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Boykott im Greifswalder Stadtparlament

„Offener Angriff auf demokratisch gewählte Bürgerschaft“

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Lesedauer: ca. 7 Minuten

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Eigentlich sollte in der kurzfristig anberaumten Sondersitzung am 31. Januar ein Termin für die Wahl des Vizeoberbürgermeisters bestimmt werden. Auch der rechtspopulistische österreichische Sender Auf1 wollte filmen, laut Tageszeitung der „Heimatsender der AfD“, der 2024 in Deutschland durchstarten will. Ein Antrag von Robert Gabel (Tierschutzpartei) auf Ausschluss des Senders zu Beginn der Sitzung führte letztlich dazu, dass nach geheimer Abstimmung Film- und Tonaufnahmen für alle Medien untersagt wurden. Im Publikum machte sich daraufhin Unruhe breit. Die Sitzungsleiterin, die Zweite Vizebürgerschaftspräsidentin Kira Wisnewski (Grüne), mahnte zu Beginn zur Besonnenheit. Durch wiederholte Störungen und Zwischenrufe aus dem Publikum, unter anderem aus den Reihen der Bürgerinitiative gegen Containerdörfer für Geflüchtete, war ein normaler Sitzungsbeginn unmöglich geworden.

Erst Drohkulisse, dann Boykott

Während der Sitzung störte Eva Nehmzow mit Zwischenrufen aus dem Zuschauerraum die Stadtparlamentarier:innen massiv. Nehmzow ist aktiv in der BI gegen Containerdörfer und sitzt für die AfD im Sozialausschuss. In der Sondersitzung war sie jedoch als Gast anwesend. Sie warf den Vertreter:innen lautstark vor, die Stadt Greifswald zu diskreditieren. Ihre Behauptung: Es habe in Greifswald keine rassistischen Übergriffe gegeben. Stadt und Universität hatten sich zuvor in einer gemeinsamen Kampagne gegen Rassismus gestellt, nachdem es in der Stadt wiederholt zu Übergriffen gegen Universitätsangehörige gekommen war. Um 18:23 Uhr, rund 20 Minuten nach Sitzungsbeginn, wurde Nehmzow dann von Sitzungsleiterin Wisnewski des Raumes verwiesen. Nehmzow stand auf, ging einmal um die Parlamentarier:innen herum, klappte im Vorbeigehen den Laptop einer Grünenpolitikerin zu, sprach vorn ins Mikrofon und baute sich schreiend vor Oberbürgermeister Stefan Fassbinder (Grüne) auf. Bis der Kommunale Ordnungsdienst sie unter Applaus aus dem Saal begleitete – und dabei von anderen Anwesenden teilweise behindert wurde. Um die Sitzung störungsfrei weiterführen zu können, mussten alle Zuschauer:innen die Sitzung vom Senatssaal aus in einem Livestream verfolgen. Als die Gäste den Saal verließen, schlossen sich die Fraktionsmitglieder von CDU, AfD, FDP/Kompetenz für Vorpommern (KfV)/Bürgerliste sowie die Einzelmitglieder Grit Wuschek und Gamal Khalil aus „Solidarität“ an. Daraufhin wurde die Sitzung für zwanzig Minuten unterbrochen.

Sechs Monate Sitzungspause unzulässig

Nach der Pause stellte Ex-AfD-Mitglied Thomas Kerl (jetzt Einzelmitglied) einen Geschäftsordnungsantrag zur Unterbrechung der Bürgerschaftssitzung – für sechs Monate. „Ich meine, wir haben es jetzt geschafft, dass zum ersten Mal in Greifswald irgendwie diese Sitzung im Fiasko endet. Vielleicht sind wir ja mal irgendwann bereit, aufeinander zuzugehen und zu sagen, so kommen wir nicht weiter und brechen die Sache ab und warten ab, bis die Kommunalwahlen vorbei sind“, so Kerl.

