Das leise Ticken der Standuhr erfüllt das stille Wohnzimmer von Frieda Schmidt.1 Die ehemalige Heimerzieherin sitzt auf ihrer geblümten Eckbank und betrachtet die gerahmten Familienfotos, die an den Wänden hängen. Ein Duft von Apfelkuchen und Moschus liegt in der Luft. Der Kaffee erinnert an „Mocca Fix“. Nicht etwa wegen des Aromas, sondern weil der Kaffeesatz sich wie eine samtige Decke über die Zähne legt. Die Atmosphäre ist gemütlich und idyllisch. Doch hinter der stillen Ordnung des Greifswalder Wohnzimmers verbirgt sich eine Vergangenheit, über die bis heute geforscht, gestritten und oft geschwiegen wird: Die Hausherrin war Teil eines Systems, das viele nie vergessen werden.
Von 1949 bis 1990 durchlief nahezu eine halbe Million Kinder das Heimsystem der DDR. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung lebten 135.000 von ihnen in Spezialheimen, etwa 3.500 waren in Sonderheimen untergebracht.2 Um ehemaligen Heimkindern bei der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit zu helfen, wurde 2012 der Fonds Heimerziehung in der DDR ins Leben gerufen. Er sollte es den Betroffenen ermöglichen, ihre traumatischen Erfahrungen aufzuarbeiten und die Folgen ihrer Heimaufenthalte zu lindern. In den sechs Jahren seines Bestehens nahm fast jedes zehnte Heimkind dieses Angebot in Anspruch.
Mit der erhöhten Aufmerksamkeit kamen auch immer mehr Fälle von Missbrauch und Misshandlungen ans Licht. Die Enthüllungen werfen Fragen auf: Welches Erbe hinterlässt die DDR-Heimerziehung? Und: Konnten Erzieher:innen, die in der DDR Kinder und Jugendliche misshandelt haben, nach der Wende unbehelligt weiterarbeiten?
Disziplin und (Unter)Ordnung
In der DDR arbeitete Frieda Schmidt über 20 Jahre lang in Kinderheimen rund um Greifswald. Sie erlebte Höhen und Tiefen des Systems hautnah mit. „Ja, zu DDR-Zeiten haben wir die Kinder mit Respekt, aber auch ein bisschen mit Druck behandelt. Sie hatten bestimmte feste Aufgaben und bestimmte feste Zeiten, in denen sie eine bestimmte Ordnung und Sauberkeit selbständig herstellen mussten“, sagt sie und betont jedes „bestimmt“ und „fest“ mit einem kräftigen Fingertippen auf den Tisch. Das Geräusch vertreibt ihren Rauhaardackel. Sie beobachtet den Hund kurz, nippt glucksend an ihrer Kaffeetasse und fährt dann seufzend fort: „Später hieß es dann, die Kinder sollen so leben, wie sie wollen.“
In ihren Erzählungen klingt die Erinnerung an die Heimerziehung nostalgisch. Expertenberichte und Aussagen ehemaliger Heimkinder zeichnen ein anderes Bild. Das Heimsystem der DDR setzte von Anfang an auf Disziplin und Unterordnung. Kinder und Jugendliche, die nicht in die „sozialistische Moral“ passten, wurden beispielsweise in Spezialheimen unter Zwang „umerzogen“.3 Der Fonds Heimerziehung berichtet von Repressionen wie Demütigungen, dem Verabreichen von Psychopharmaka und anderen willkürlichen Strafen. Schmidts Feuerzeug zischt leise, als sie sich eine Zigarette anzündet. Der kühle Duft von Mentholzigaretten beginnt, den Raum auszufüllen.
Fehlende Transparenz und lückenhafte Aufarbeitung
Woher kamen die Kinder, die die heute etwa 80-Jährige während ihrer Arbeit betreute? Sie berichtet, dass die Erzieher damals nie von schwer erziehbaren Kindern, sondern immer von „schwer erziehbaren Eltern“ sprachen. Ein kurzes Lachen entfährt ihr, bevor sie erneut an ihrer Zigarette zieht.
