Gasversorgung

Widerstand gegen Großprojekt vor Rügens Küste

Auf Deutschlands größter Insel macht sich Unmut breit: Der Bau und Betrieb von Importterminals für Flüssigerdgas und einer weiteren Pipeline neben Nord Stream 1 und 2 bedrohen Umwelt und Tourismus der populären Urlaubsinsel, sind sich Gemeindevertreter:innen sicher.

Naturschutzgebiete, Sandstrand – und eine Aussicht auf Schiffe wie an der Nordsee? Das könnte vor der Selliner Seebrücke bald Wirklichkeit werden. Die Bundesregierung plant vor der Küste Rügens das größte fossile Projekt Europas.Mit „Entsetzen“ haben die Bürger:innen und Gemeindevertretungen der Ostseebäder auf Südostrügen auf die Pläne des Energiekonzerns RWE für ihren berühmten Meerblick reagiert. Am Montag hatte Wirtschaftsminister Reinhard Meyer (SPD) Pläne zur Einrichtung eines zweiten LNG-Terminals in Vorpommern vorgestellt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte Mitte Januar in Lubmin das nach der Anlage in Wilhelmshaven zweite schwimmende Terminal, an dem Tanker mit verflüssigtem Erdgas (LNG) anlanden können, offiziell eröffnet.

Nun will RWE etwa 4,5 bis 6,5 Kilometer vor dem Strand im Nordosten Rügens ein LNG-Terminal mit zwei Plattformen bauen, an denen vier schwimmende Flüssiggasterminals (FRSU) dauerhaft festmachen sollen. Um das Gas von dort nach Lubmin zu bekommen, soll eine etwa 38 Kilometer lange Pipeline durch den Greifswalder Bodden gelegt werden – aus Nord-Stream-Resten. Um die 60 Kilometer Röhren, die beim Bau von Nord Stream 2 durch den nicht umgesetzten Verlauf nördlich von Bornholm übrig geblieben sind, liegen noch in Mukran bei Sassnitz. Die Eigentumsverhältnisse sind bislang allerdings noch ungeklärt.

Das RWE-Vorhaben sieht eine jährliche Einspeisekapazität von bis zu 38 Milliarden Kubikmeter Erdgas vor. Das im Dezember in Betrieb genommene LNG-Terminal in Wilhelmshaven kann dagegen nur bis zu 7,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas importieren. Zum Vergleich: Die durch Sabotage zerstörte Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 1 transportierte im Jahr 2021 bis zu 59 Milliarden Kubikmeter.

Alternativstandort ändert nichts an negativen Auswirkungen

Im Hinblick auf mögliche Auswirkungen und negative Folgen für Tourismus, Umwelt und Wirtschaft befürwortet Meyer die Prüfung von Alternativstandorten, wie beispielsweise den Hafen von Mukran. Erhebliche Zweifel an dem Vorhaben haben die Gemeinden im Südosten Rügens und veröffentlichten am Mittwoch eine gemeinsame Erklärung. Die Gemeindevertreter:innen betonen die möglichen Schäden für das Ökosystem der Insel. Daran würde auch ein aktuell zur Diskussion stehender Alternativstandort nichts ändern, sind die Bürgermeister und Touristiker:innen der Ostseebäder Mönchgut, Sellin, Baabe, Göhren und Binz überzeugt. Sie seien Ende Januar völlig überraschend von der RWE AG mit den weitreichenden Plänen der Bundesregierung hinsichtlich des Baus und Betriebs umfangreicher Infrastruktur für den Flüssiggasimport konfrontiert worden. Anschließend haben sie sich umgehend mit landes- und bundespolitischen Entscheidungsträgern sowie Umweltverbänden ausgetauscht und auch den Kontakt zu Bundeswirtschaftsminister Habeck (Grüne) hergestellt – eine Rückmeldung aus Berlin stehe jedoch noch aus.

Erhebliche Zweifel an der Notwendigkeit eines zweiten LNG-Terminals in Vorpommern

„Mit Blick auf die Einzelheiten des Vorhabens ergeben sich erhebliche Zweifel, ob Standort, Umfang und Vorhaben als Ganzes verhältnismäßig und gerechtfertigt sind“, heißt es in der Erklärung. Denn durch die Inbetriebnahme des LNG-Terminals in Lubmin komme es auf der Insel infolge des erhöhten Schiffsverkehrs bereits jetzt zu „nicht übersehbaren Auswirkungen“. Selbst erste, zurückhaltende Einschätzungen stellen laut den Gemeindevertreter:innen besorgniserregende, irreparable Schäden in Aussicht, die über die Zerstörung des Ökosystems hinausgehen. Außerdem zweifeln sie an der Notwendigkeit des Vorhabens, da Einschätzungen von Gutachtern bestätigen, dass aufgrund der bereits vorhandenen europäischen LNG-Infrastruktur keine weiteren Kapazitäten benötigt werden. In Europa gibt es bereits 28 LNG-Terminals. Zudem ist ihr Bau und Betrieb extrem klima- und umweltschädlich. Bezweifelt wird auch, dass der Bau eines weiteren deutschen Terminals den LNG-Preis senken würde. Das für den Bau der Terminals notwendige Geld fehle schließlich andernorts in der Energiewende.

