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September 1992

Das versuchte Pogrom von Wismar

Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen im August 1992 war nicht der plötzliche Ausbruch rassistischer Gewalt, für den es immer gehalten wird. Es war Teil alltäglicher Aggressionen unter anderem gegen Asylsuchende und Obdachlose, die stetig eskalierten. Es war nicht ihr Höhepunkt, sondern wirkte wie das Startsignal zu weiteren Angriffen auf Asylunterkünfte in ganz MV. Ein Beispiel dafür sind die siebentägigen Attacken auf eine Unterkunft in Wismar-Friedenshof keinen Monat später.

Wismar, Montag, den 14. September 1992. Am Weidendamm findet eine Woche lang der Herbstmarkt statt. Gegen 21:40 Uhr kommt es dort zu einer Auseinandersetzung, bei der ein 19-jähriger Rumäne einen 20-jährigen Deutschen mit einem Messer in den Rücken sticht; einen Unbeteiligten soll er im Gesicht verletzt haben.

Der 20-Jährige verweigert die medizinische Versorgung, zeigt seine Wunden auf dem Rummel herum und mobilisiert so in kurzer Zeit bis zu 15 Jugendliche, die zu der Asylunterkunft in der Hans-Grundig-Straße ziehen. Ihr Ziel: Rache. Etwa noch mal so viele schließen sich auf dem einen Kilometer langen Weg in den Stadtteil Friedenshof an. Unterwegs bewaffnen sie sich mit Eisenstangen von einem Bauzaun, aus Gehwegplatten herausgebrochenen Steinen und Molotowcocktails. Gegen 22:30 Uhr greifen sie die Asylbewerber- und Obdachlosenunterkunft an, in der sie den Rumänen vermuten. Etwa 270 Menschen wohnen in dem Haus – 200 Asylsuchende und 70 Obdachlose, unter ihnen viele Kinder.

Die Gewaltwoche von Wismar

Das ist der Beginn eines siebentägigen versuchten Pogroms in Wismar. Jeden Abend dasselbe Ritual: Nach einem Besuch auf dem Herbstmarkt rotten sich zwischen 20 und 50 Personen zusammen, die das Asyl- und Obdachlosenheim mit Steinen und Molotowcocktails angreifen. Schaulustige stehen auf Balkonen und sitzen in Autos, feuern die Gewalttäter:innen an und geben ihnen Deckung vor der Polizei. Das Ordnungsamt entscheidet, die Unterkunft nicht zu evakuieren, um nicht den Mob bestimmen zu lassen, wo Asylsuchende untergebracht werden.

Die Polizei appelliert in Zeitungsartikeln und Flugblättern an die Anwohner:innen, den allabendlichen Angriffen fernzubleiben: „Ihre bloße Anwesenheit bei gewalttätigen Auseinandersetzungen erschwert die polizeilichen Maßnahmen.“ Hunderte Polizist:innen sind mit Hunden und Wasserwerfern in den Nächten vom 14. bis 21. September im Einsatz und werden selbst zur Zielscheibe der Angreifer:innen.

Die Einsatzkräfte bilden eine 80 Meter breite Sicherheitszone um das Gebäude, eine Mauer aus Helmen und Schutzschilden. So können die Polizist:innen verhindern, dass Brandsätze und Wurfgeschosse ihr eigentliches Ziel erreichen und die Angreifer:innen das Heim stürmen. Jeden Abend werden Gewalttäter:innen festgenommen, insgesamt 186 zwischen 19 und 24 Jahren. Die meisten werden am nächsten Tag wieder freigelassen.

Drei getötete Asylsuchende 1992 in MV

Keinen Monat zuvor brannte in Rostock-Lichtenhagen öffentlichkeitswirksam die Zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende des Landes im sogenannten Sonnenblumenhaus in der Mecklenburger Allee. Das tagelange Pogrom war Ausdruck einer kontinuierlichen Gewalteskalation. Am 14. März desselben Jahres war der 18-jährige rumänische Rom Dragomir Christinel von Rassist:innen in einer Asylunterkunft in Saal (Vorpommern-Rügen) totgeschlagen worden. Am 29. Juni wurden die beiden rumänischen Roma Grigore Velcu und Eudache Calderar an der deutsch-polnischen Grenze nahe Nadrensee erschossen. Ihr Tod gilt offiziell als Jagdunfall.

Die Pogromnächte von Lichtenhagen beschreiben betroffene Rom:nja Jahrzehnte später nicht als herausragendes Einzelereignis mit Ausnahmecharakter. Für Asylsuchende in Mecklenburg-Vorpommern waren rassistische Angriffe und tödliche Gewalt damals Alltag. Einige Asylsuchende erlebten direkt nach dem Brandanschlag auf das Sonnenblumenhaus weitere Angriffe auf die Unterkünfte, in denen sie danach untergebracht waren.

