Interview

Integrationsbeauftragte Jana Michael

Geboren wurde Jana Michael in der damaligen Tschechoslowakischen Republik. Sie gründete Organisationen für und von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, setzte sich für die migrantische Community in MV ein und erhielt für ihr Engagement das Bundesverdienstkreuz. Dieses Jahr wurde sie Integrationsbeauftragte des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Im Interview mit dem Rostocker Lokalradio Lohro und KATAPULT MV sprach sie über das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992, Rassismus heute und die Aufgaben der Landesregierung. Das Interview führte Lohro-Redakteurin Flavia.

Was verbinden Sie mit Lichtenhagen?

Sehr vieles natürlich. Lichtenhagen ist allen in Deutschland bekannt, glaube ich. Aber nicht nur in Deutschland. Zu dem Zeitpunkt, 1992, habe ich noch nicht hier gelebt, aber es war wirklich europaweit in den Nachrichten. Ich war erschrocken. Bei uns hatte das damals die Überschrift Absoluter Wahnsinn und so empfand ich das auch: Menschen eingeschlossen in einem Haus, Tausende schauen zu, wie andere Menschen leiden. Das war für mich ein absoluter Schock und bleibt es bis heute. Wie können sich Menschen so verhalten und andere Menschen so ausschließen, ausgrenzen, quälen? Und das sind Fragen, die viel mit der Integration von Menschen – nicht nur in MV – zu tun haben. 

Sind diese Gedanken und Gefühle bei Ihnen heute noch präsent?Ich denke, es ist noch schlimmer geworden. Bei vielen von uns, also bei denen, die nicht in Deutschland geboren sind, die keine „echten Deutschen“ sind. Uns allen gehen diese Bilder sehr nah, weil wir wissen, dass auch uns das passieren könnte, unseren Kindern das passieren könnte. Auch Menschen, die sich als Deutsche fühlen, die hier geboren sind, die perfekt Deutsch sprechen und sich trotzdem oft die Frage stellen müssen: Ist das wirklich meine Heimat? Das kann nicht sein und das darf nicht sein. Das ist nicht das, was wir mit Integration wollen. 

Haben Sie auch eigene Erfahrungen mit Diskriminierung und Rassismus in Deutschland gemacht?Die Liste der Erfahrungen, die ich gemacht habe, ist sehr sehr lang. Deswegen ist mir das Thema Rassismus auch schon so lange wichtig. Ich war lange Teil der Zivilgesellschaft, bevor ich in die Position bei der Landesregierung gewechselt bin. Ich weiß, dass es Diskriminierung und Rassismus nicht nur in MV oder Deutschland gibt, das findet weltweit statt.

Ich habe in den letzten zwei Jahren zum Thema Rassismus viel recherchiert und geforscht – zusammen mit der Hochschule Neubrandenburg und der Amadeu Antonio Stiftung. Ich habe mich an einer qualitativen Studie zum Thema Rassismus beteiligt, die sich vor allem mit der Situation von Frauen beschäftigt. Denn sie sind eher von Mehrfachdiskriminierung betroffen als Männer. Das Thema Rassismus ist mir sehr bekannt. Und es ist eines meiner Hauptthemen für die nächsten viereinhalb Jahre. 

Denn es ist ein Prozess. Mittlerweile wird über Rassismus gesprochen und wir haben zum ersten Mal in Deutschland eine Antirassismusbeauftragte: Reem Alabali-Radovan. Das ist ein sehr starkes Signal an die migrantische Gesellschaft.​

Stichwort Rassismus entgegentreten: Was sind die aktuellen Herausforderungen?Aktuell der Krieg in der Ukraine und der damit verbundene antislawische Rassismus. Seit 2011 beobachten wir, dass antimuslimischer Rassismus enorm ansteigt. Wir sehen auch, dass Antisemitismus wieder sehr ansteigt. Und das unabhängig davon, ob hier Juden und Jüdinnen, Muslime und Muslimas leben. 

1992 haben viele junge Menschen die rassistischen Angriffe ausgeübt. Auch diese Menschen haben natürlich Kinder bekommen. Daher glaube ich, dass wir viel mehr mit der 

jüngeren Generation sprechen müssen und schauen, wie es ihnen geht, welche Sorgen sie haben, was sie bewegt. 