Skepsis in der Landespolitik

Zu den erwartbaren Auswirkungen gehören demnach Umweltbelastungen durch die Baumaßnahmen und den im Dauerbetrieb folgenden Schiffsverkehr. Dazu seien laut Beschlussvorschlag die wie bereits aus Lubmin bekannten Lärm- und Schadstoffemissionen durch die Be- und Entladung der Schiffe zu erwarten. Außerdem fürchtet man auf Rügen einen dauerhaften Imageschaden für den Tourismus. Sollten die zwölf Gemeindevertreter:innen über den Antrag gegen das kontrovers diskutierte Terminal abstimmen, könnte es zu einer namentlichen Abstimmung kommen, „da es sich hier für unsere Gemeinde um eine bedeutsame Entscheidung handelt“, so die Begründung. Auch in der Landespolitik herrscht Skepsis über das geplante Megaprojekt.

Das Vorhaben der Bundesregierung in all seinen Facetten und mit seiner Wucht wird zu einer außergewöhnlichen Zäsur für die Insel Rügen.

gemeinsame Erklärung der Vertreter:innen der Ostseebäder Sellin, Baabe, Mönchgut, Göhren und Binz

Gemeindevertreter Matthias Scheibe (Die Linke) betont, er habe während seiner langjährigen politischen Arbeit in Sellin kein Thema erlebt, das ein größeres negatives Auswirkungspotenzial hatte als der geplante Bau des LNG-Terminals unmittelbar vor der Küste. Scheibe hat zur nächsten Sitzung der Selliner Gemeindevertretung am Dienstag (21. Februar) daher beantragt, die Tagesordnung um den Punkt LNG-Terminal zu erweitern. Genauer gesagt, hat Scheibe damit die Aufnahme eines Antrags auf Beschlussfassung gegen dessen Bau angestoßen. Zur Begründung schreibt er: „Die Dimension dieser Anlage an diesem geplanten Standort schadet dem Gemeinwohl des Ostseebades erheblich durch sicher zu erwartende negative Auswirkungen.“

Kritische Infrastruktur ausreichend geschützt?

Auch Union und Grüne im Bund machen sich Sorgen wegen der neuen LNG-Terminals in Norddeutschland. Sie fürchten einen unzureichenden Schutz der Anlagen und dadurch Hackerangriffe oder Sabotageaktionen wie bei den Nord-Stream-Leitungen im vergangenen Jahr. Es geht um die Frage, wann die LNG-Terminals als kritische Infrastruktur (Kritis) eingestuft und dementsprechend geschützt werden. Laut Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) seien die Innenminister der Länder bereits dabei, die Terminals vor Angriffen zu bewahren. Zudem arbeite die Bundesregierung mit Hochdruck an einem Kritis-Dachgesetz. Mit dem von Faeser angekündigten Gesetz soll ein besserer Schutz der wichtigsten Sektoren erreicht werden. Zur kritischen Infrastruktur zählen zum Beispiel Einrichtungen aus Energie, Ernährung, Wasser, Verkehr, Staat und Verwaltung sowie Gesundheit, Informationstechnik und Telekommunikation.

LNG im Ostseeraum

Nicht nur die Rüganer fürchten um ihre Sicht und Sicherheit, ihre Natur und ihre Touristen. Auch in Swinemünde an der polnischen Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern sind die Pläne für ein schwimmendes Containerterminal fortgeschritten. Und doch ist die Situation in Polen vor allem für Kritiker:innen, Politiker:innen und Umweltverbände eine ganz andere: Gegner:innen würden mundtot gemacht, Protest sei kaum mehr möglich. Die grüne Europaabgeordnete Hanna Neumann mahnte bereits vor einem Jahr im Gespräch mit KATAPULT MV vor dem Druck auf die polnische Zivilgesellschaft.

In Deutschland ist vor allem der Zeitdruck auf alle Beteiligten die entscheidende Frage. Auf Rügen versuchen die Menschen nun, sich eine Stimme zu verschaffen. In einer nichtrepräsentativen Onlineumfrage unter Rüganer:innen gaben bislang 257 Menschen an, gegen das LNG-Infrastrukturprojekt zu sein. Im Vergleich dazu gab es neun Befürworter:innen und fünf Unentschlossene.

Quellen

  1. Kirchner, Malte: Ersatz für Nord Stream 1: RWE plant riesiges LNG-Terminal vor Rügen, auf: heise.de (14.2.2023).
  2. Besch, Detlef u.a.: Erklärung zu den geplanten Bauvorhaben und Betrieb von Infrastruktur für den Flüssigerdgas-Import vor der Insel Rügen, auf: presseportal.de (15.2.2023).

Autor:in