Letztendlich entscheide das Präsidium, ob Anträge rechtsmissbräuchlich zu werten und damit unzulässig sind, so Sitzungsleiterin Wisnewski. Da die nächste Bürgerschaftssitzung in diesen Zeitraum von sechs Monaten fällt, sei er in erster Linie unzulässig, stellte das Rechtsamt klar. Ein Antrag von Kerl auf Abbruch der aktuellen Sitzung um 18:45 Uhr wurde daraufhin – bei (s)einer Jastimme – von den restlichen Anwesenden abgelehnt. Andernfalls wäre die Terminabstimmung zur Vize-OB-Wahl nicht mehr möglich gewesen. Dadurch konnten weitere Einwohnerfragen gestellt und mit der Sitzung weitergemacht werden.

Vize-OB-Wahl am 6. Juni

Für die Einwohnerfragen wurden die jeweiligen Fragenden aus dem Nebenraum in die Sitzung geholt. Die Fragen zu den gesundheitlichen Auswirkungen brennender Windkraftanlagen sowie der Brücke bei Eldena und damit verbundenen Verkehrseinschränkungen werden von der Verwaltung schriftlich beantwortet und online nachgereicht. Die 21 verbliebenen Bürgerschaftsmitglieder im Raum verhandelten über den neben den Fragen einzigen Tagesordnungspunkt: den Wahltermin des stellvertretenden Oberbürgermeisters. Ursprünglich sollte darüber in der nächsten ordentlichen Bürgerschaftssitzung am 22. Februar abgestimmt werden. Da die Anmeldefristen jedoch auf vier Monate verlängert worden waren, musste eine kurzfristige Sitzung anberaumt werden – rechtmäßig, bestätigte auch das Innenministerium am Tag zuvor. Zur Wahl standen zwei Termine, vor der Kommunalwahl am 6. Juni und nach der Wahl am 15. Juli. In Abwesenheit der Fraktionen CDU, AfD und FDP/KfV/Bürgerliste wurde der 6. Juni mit den verbleibenden 21 Stimmen einstimmig beschlossen. Die CDU-Fraktion stellt nun die Rechtmäßigkeit des Beschlusses infrage und behält sich rechtliche Schritte vor.

Indem die Vizebürgerschaftspräsidentin aufgrund einzelner Störer:innen das gesamte Publikum des Saales verwies, verstoße sie gegen das Übermaßverbot, so CDU-Fraktionsvorsitzender Axel Hochschild. Deshalb habe seine Fraktion mit weiteren Mitgliedern den Saal verlassen.

Offener Angriff auf Demokratie: Geplanter Skandal?

Diese offensichtlich geplante Aktion war ein offener Angriff auf die demokratisch gewählte Bürgerschaft. Ein solches Verhalten ist nicht hinnehmbar und ist nicht mit dem Selbstverständnis als kommunales Entscheidungsorgan vereinbar. Wer solche Aktionen unterstützt, zeigt offen, dass er die demokratischen Einrichtungen unseres Staates missbilligt.
gemeinsame Erklärung der amtierenden Präsidentin der Bürgerschaft Kira Wisnewski und des Oberbürgermeisters Stefan Fassbinder

Laut einer gemeinsamen Erklärung der amtierenden Präsidentin der Bürgerschaft und des Oberbürgermeisters habe Eva Nehmzow bewusst das Ansehen des höchsten beschlussfassenden Organs der Hansestadt schädigen und einen Skandal inszenieren wollen, „der allem Anschein nach geplant war“. „Statt die Weisung der sitzungsleitenden Präsidentin zu akzeptieren, lief sie durch den Sitzungssaal, hüpfte singend vor den Sitzreihen auf und ab, bedrängte mehrere Mitglieder der Bürgerschaft und den Oberbürgermeister, versuchte Sachbeschädigung, nahm im Präsidium Platz und weigerte sich anschließend, den Sitzungssaal zu verlassen.“ Wichtige Elemente der Bürgerbeteiligung, wie die Sitzungsteilnahme und das Fragerecht, seien von ihr für eigene Zwecke missbraucht und für engagierte Personen beschädigt worden. Präsidentin und OB kritisieren außerdem, dass „mehrere Vertreter:innen der Initiative Bürgerentscheid Greifswald diese undemokratische Aktion mit Jubel und der Behinderung der Sicherheitskräfte honorierten.“ Die Bürgerschaft und Verwaltung wenden sich gemeinsam „gegen einen solchen Versuch der Delegitimierung unseres Staates“ und verurteilen die Aktionen aufs Schärfste.