Einerseits erleben wir zwar eine starke Weltoffenheit, Klimagerechtigkeit, aber auch die andere Seite erstarkt nach wie vor. Wir merken, dass Frauenfeindlichkeit und Ausländer:innenfeindlichkeit wieder wachsen. Da müssen wir anfangen. Wir haben in den letzten Jahren gesehen, was passiert, wenn man das nicht thematisiert und wenn man nichts dagegen tut.

Sehen Sie die Gefahr, dass nach der sogenannten „Generation Baseballschlägerjahre“ eine zweite Generation entstehen könnte?Aus der nichtdeutschen Perspektive: Ja, ich sehe diese Gefahr. Ich nehme Menschen mit den gleichen Sorgen wahr. Aber ich möchte dazu sagen: Wir nehmen diese Gefahr wahr und es wird sehr viel dafür getan, damit es nicht eskaliert. Das ist nichts, wo der Staat oder die Regierung nicht gegensteuern.

Wessen Aufgabe ist es, sich Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus entgegenzustellen?Das ist Aufgabe von allen Menschen. Wir alle müssen Antirassist:innen werden. Wir müssen alle schauen, was Antisemitismus ist. Da müssen wir alle anfangen. Wir sind alle aufgewachsen mit einem latenten und subtilen Rassismus, mit Kinderbüchern, in denen Ausländer:innen nicht gerade nett abgebildet wurden, und mit einer Wirklichkeit, in der sehr viele Zuschreibungen zu finden sind. Jeder von uns muss gucken: Was kann ich selbst verbessern?

Was sind Ihre Schwerpunkte als Integrationsbeauftragte der Landesregierung?Den Menschen Teilhabe ermöglichen, egal woher sie kommen, welcher Nation sie angehören, welche Sprache sie sprechen. Einen starken Fokus lege ich auf das Thema Rassismus: Wie können wir mit Rassismus umgehen? Wie starte ich die interkulturelle Öffnung von Schulen, Kitas, Bildungseinrichtungen und Verwaltungen? Das alles steht auch im Koalitionsvertrag. 

Wir sind gerade dabei, ein neues Integrations- und Teilhabegesetz zu schreiben. Das ist auch ein Signal an die Menschen, dass sie Teilhabe genießen sollten. Wir bieten viele Veranstaltungen mit sehr vielen Partner:innen aus unserem Land an. Die Landeszentrale für politische Bildung arbeitet natürlich auch in die gleiche Richtung und hat natürlich auch eigene Programme. Es gibt eine bunte Palette wie Integration bei der Arbeit oder interkulturelle Pflege für ältere Menschen.​

Wir müssen Integration anders denken. In Mecklenburg-Vorpommern war Integration sehr lange: Migrant:innen kochen, Migrant:innen tanzen, Migrant:innen machen für uns Kulturprogramm. Das ist nicht das, was die Menschen brauchen. Sie brauchen stark ausgebaute Systeme zum Beispiel für psychosoziale Versorgung, damit sie gut beraten sind, wenn sie ankommen, und sich gleich integrieren können.

Sie waren Ende Juli bei der Eröffnung der drei Wanderausstellungen zum Thema Kein Mord mehr. Unter anderem wurden Bilder der Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 gezeigt und ihre Namen vorgelesen. Welche Gefühle hat das bei Ihnen ausgelöst?Ich hatte gleich Gänsehaut. Und Assoziation zu meiner Stadt Prag mit der jüdischen Synagoge, in der die Namen aller Holocaustopfer abgebildet sind, die immer wieder gelesen werden. So war das auch bei dieser Veranstaltung: Man sieht die Menschen, die eigentlich ohne Grund gestorben sind. Nur, weil sie nicht als Deutsche gelesen wurden. Unter den Opfern sind auch kleine Kinder – ich glaube, das jüngste war vier Jahre alt. Und natürlich fragt man sich: Mit welchem Recht? Wer hatte das Recht, diesen Menschen das Leben zu nehmen, nur weil sie nicht deutsch waren? Das waren meine ersten Gedanken. Ich hoffe, dass viele Menschen diese Ausstellung besuchen und die Wirkung selbst spüren. (…)