Sie ergänzt: „Die Eltern sind mit den Kindern nicht klargekommen. Ja, es waren auch Waisen oder Halbwaisen dabei, aber letztlich waren es alles normale Kinder, die bei uns lebten.“ Die frühere Erzieherin drückt ihre Zigarette aus. Ein leises Rascheln des Aschenbechers und das unaufhörliche Ticken der Standuhr erfüllen das ansonsten stille Wohnzimmer.
Das Heimsystem der DDR unterschied zwischen Heimen für „normal erziehbare“ und solchen für „schwer erziehbare“ Kinder und Jugendliche.4 Das Stigma der Schwererziehbarkeit habe oft weniger mit dem Verhalten der Kinder selbst zu tun gehabt als mit den Lebensumständen ihrer Eltern, sagt Frederike Wapler, Rechtsexpertin zur Heimerziehung in der DDR. Die „sozialistische Moral“, die in der DDR als Maßstab für „richtige“ Erziehung galt, lastete auf vielen Eltern schwer. Das Einhalten der gesellschaftlichen Normen, der pünktliche Gang zur Arbeit, das Zahlen der Mieten und Rechnungen waren Bedingungen, um als erziehungsfähig zu gelten. Es war außerdem nicht unüblich, die Meinung des „Arbeitskollektivs“ der Eltern mit in die Beurteilung der Erziehungsfähigkeit einzubeziehen.5 Ein Arbeitskollektiv war weit mehr als ein loser Kreis von Kolleg:innen: Es war eine formalisierte, politisch aufgeladene Einheit innerhalb eines Betriebes, in der soziale Kontrolle, ideologische Erziehung und kollektive Verantwortung miteinander verknüpft wurden. Persönliche Lebensführung wurde als gesellschaftliche Loyalität umgedeutet.6
Bei der Frage, was mit jenen Kindern in ihrem Heim passierte, die als von der sozialistischen Moral abweichend galten, zögert Frieda Schmidt einen Moment. Sie senkt den Blick und erklärt: „Natürlich hatten wir auch bei den Älteren ein paar Kinder, die sehr vorlaut waren und sich nicht an die Regeln halten wollten. Eine Zeit lang hat das Kollektiv sie ja mitgetragen. Aber irgendwann, wenn sie sich gar nicht mehr fügen wollten, sind ein oder zwei Kinder auch in ein Spezialheim oder einen Jugendwerkhof gekommen.“ Sie lässt eine kurze Pause, um nach einer neuen Zigarettenschachtel zu kramen. „Da war es dann bedeutend strenger“, fügt sie mit einem sanften Lächeln hinzu und zündet sich eine zweite Zigarette an.
Die Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt Jugendwerkhöfe als Einrichtungen, die besonders durch militärischen Drill und harte Disziplin geprägt waren. Ab 1965 wurden die Jugendwerkhöfe für Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren Teil der Spezialheime. Bei ihrer Ankunft wurde den Jugendlichen der Kopf geschoren und sie mussten all ihre persönlichen Dinge abgeben – ein symbolischer Schnitt zu ihrer früheren Identität. In diesen „Erziehungsanstalten“ war jede Form von Individualität unerwünscht und wurde zugunsten einer strengen Ordnung unterdrückt. Der Alltag folgte einem System aus Kontrolle und Zwang: Den Neuankömmlingen wurden oft sogenannte Paten zugeteilt – andere Jugendliche, die bereits länger dort waren. Diese nutzten ihre Stellung aus und traten nicht selten strenger auf als die Erzieher selbst.7
Ziel der Einrichtungen war weniger die pädagogische Förderung als die sogenannte Arbeitserziehung: Harte körperliche Tätigkeiten, etwa in Brikettfabriken oder in der Textilproduktion, bestimmten den Tagesablauf. Die Jugendlichen arbeiteten in drei Schichten, oft ohne Pausen und ausreichende Verpflegung.8 Die Maßnahmen galten dem Ziel, schwer erziehbare und straffällige Jugendliche durch Umerziehung und strenge Disziplin zu sozialistischen Persönlichkeiten zu formen. Dadurch sollten sie in die Gesellschaft reintegriert werden – notfalls durch das Brechen ihres Willens.9
Verdrängen und Schweigen
Auf die Frage, ob Frieda Schmidt während ihrer Tätigkeit jemals von Missbrauch durch Erzieher gegenüber Kindern und Jugendlichen gehört hat, wiegt sie kurz den Kopf. Ohne lange zu zögern, erwidert sie: „Bei uns gab es sowas nicht. Darüber haben wir uns auch gar nicht unterhalten müssen.“ Ihr Tonfall ist hart und entschieden. Der Rauhaardackel der alten Dame tapst zurück ins Zimmer. Ihr Blick folgt dem Hund, und die entschlossene Ernsthaftigkeit in ihrer Miene weicht für einen Augenblick.
