Arne Bölt ist Diakon der evangelischen Innenstadtgemeinde in Rostock. Als Kirchenmann äußert er sich überlegt, bedacht, aber ebenso klar und kritisch. Er arbeitet regelmäßig mit Geflüchteten, kümmert sich um Förderung, Vernetzung, direkte Beratung und die Organisation von Kirchenasyl. Er hält wenig vom Erstaufnahmelager in Horst.
Horst, das Erstaufnahmelager mitten im Wald in der äußersten Ecke Mecklenburgs, ist für ihn eine unzumutbare Einrichtung. „Die geografische Lage kann bei den Menschen im Lager nur das Gefühl des Abgeschobenseins hervorrufen“, sagt er. Wer in Horst unterkommt, unterkommen muss, ist aus der Gesellschaft herausgenommen.
Das nennt sich Rassismus. Damals, zu Beginn der Neunzigerjahre, befand sich die Erstaufnahmestelle in Rostock-Lichtenhagen. Hier wurden Menschen von einem gewaltbereiten Mob und unter dem Applaus der Anwohnerinnen angegriffen, mussten um Leib und Leben fürchten. In Horst, umgeben von Wald, ist die direkte Gefahr weitaus geringer.
„Statt den Rassismus innerhalb der Gesellschaft zu lösen, werden die eigenen Probleme auf Geflüchtete abgewälzt“, klagt Bölt. Das Lager in Horst ist für den Diakon deshalb auch ein kurzsichtiges Symbol im Umgang mit der Eskalation der Gewalt in Lichtenhagen. Statt Täterinnen zur Verantwortung zu ziehen, wurden und werden Geflüchtete und Asylsuchende in der Abgeschiedenheit eines für sie fremden Landes kaserniert.
Lagerkoller ohne Teilhabe
Teilhabe könne sich niemand in Horst leisten, erklärt Bölt. Zu gering sei das zugewiesene Taschengeld, als dass eine sinnvolle Beschäftigung damit möglich wäre. Schon die Fahrtkosten, um mit dem Nahverkehr in den nächstgelegenen Ort zu fahren, seien für viele Bewohnerinnen der Aufnahmestelle eine finanzielle Herausforderung.
Die teils schwierige Wohn- und Versorgungssituation in Horst kennen Bölt und viele Mitstreiterinnen privater Initiativen nur von außen. Zum Lager selbst erhalten sie keinen Zutritt. Die Argumentation: Das ist so. Bölt zuckt mit den Schultern. „Wir haben von außen gar keinen Einblick, wie es drinnen zugeht.“ Dadurch entstehe Misstrauen, das erst mit einer Öffnung des Erstaufnahmelagers entkräftet werden könne.
Hin und wieder kommen Bölt und andere Aktivistinnen mit Bewohnerinnen des Lagers ins Gespräch. „Uns wird immer wieder berichtet, dass Menschen aus unterschiedlichen Religionen und Kulturen in einer Wohneinheit, oft in einem Zimmer zusammenleben müssen.“ Die vorherrschenden Konflikte im Aufnahmelager wären vielleicht weniger ausgeprägt, wenn eine sensiblere Aufteilung stattfinden würde.
Die zentral geregelte Versorgung stelle für viele Asylsuchende und Geflüchtete die größte Herausforderung dar, erklärt Bölt. Eine individuelle Versorgung entsprechend den eigenen Gewohnheiten sei nicht vorgesehen. Den Bewohnerinnen im Lager fehlt jede Möglichkeit, selbst Lebensmittel zuzubereiten. Zwar werde auf religionsspezifische Ernährungsweisen geachtet, dennoch sei die Versorgung sehr einseitig und nach heimischen, also (nord-)deutschen Eigenarten zubereitet. „Abends Stulle mit Wurst, mittags ein warmes Gericht in regelmäßiger Wiederholung wie bei der Schulspeisung. Das kann man zwei Wochen mal machen, aber zum Teil sind die Leute deutlich länger dort“, erklärt Diakon Bölt.
Ungleiche Asylpolitik
Deutlich länger, das kann Jahre bedeuten. „Es gibt Menschen, die seit 2015 im Erstaufnahmelager sind“, sagt Bölt. Dabei sei die Grundidee des Erstaufnahmelagers, ein Asylverfahren möglichst schnell abzuschließen. Doch offenbar gelingt das für einige nicht.
Bölt fürchtet, dass vor allem ein Zeichen der Abschreckung gesetzt werden soll, wenn Menschen jahrelang in unwürdigen Verhältnissen leben müssen, damit andere ihnen nicht folgen. „Menschen aus bestimmten Ländern benötigen überdurchschnittlich lange für ihre Asylverfahren“, stellt Bölt fest.
