. „Viele Probleme werden wir erst nach dem Einzug erkennen“, schaut Knobloch voraus. Wenn Menschen über einen längeren Zeitraum wohnungslos waren, müssen sie sich erst wieder an das Leben in den eigenen vier Wänden gewöhnen. Putzen oder den Briefkasten öffnen: Was banal klingt, ist für viele langjährige Obdachlose ungeübte Praxis. Ein neues Zuhause alleine löst nicht jedes Problem, aber es schafft einen Raum, in dem Menschen wieder anfangen können, ihr Leben aufzubauen. Wohnung und Hilfsangebote sind deshalb eng miteinander verknüpft, um eine langfristige Stabilität zu gewährleisten.

Die Datenstudie European Homelessness Counts wird ihren Teil dazu beitragen. Mit der genauen Erfassung der wohnungs- und obdachlosen Personen in der Hansestadt und den daraus gewonnenen Erkenntnissen lassen sich Hilfsangebote zielgerichtet anpassen. Es kommt aber auch auf die Kommune und sozial engagierte Wohnungsunternehmen an. Obdach- und Wohnungslosigkeit zu verringern, ist eine Aufgabe, die nur im Zusammenspiel aller Beteiligten gelingen kann. Wie gut das funktioniert, zeigt sich spätestens 2030, wenn die Europäische Union Wohnungslosigkeit überwunden hat – oder auch nicht.

Weiterlesen: Obdachlose Frauen in Rostock

zu sehen sind drei gedruckte Ausgaben von KATAPULT MV

Dieser Artikel erschien bereits in unserer Printausgabe, die ihr im Abo oder im Shop bekommen könnt!

  1. Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (Hg.): Wohnungslosenbericht der Bundesregierung, S. 21, auf: der-paritaetische.de (2025). ↩︎
  2. Statistisches Bundesamt (Hg.): Untergebrachte wohnungslose Personen: Deutschland, Stichtag, Nationalität, Geschlecht, Altersgruppen, auf: www-genesis.destatis.de (Stand 15.4.2025). ↩︎
  3. Statistisches Bundesamt (Hg.): Untergebrachte wohnungslose Personen: Bundesländer, Stichtag, Nationalität, Geschlecht, Altersgruppen, auf: www-genesis.destatis.de (Stand 15.4.2025). ↩︎
  4. Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (Hg.): Wohnungslosenbericht der Bundesregierung, S. 12, auf: der-paritaetische.de (2025). ↩︎

Autor:in

  • Freier Redakteur

    Ist KATAPULT MVs Inselprofi und nicht nur deshalb gern am Wasser. Nutzt in seinen Texten generisches Femininum.

Gute Arbeit?

Jeder Euro hilft, neue Recherchen zu realisieren!