Gleichzeitig war das Pogrom von Lichtenhagen der Auftakt zu einer weiteren Welle der Gewalt. Es war für Neonazis ein Erfolg. Sie lernten, dass sie ihre rassistischen Ziele mit roher Gewalt erreichen konnten. Dass sie mit breiter gesellschaftlicher Unterstützung Asylsuchende gewaltsam vertreiben konnten, ohne juristische Konsequenzen befürchten zu müssen. Daraufhin wurden nahezu täglich Asylunterkünfte in MV und ganz Deutschland angegriffen.

Für Paul Räuber, Historiker an der Universität Rostock, sind die siebentägigen Angriffe in Wismar beispielhaft für die Zeit. Für seine Doktorarbeit recherchiert er Fälle rechter Gewalt zwischen 1980 und 1993 in MV. So möchte er herausfinden, wie Neonazis damals so viel Macht und Einfluss gewinnen konnten und welche ostdeutschen Besonderheiten dabei eine Rolle spielten.

Für Räuber unterscheiden sich die Gewaltnächte von Wismar von einem Pogrom wie dem in Rostock-Lichtenhagen. In Wismar war die Polizei schneller zur Stelle und besser ausgerüstet. Außerdem konnten nicht die Massen mobilisiert werden wie wenige Wochen zuvor in Rostock. Weder konnten mehr als schätzungsweise 100 Anwohner:innen und Schaulustige dazu gebracht werden, den Gewalttäter:innen Schutz zu bieten – in Lichtenhagen waren es mehrere Tausend –, noch reisten Neonazis aus ganz Deutschland an. Alle in der Gewaltwoche Festgenommenen waren „Wismarer Jungs“.

Ein Täter: Sven Krüger aus Jamel

Die Jungs von damals sind heute mittelalte Männer. Doch wer die Gewalttäter:innen von 1992 sind und was sie heute machen, ist weitgehend unbekannt. Was bekannt ist: Der Neonazi und gebürtige Wismarer Sven Krüger aus Jamel – damals 17 Jahre alt und frisch aus dem Jugendgefängnis in Neustrelitz entlassen – mischte bei dem versuchten Pogrom in Wismar mit. Grund seiner Haftstrafe war ein Überfall auf einen Vietnamesen. In Wismar machte er kurz danach mutmaßlich erste Erfahrungen als Führungsperson einer Nazihorde. Damals recht erfolglos – seine Kameraden packten gegen ihn aus. In den Neunzigerjahren saß er mehrere Jahre erneut im Gefängnis, unter anderem wegen Landfriedensbruchs, schwerer Körperverletzung, gewerbsmäßiger Hehlerei und räuberischer Erpressung.

Heute ist Krüger der selbsternannte Chef des bundesweit bekannten Nazidorfs Jamel in Nordwestmecklenburg. Nachdem er für die NPD im Wismarer Kreistag saß, gründete er 2019 zusammen mit zwei weiteren ehemaligen NPD-Politikern die offen rechtsextreme Wählergemeinschaft Heimat, heute Wählergemeinschaft Heimatliebe. Im Juni wurde Krüger zusammen mit Steffen Meinecke in den Stadtrat von Gägelow, dessen Ortsteil Jamel ist, wiedergewählt.

Stimmen zur Wahl der Gemeindevertretung Gägelow, Balkendiagramm: Sven Krüger (Heimatliebe): 548; Simone Oldenburg (Die Linke): 496; Christina Wandel (WIR für die Gemeinde): 474.

Rom:nja: ignorierte Betroffene

Wie üblich bei rechter Gewalt in den Neunzigerjahren, ist die Perspektive der Betroffenen bisher nahezu unbekannt. Die Forschung des Dokumentationszentrums Lichtenhagen im Gedächtnis lässt vermuten, dass auch die Asylsuchenden aus Wismar in der Folgezeit vielfach abgeschoben wurden oder Deutschland „freiwillig“ verließen, um einer Abschiebung oder der alltäglichen rassistischen Gewalt zu entgehen.

Zu der Zeit gab es viele versuchte Pogrome, die alle nicht untersucht sind. Die Arbeit des Dokumentationszentrums zeigt, wie wichtig die Forschung zu den Ereignissen ist: Erst durch dessen Recherche wurden sieben Rom:nja ausfindig gemacht, die zu der Zeit im oder vor dem Sonnenblumenhaus wohnten, und zu ihren Erlebnissen befragt. Ihre Perspektive auf das Pogrom, das ihnen galt, war die vergangenen Jahrzehnte unsichtbar. Doch ihre Geschichten sind notwendig für die Aufarbeitung, ein angemessenes Gedenken und Diskussionen über Entschädigungen für die Opfer.

Bei allen anderen Gewalteskalationen der damaligen Zeit fehlt das bis heute. Allein in MV fanden 1992 mehr als 50 rechte Angriffe auf Asylunterkünfte und nahezu 160 Angriffe auf Asylsuchende statt. „Das, was wir derzeit machen, ist Grundlagenforschung“, bilanziert Räuber. Es gäbe noch vieles wissenschaftlich aufzuarbeiten.