Geflüchtete aus der Ukraine oder aus Syrien 2015 hätten sehr schnell Klarheit über ihren Aufenthalt in Deutschland bekommen. Dagegen blieben Menschen aus afrikanischen Ländern, dem Iran oder auch Kurdinnen aus der Türkei vergleichsweise lange im Lager.
Diese unterschiedliche Behandlung sei ein Ausdruck politischer Weichenstellungen, erklärt der Diakon. Während Menschen aus akuten Krisen- und Kriegsgebieten schnell durch die Verfahren geführt werden, hätten es Geflüchtete aus anderen Regionen schwerer. „Aus dem Iran kommen fast nur Menschen aus religiösen Gründen“, meint Bölt. „Da werden die Beweggründe ganz genau geprüft und das ist tatsächlich sehr langwierig.“
Diesen Aufwand hält Bölt für unbegründet. Niemand verlasse ohne Not die Heimat. Wer sich auf den Weg mache leide, argumentiert er. Da brauche es keine langwierige Prüfung.
Dann erzählt er von einem EDV-Spezialisten aus dem Iran, der fünf Jahre in Horst auf die Bewilligung seines Asylanspruchs warten musste und während dieser Zeit weder arbeiten noch sich weiterbilden durfte. Nach den fünf Jahren war sein EDV-Wissen veraltet. Jetzt arbeite der Mann in einer Bäckereifiliale. „Wenn man ihm sofort eine Arbeitserlaubnis gegeben hätte, hätte er als EDV-Spezialist einsteigen können und wir hätten hier eine dringend benötigte Fachkraft mehr gehabt“, ist Bölt sicher.
Fischen am rechten Rand
Das System sei nicht geeignet, den Menschen entgegenzukommen, klagt der Diakon. Warum es so schwer sei, Asylverfahren zügig abzuschließen, liegt für Bölt vor allem an politischer Angst. Es könnten Stimmen der Wählerinnen am rechten Rand verloren gehen. „Da kommt jemand, ist gut ausgebildet, erhält einen gut bezahlten Job – das passt zur Erzählung der neuen Rechten“, meint Bölt. Dass diese Person keinen Arbeitsplatz „wegnimmt“, weil es ohnehin an Fachkräften mangelt, bleibt in der Argumentation außen vor.
„Unsere Politik hat mehr Angst, als sie haben müsste“, findet Bölt. Würden ausländische Fachkräfte einfacher in Deutschland Fußfassen können, wären sie sichtbarer und könnten zugleich die Arbeitsmarktsituation entspannen.
Die evangelische Kirchengemeinde bietet ebenso wie andere zivilgesellschaftliche Initiativen Beratungsangebote für die Bewohnerinnen des Erstaufnahmelagers in Horst an. An jedem letzten Sonntag im Monat findet eine sogenannte Mahnwache vor dem Eingangsbereich des Lagers statt. Medizinische und juristische Beratungen werden angeboten und Tee ausgeschenkt. Ein bisschen Hilfe und Freundlichkeit für diejenigen, deren Leben mitunter seit Jahren im Wartezustand gehalten wird.
Aber auch diese Unterstützungsangebote sind mit Hürden versehen, denn „es wäre viel leichter, wenn die Beratungsstellen im Lager mit den Menschen ins Gespräch kommen könnten“. Stattdessen sind die Initiativen darauf angewiesen, dass die Bewohnerinnen den Weg zu ihnen vor die Tore des Lagers finden. Zivilgesellschaftliche Organisationen dürfen das Lager nicht ohne Auftrag der Leitung betreten.
Die Situation vor Ort
Während der Mahnwachen versuchen die Beratungsinitiativen ein Gefühl für die Situation vor Ort zu bekommen und in möglichst vielen Sprachen mit den Menschen über ihre Sorgen und Nöte zu sprechen. Dabei sprechen diese die nicht zufriedenstellende Versorgungssituation immer wieder an. Manchen schlägt das Essen auf den Magen und besonders kleinere Kinder haben Probleme mit der Einheitsküche und den hiesigen Essgewohnheiten.
Auch die medizinische Versorgung im Erstaufnahmelager wird beklagt. Es gibt keine Ärztin vor Ort. Im Ernstfall müsste diese erst gerufen werden.
