An heimischen Wildtieren in Mecklenburg-Vorpommern wird deutlich, wie menschliche Eingriffe und veraltete Denkweisen das Überleben diverser Tierarten bedrohen und Lebensräume strapazieren. Dass gesundes Hinterfragen und Engagement dagegen eine Basis für nachhaltiges Zusammenleben schaffen können, zeigt die ehrenamtliche Rehkitzrettung der Wildtierhilfe MV.
Es gibt entweder zu viele oder zu wenige. Heimische Wildtiere begegnen uns prominent als Piktogramme auf Land- und Bundesstraßenschildern, unterwegs neben den Bahngleisen oder ziemlich unwild im Tierpark. Wir kennen sie als Mülltonnen- und Beetplünderer und Verursacher von Autounfällen. Oder als niedliche Charaktere auf Kleidungsstücken und in Kinderbüchern.
Im Gegensatz zu domestizierten Haus- und Nutztieren haben Wildtiere als Randerscheinung und Fußnote im Alltag der Menschenwelt nichts zu suchen. Aber auch im Flächenland MV bleibt sämtlichen Wildtieren kaum noch Fläche zum Leben übrig. Die Folge sind zunehmende räumliche Überschneidungspunkte, die besonders in der Landwirtschaft zu Spannungen führen, sobald diese wilden Tiere unseren Lebensraum kreuzen oder gar stören.
Aber was tun, wenn die tierische Nachbarschaft nicht einfach nach Hause gehen kann? Was passiert, wenn es großflächig nur noch geteilte Lebensräume zwischen Mensch und Tier gibt?
Ein (un)typischer Einsatz
Bröbberow im Landkreis Rostock, an einem Mittwochmorgen um 4 Uhr. Ein paar Lichtpunkte huschen über eine hüfthohe Wiese. Das Rauschen und Knacken von Walkie Talkies durchbricht das Dämmerungskonzert der Nachtigall, während über allen Köpfen ein vielstimmiges Summen durch die Luft schwebt wie ein Hornissenschwarm aus dem All. Am Rand der Wiese schauen drei Augenpaare konzentriert auf einen Bildschirm, über den eine Videoübertragung in Graustufen flimmert.
Es ist Anfang Mai und auf dem Plan der Wildtierhilfe MV stehen heute zwei Wiesen, die kurz vor der Mahd nach Rehkitzen abgesucht werden sollen. Gegen ein laufendes Mähwerk haben die Jungtiere keine Chance, da sie bei Gefahr instinktiv in ihrem Versteck im hohen Gras bleiben. Wie in jedem Jahr von Mai bis Juli kollidieren die Mäharbeiten auf den landwirtschaftlich genutzten Flächen mit den „Kinderstuben“ diverser Tierarten, die in den Wiesen leben, wie Rehe, Feldhasen und Bodenbrüter.
Mit knapp über null Grad ist es ein besonders kalter Morgen – ideale Bedingungen, um Rehkitze im hohen Gras zu orten. Der Boden ist noch kalt und der Wärmeunterschied groß genug, um „Wärmepunkte“ von Lebewesen besser lokalisieren und sichtbar machen zu können. Die Drohne, die ihre Flugbahn über die Wiese zieht, ist mit einer Wärmebildkamera ausgestattet: Im Graufstufenfilm auf den Monitoren heben sich Objekte, die wärmer sind als ihre Umgebung, deutlich als weiße Punkte von einem grau-schwarzen Teppich ab. Je stärker sich der Boden erwärmt, desto schwieriger lässt sich ein Rehkitz von einem Stein oder einem Maulwurfshügel unterscheiden.
Elf Ehrenamtliche sind heute dabei, darunter auch wieder ein paar Leute aus der Forensischen Psychiatrie Gehlsdorf.1 Es ist erst der vierte Einsatz in diesem Jahr, die Hochzeit hat gerade erst begonnen. Für die 13 Hektar große Wiese sind außergewöhnlich viele helfende Hände am Einsatz beteiligt, entsprechend zügig geht die Suche voran. Die „Kommandozentrale“ der Wildtierhilfe am Rand der Wiese – ein selbstgebauter, professionell ausgestatteter Anhänger – ist das Herzstück des Einsatzes. Von dort aus werden die Laufwege der Helfer:innen durch das Gras mit der Flugbahn der Drohne über der Wiese koordiniert. Über Funkgeräte werden konkrete Punkte angepeilt und von den mit Videobrillen ausgestatteten Läufer:innen auf der Wiese überprüft. Der Zweifel spricht immer für die Bodenkontrolle.