Unsere Demokratie ist wehrhaft und wird jedem Angriff standhalten. Alle Beteiligten rufen wir auf, zur Sacharbeit zurückzukehren und sich zu mäßigen.
gemeinsame Erklärung von Wisnewski und Fassbinder

Faktencheck rassistische Übergriffe in Greifswald

„Es gab keine rassistischen Übergriffe in Greifswald!“
Eva Nehmzow in der Sondersitzung der Bürgerschaft am 31. Januar

Es gab rassistische Übergriffe in Greifswald und zwar unter anderem hier, hier, hier, hier und hier. Und auch schon vor über zwanzig Jahren, als der Obdachlose Eckard Rütz vor der alten Mensa zu Tode geprügelt wurde. Der Fußballkreisligist FC Al Karama Greifswald – einst Musterbeispiel für Integration – musste 2020 sogar sein Team mit Spielern aus sieben Nationen, darunter syrische Kriegsgeflüchtete, wegen rassistischer Anfeindungen vom Spielbetrieb abmelden. Versteckte und offene rechte Parolen, rassistische Beleidigungen und Gesänge hatten Spieler wie Verantwortliche gleichermaßen zermürbt. Dass Rassismus in MV ein latentes Problem ist, bestätigen Betroffene und Expert:innen seit Jahren gleichermaßen. Die Aussage von Eva Nehmzow, die Stadtverwaltung erfinde rassistische Angriffe, um die Hansestadt zu diskreditieren, ist deshalb falsch. Dass rassistische Übergriffe eine Stadt besonders bei Betroffenen in Verruf bringen können, ist jedoch unbestritten. Rassistische Übergriffe müssen als solche erkannt und benannt werden, um auf ihre Überwindung hinarbeiten zu können – und das hat die Hansestadt Greifswald getan. Als frei erfunden stellte sich jedoch vor einem Jahr ein Selbstjustiz-Fall aus Loitz heraus: Wegen eines angeblichen Übergriffs auf ein elfjähriges Mädchen setzten Bürger in einem Drohschreiben Stadt und Landkreis ein Ultimatum. Zuvor verdächtigten sie fälschlicherweise kurz zuvor in der Stadt untergebrachte Geflüchtete.

Fakt ist: Das rechtsextreme Personenpotenzial in MV stieg zwischen 2021 und 2022 von 1.790 auf 1.840 Menschen, die Zahl der Gewaltorientierten von 680 auf 720.


Nächste Bürgerschaftssitzung am 22. Februar

Das nächste Mal tagt die Bürgerschaft am Donnerstag, dem 22. Februar ab 18 Uhr im Rathaus. Bis auf den nichtöffentlichen Teil kann die Sitzung vor Ort oder im Netz live verfolgt werden. Nachlesen kann man die Vorlagen, Termine und Protokolle im Bürgerinformationsportal. Alle Beschlüsse seit 2017 finden sich auf greifswald.de. Alle Sitzungen zum Live- und Nachschauen gibt es auf dem Youtube-Kanal der Hansestadt.

Weiterlesen:

Kommentar: Migrationskrise oder Rassismuskrise?

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Fußnoten

  1. Ein einzelnes Medium darf nicht von der Berichterstattung aus Stadtparlamenten ausgeschlossen werden. Eine Abstimmung über ein begründetes Film- und Tonaufnahmeverbot aller Medien kann jedoch in der Bürgerschaft erfolgen, wie hier in Greifswald.
  2.  Gottschalk, Christopher: Nach Eklat in der Greifswalder Bürgerschaft: So erlebten Teilnehmer die Sondersitzung, auf: ostsee-zeitung.de (1.2.2024).
  3.  Gottschalk, Christopher: Eklat bei Sondersitzung der Greifswalder Bürgerschaft: Etliche Mitglieder verlassen den Saal, auf: ostsee-zeitung.de (31.1.2024).
  4.  Bürgerschaft der Hansestadt Greifswald: Sondersitzung am 31.1.2024, auf: youtube.com (31.1.2024).
  5. Ebd.
  6.  E-Mail von Erich Cymek, Geschäftsführer der CDU-Bürgerschaftsfraktion, vom 5.2.2024.

Autor:innen

Redakteurin bei KATAPULT MV.

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