Es gibt Argumente für diese Institutionalisierung, doch „aus humaner Sicht ist sie menschenunwürdig“, sagt Bölt. „Durch diese Struktur, diese Rechtlosigkeit, wird alles komplizierter.“
Umgang mit Angestellten
Aber auch die Behandlung der Asylsuchenden durch das angestellte Personal im Erstaufnahmelager sei nicht immer angemessen. Von freundlicher Ansprache bis zum Kasernenton sei alles vorhanden, berichtet Bölt aus zweiter Hand. Fehler seien menschlich, auch für die Mitarbeiterinnen im Erstaufnahmelager. Er wolle nicht generalisieren. Er glaubt daran, dass Sozialarbeiterinnen im Lager gute Arbeit leisten. Dennoch wird ihm auch immer wieder von demütigenden und rassistischen Bemerkungen berichtet. „Rede Deutsch mit mir, wir sind hier in Deutschland“, heißt es dann. Aber: Die Bewohnerinnen bekommen keinen Zugang zu Sprachkursen, keine Angebote, keine Vorbereitung auf eine Integration.
Das sei in Ordnung, wenn der Aufenthalt lediglich auf wenige Tage begrenzt wäre, aber über Jahre ist dieser Zustand nicht tragbar. Das Grundgefühl der Bewohnerinnen sei, dass sie aufbewahrt und nicht gut behandelt werden, berichtet Bölt.
Institutioneller Rassismus
Dass im Erstaufnahmelager in Horst „Menschen je nach Herkunft verschieden behandelt werden“, ist für den Diakon ein Zeichen von institutionellem Rassismus. Dass Bewohnerinnen allein aufgrund ihrer Herkunft unterschiedlich lange auf ihre Asylverfahren warten müssen, widerspricht dem Grundsatz, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien. „Das ist Rassismus“, sagt Bölt.
Ukrainerinnen hatten zuletzt viel schneller viel mehr Rechte und Möglichkeiten als Menschen, die aus anderen Kriegsgebieten nach Deutschland flohen. Das heißt nicht, dass die Hilfe für die Ukrainerinnen nicht gerechtfertigt und richtig sei. Es zeigt jedoch, dass in Asyl- und Aufnahmeverfahren mit zweierlei Maß gemessen wird.
Doch der institutionelle Rassismus endet nicht an den Toren des Erstaufnahmelagers. „Menschen mit Migration verstehen manchmal die Sprache nicht und haben mehr Unterstützungsbedarf“, erklärt Bölt. Gerade bei Behörden käme es deshalb immer wieder zu Schwierigkeiten. „Das Personal ist oft überfordert. Jedes Problem das sie nicht haben, ist ein gutes Problem“, vermutet Bölt. Die Unterstützung leisten am Ende nicht die Behörden, sondern Sozialarbeiterinnen.
Dieses Phänomen sei jedoch nicht allein an Migration geknüpft. Auch Menschen, die regelmäßig bei Ämtern vorsprechen müssen, etwa weil sie von Armut betroffen sind, erleben die gleichen Situationen.
Die Behörden schauen viel zu selten nach dem Bedarf der Menschen. Ihnen gehe es nicht darum, den Kummer der Bittstellerinnen zu verringern, glaubt Bölt.
Behördenversagen in Lichtenhagen
Der institutionelle Rassismus in den Behörden ist ein altbekanntes Problem, auch wenn es noch nicht lange so benannt wird. Das Pogrom in Lichtenhagen 1992 wäre nicht passiert, wenn Behörden ihren Aufgaben nachgekommen wären. Auch in den Wochen, Monaten und Jahren danach gab es keine Aufarbeitung. Nun, 30 Jahre später, wird es immer schwieriger zu rekonstruieren, wer wann was versäumt hat. Das sei bis heute schädlich für die Institutionen, weil „noch immer im Raum steht, dass in den Entscheidungspositionen damals Menschen gesessen haben, die das [Pogrom, Anm. d. Red.] eventuell so gewollt haben könnten“. Dieser Vorwurf lasse sich heute nicht mehr beweisen, aber da die Geschehnisse nicht aufgeklärt wurden, bleibe ein Nachgeschmack, so Bölt.
Es sei menschlich, schlechte Ereignisse zu verdrängen. Dass daraus ein gesellschaftliches Trauma wurde, könne niemandem vorgeworfen werden. Für Bölt reihen sich die Ereignisse von Lichtenhagen nahtlos ein in die Liste unzureichend aufgearbeiteter Probleme der deutschen Geschichte, wie der DDR-Vergangenheit und dem Dritten Reich. „Warum bekommen wir die Aufarbeitung mit den Generationen, die beteiligt sind, nicht hin?“, fragt Bölt. Offenbar eine Frage, die seit vielen Jahrzehnten unbeantwortet bleibt.
Der Artikel ist eine Fortsetzung unserer Sonderausgabe zum Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992 und seinen Folgen bis heute. Sie kann im KATAPULT-Shop bestellt werden. Weitere Artikel zum Thema gibt es auf unserer Themenseite.