Nach einer knappen Stunde ist der Einsatz bereits beendet und die Helfer:innen stapfen durch das nasskalte Gras zurück. Ein Haufen Stirnlampen in wetterfester Funktionskleidung kommt zum Anhänger, um die reflektierenden Fahnen, die Brillen und Walkie Talkies zu verstauen. Sämtliche Akkus müssen für die kommenden Einsätze aufgeladen werden – die der ehrenamtlichen Helfer:innen müssen noch für zwei Monate reichen. Die Berufstätigen aus den unterschiedlichsten Tätigkeitsfeldern gehen direkt im Anschluss regulär zur Arbeit. Es gibt nur einen Rentner unter ihnen. Auf langer Strecke wird ihnen dabei viel Durchhaltevermögen abverlangt, was dazu führt, dass die Zahl der Helfer:innen schrumpft, während sich die Einsätze und der Aufwand häufen. Die nächste Wiese ist immer nur eine Handvoll Schlaf entfernt.
Bei dem heutigen Einsatz wurde kein einziges Rehkitz gefunden.
Der zweite Einsatz in Wiendorf entfällt kurzfristig – entgegen der Absprache hatte der Bauer dort schon gemäht.






Drüber und fertig?!
Nach eigener Hochrechnung geht die Wildtierhilfe MV von rund 26.000 Rehkitzen aus, die jährlich allein in Mecklenburg-Vorpommern bei der Mahd getötet werden. Gerettet werden insgesamt nur etwa 2.600. Mit gerade mal zwanzig Helfer:innen schafft es die Wildtierhilfe während der Hochzeiten immerhin, um die 1.000 Hektar im Landkreis Rostock abzusuchen, wo sie im Vorjahr mehr als hundert Rehkitze vor dem Tod durch Landwirtschaftsmaschinen bewahren konnte.
Trotz Expertise wird die Arbeit des Vereins oft als Hobby abgetan. Dabei ist die Rehkitzrettung abseits der ethischen Komponente sogar eine im Tierschutzgesetz (§ 39 Absatz 1) verankerte Pflicht, die zudem auch noch Botulismus vorbeugt – einer durch Bakterien hervorgerufenen Vergiftung des Bodens – und den Landwirt:innen letztendlich mehr nützt als vermähte Tierkadaver auf den Feldern.
Frank Demke, der Vereinsvorsitzende der Wildtierhilfe MV, zeigt ein Foto von einem Rehkitz, das er bei einem Hundespaziergang auf den umliegenden Wiesen gefunden hatte: „Wie abgeschält vom Mähwerk.“ Damit hat vor 13 Jahren alles angefangen. Weil er weiß, dass sich solche Bilder vermeiden lassen, macht es ihn umso wütender, dass bis heute viele der ehrenamtlichen Einsätze des Vereins an fehlenden oder geplatzten Absprachen scheitern.
Tatsächlich kostet die Landwirt:innen die angebotene Maßnahme durch den Verein nichts. Viel zu häufig ist diese Hilfe den Inanspruchnehmenden nicht einmal eine Begrüßung oder ein Lächeln wert, so Demke. Die Arbeit des Vereins, technische Geräte und sämtliche Ausgaben werden durch das Energieunternehmen Wemag als Hauptsponsor und private Spenden finanziert.
„Auch wenn wir noch so viele Leute und Drohnen hätten, wir sind nicht in erster Linie Dienstleister, sondern wir möchten den Weg zeigen, den man gehen muss, um Mähverluste zu minimieren beziehungsweise zu vermeiden“, beschreibt Demke das Ziel des Vereins. Die Wildtierhilfe möchte aufklären und zwischen denen vermitteln, die hier wohnen und sich die Flächen teilen, natürlich wie landwirtschaftlich. Dennoch wird der Verein ausgegrenzt und angefeindet und sieht sich einer einflussreichen Lobby aus Landwirtschaft und Jägerschaft gegenüber.
Im hohen Gras
Laut Demke sind vor allem mangelnde rechtliche Konsequenzen und eine unzeitgemäße Sicht auf unsere Umwelt hinderlich für ein gesundes gesellschaftliches Umdenken. Wirtschaftliche Abläufe würden viel zu selten hinterfragt, vor allem im ländlichen Raum. Es brauche mehr Mut zu rechtlichen Schritten, um den Druck auf die Verantwortlichen zu erhöhen. Problematisch seien aber auch veraltete Annahmen über Tiere und Umwelt sowie Jagdgesetze, die in ihrer Ursprungsform unangetastet seit der Nazizeit gelten.
Klar, Rehkitze sind klein und süß. Aber ist es nicht im Grunde auch ein faschistischer Gedanke, dass nur süße oder (dem Menschen) nützliche Tiere als schützenswert oder gar lebenswert gelten? Der Fall der vermähten Rehkitze steht beispielhaft für ein viel komplexeres Problem, in dem es um Lebensräume und Koexistenz geht.
- Forensische Psychiatrie rettet Rehkitze, 2024: https://katapult-mv.de/artikel/forensische-psychiatrie-rettet-rehkitze/ ↩︎