Hoffnung, dass sich Geschichte nicht wiederholt

Das Ausmaß der Gewalt ist heute nicht dasselbe wie in den Neunzigerjahren, sagt der Historiker. „Wenn man behauptet, die Baseballschlägerjahre seien zurück, relativiert man die massiven Gewalttätigkeiten von damals.“ Es gibt gravierende Unterschiede zwischen jener Zeit und heute. Als Reaktion auf die massive rechte Gewalt gründeten sich Anfang der 2000er Unterstützungsstrukturen aus der Zivilgesellschaft, wie Opferberatungen, Demokratieprojekte und Recherchezentren, die noch heute arbeiten. So haben Betroffene eher die Möglichkeit, sich Hilfe zu suchen. Auch die Medien berichten heute sensibler über rassistische Stereotype und Gewalt.

Gleichzeitig bestehen Ähnlichkeiten und Überschneidungen, wie Räuber betont: „Ich würde nicht sagen, dass sich Geschichte wiederholt, aber es gibt Kontinuitäten, die man beobachten sollte.“ Die Neunzigerjahre waren ein Erprobungs- und Experimentierfeld für Neonazis. Sie haben aus der Zeit gelernt und ihre Strategien angepasst.

Doch noch sei die Gesellschaft an einem anderen Punkt der Gewaltspirale als damals. Die vorhandene Gefahr lasse sich durch rechtzeitiges und beherztes Eingreifen abwenden, so der Wissenschaftler. „Ich habe Hoffnung, dass es sich nicht so leicht wiederholt.“

Der Artikel erschien zuerst in der Septemberausgabe. Ein Interview zum Thema mit Thomas Beyer, dem heutigen Bürgermeister und damaligen stellvertretenden Bürgermeister von Wismar, erscheint in unserer Oktoberausgabe.

Quellen

  1. Überfälle auf Asylheim in Wismar, Ostsee-Zeitung vom 16.9.1992 / Preuss, Peter: 19jähriger Rumäne stach Wismarer in den Rücken, Ostsee-Zeitung vom 16.9.1992 / Angriffe auf Asylbewerber jetzt auch in Wismar, Lübecker Nachrichten vom 16.9.1992 / Kunze, Dieter: Nachts kamen die Randalierer, Lübecker Nachrichten vom 17.9.1992.
  2. Berndt, Michael: Amtsleiter: Asylheim wird nicht evakuiert, Lübecker Nachrichten vom 16.9.1992.
  3. Polizei appelliert an klatschende Sympathisanten, Lübecker Nachrichten vom 22.9.1992.
  4. 13 Artikel in den Lübecker Nachrichten, elf Artikel in der Ostsee-Zeitung, fünf Artikel in der Schweriner Volkszeitung, ein Artikel im Tagesspiegel und ein Artikel in der Neuen Ruhr-Zeitung vom 16. bis 22.9.1992.
  5. Lobbi (Hg.): Chronologie rechter Angriffe in Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 1992, auf: lobbi-mv.de (23.8.2012).
  6. Flägel, Victoria: 31. Todestag von Dragomir Christinel, auf: katapult-mv.de (14.3.2023).
  7. Scheffner, Philip; Kröger, Merle: Revision, Dokumentarfilm, auf: vimeo.com (2012) / Jansen, Frank u.a.: Erstochen, erschlagen, verbrannt – 22 Verdachtsfälle, auf: zeit.de (2010).
  8. Oster, Stefanie; Henningsen, Johann: Betroffene Rom*nja des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen 1992. Bericht aus einem Rechercheprojekt, in: Heinrich, Gudrun u.a. (Hg.): Kulturen des Verdrängens und Erinnerns. Perspektiven auf die rassistische Gewalt in Rostock-Lichtenhagen 1992, S. 97-110, auf: neofelis-verlag.de.
  9. Rust, Martje: Lichtenhagens langer Schatten, auf: katapult-mv.de (28.9.2022) / Rust, Martje: Die (Un)Verantwortlichen, auf: katapult-mv.de (13.12.2022) / Oster/Henningsen 1992, S. 108.
  10. Tagesschau vom 16.9.1992 / Tagesschau vom 20.9.1992.
  11. Kunze 1992.
  12. Berndt, Michael: Die Polizei nahm über 100 Randalierer fest, Lübecker Nachrichten vom 22.9.1992.
  13. Krug, Lisa: Dorfchef, Kümmerer, Netzwerker, auf: der-rechte-rand.de.
  14. Schöler, Martin: Das Nazidorf (Teil 1): Der Dorfchef von Jamel, auf: katapult-mv.de (2.6.2022).
  15. Schröder, Rike: Braune „Wählergemeinschaft Heimat“, auf: endstation-rechts.de (24.5.2019).
  16. KATAPULT MV (Hg.): Rechtsextreme und antidemokratische Lokalpolitiker:innen, auf: katapult-mv.de (28.6.2024).
  17. Oster/Henningsen 1992, S. 97.
  18. Ebd., S. 97-110.
  19. Pro Bleiberecht (Hg.): Wir gedenken: Dragomir Christinel, auf: bleiberecht-mv.org (6.3.2023).

Autor:in

  • Bild von KATAPULT MV Redakeurin Victoria Flägel

    Redakteurin in Rostock

    Rostock-Redakteurin und kinderlose Katzenlady

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