Es ist mir wichtig, dass Menschen das Thema weitertragen. Aber es ist mir auch wichtig, dass sie an ihre Sicherheit denken. Die Sicherheit der Menschen, die sich für andere einsetzen. Ich habe gerade heute viele junge Menschen eingeladen und mich bei ihnen bedankt, weil sie sehr aktiv in der Arbeit mit Geflüchteten und Migrierten sind. Auch da haben wir über das Thema gesprochen und es gibt diese Angst: Wenn ich mich als Antirassistin zeige, wenn ich mich gegen rechte Gewalt positioniere, hat das Folgen für mich? Möglicherweise so schlimme Folgen wie für Betroffene von Rassismus? Darüber müssen wir sprechen, dieses Thema werde ich mir als Integrationsbeauftragte vornehmen und platzieren. 

Wie möchte die neue Landesregierung zur Aufarbeitung des Pogroms von Lichtenhagen beitragen?Dabei geht es nicht nur um Lichtenhagen. Es ist nicht nur für Rostock, sondern für das ganze Land wichtig, dass Menschen in der politischen Bildung arbeiten.

Wir haben das Landesprogramm Demokratie und Toleranz gemeinsam stärken, wir haben die Zentren für die demokratische Kultur, die viele Veranstaltungen und Weiterbildungen anbieten, es gibt die Ehrenamtsstiftung mit verschiedensten Veranstaltungen, Programme von Einzelpersonen und Vereinen. Es ist unglaublich viel getan, auch wenn das vielleicht nicht immer sofort sichtbar ist. 

Und die neue Landesregierung hat viel mehr Geld für die Themen Integration und politische Bildung in den Schulen bereitgestellt. Das ist der erste Schritt. Der Integrationsfonds wurde um eine Million aufgestockt, das heißt, wir haben jetzt zwei Millionen Euro pro Jahr. Außerdem hat die Landesregierung im Neun-Punkte-Plan für die Geflüchteten aus der Ukraine weitere Gelder für die anderen Ministerien beschlossen. Das Bildungsministerium hat dieses Jahr einen Etat von 18 Millionen Euro, auch das Wirtschaftsministerium hat Geld erhalten. 

Es ist wichtig, dass präventiv gehandelt wird und die Ministerien mehr Möglichkeiten haben, die Menschen in der Praxis zu unterstützen.

Jana Michael ist seit diesem Jahr Integrationsbeauftragte der rot-roten Landesregierung, Gründungsmitglied des Stralsunder Vereins Tutmonde und des Netzwerks der Migrantenorganisationen Migranet MV und hat vergangenes Jahr das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Aktuell arbeitet sie mit der Hochschule Neubrandenburg und dem Verein Lola für Demokratie in MV an der Studie Lagebild Rassismus in MV.

Das gesamte Interview zum Nachhören gibt es auf der Internetseite von Lohro. Mehr zum Pogrom 1992 gibt es auf unserer Lichtenhagen-Themenseite und in unserer aktuellen Zeitung, einer Sonderausgabe zum Thema. Darin geht es unter anderem um rassistische Gewalt in MV heute und die Betroffenen des Pogroms damals. Die Ausgabe kann im KATAPULT-Shop bestellt werden.

Quellen

  1. siehe auch Blöß, Louise: Wie Asbest in der Wand, in: KATAPULT MV, Ausgabe 11, S. 8.
  2. Mit diesem Begriff wird rechtsextreme und rassistische Gewalt in den Neunzigerjahren bezeichnet. Der Baseballschläger steht als Symbol für rechte Gewalt.
  3. sueddeutsche.de (Hg.): Migranet-MV-Mitbegründerin wird Integrationsbeauftragte, auf: sueddeutsche.de (2.2.2022) / Lachmann, Kai: Bundesverdienstorden für Stralsunderin Jana Michael: „Solche Menschen brauchen wir“, auf: ostsee-zeitung.de (2.12.2021).
  4. Ministerium für Soziales, Gesundheit und Sport MV (Hg.): Jana Michael – Integrationsbeauftragte der Landesregierung, auf: regierung-mv.de.

Autor:in

  • Katapult MV

    KATAPULT MV recherchiert zu Themen, die woanders zu kurz kommen. Für mehr journalistische Vielfalt und Demokratie in MV.