Eine anonyme Quelle berichtete während der Recherche, dass übergriffiges Erziehungspersonal in der DDR oft ohne größere Erklärungen in andere Heime versetzt wurde. Auf diese Weise sollten Skandale vermieden werden. Offizielle Belege dafür existieren nicht. Darauf angesprochen, bleibt die ehemalige Heimpflegerin in ihrer Antwort eher vage: „Dass man woanders hinversetzt wurde, das kam ja alles erst nach der Wende. Dass man dann irgendwo arbeiten musste, wo es einem nicht so gefiel.“
Auf die konkrete Nachfrage, ob solche Versetzungen schon zu DDR-Zeiten üblich waren und ob das Erziehungspersonal regelmäßig die Dienststellen wechselte, breitet sich zunächst eine betretene Stille aus. Schmidt schaut gedankenverloren in die Ferne, ihr Blick schweift durch das Zimmer, als suche sie nach Worten. Schließlich zuckt sie mit den Schultern und murmelt leise: „Keine Ahnung.“ In dem gesamten Gespräch ist es die erste Unsicherheit, die sie zeigt.

Ein ungewisses Erbe
Bei einem weiteren Stück Apfelkuchen spricht die ehemalige Erzieherin über ihren Berufsweg. Sie und ihr Mann seien Mitglieder der SED gewesen – linientreu, wie man heute sagen würde. Schwierigkeiten, nach der Wende ihren Platz im Berufsleben zu behalten, hatten die Schmidts deswegen aber nicht.
„Allerdings wurde von uns verlangt, eine Anpassungsqualifizierung zu machen.“ Diese Qualifizierung wollte Frieda Schmidt jedoch zunächst nicht absolvieren, für sie stand damals wie heute fest: „Ich wollte mich nicht anpassen an den Westen. Ich fühlte mich vollständig ausgebildet und in der Lage, mit den Kindern umzugehen und meine Arbeit zu machen.“ Dann fügt sie hinzu: „Aber es gab eine Möglichkeit, eine Zusatzqualifizierung als Sozialarbeiter und Sozialpädagoge zu machen. In einem zweijährigen dualen Studium, wenn man so will.“ Mit 50 also noch einmal die Schulbank drücken. „Das war Pillepalle. Auch für die anderen Kollegen, die diese Zusatzqualifizierung gemacht haben“, fügt sie lachend hinzu.
Schmidt erzählt dann viel über die großen Veränderungen, die nach der Wende über das Land kamen. Die Diakonie übernahm viele der ehemaligen Kinderheime und Sozialprojekte. Sie scheint nachdenklich, als sie diesen Wandel beschreibt. „Damals war ja alles schlecht, was es gab“, sagt sie trocken und fügt mit einem Hauch von Ironie – aber auch nicht gänzlich frei von Bitterkeit – hinzu: „Alles musste neu erfunden werden – sogar das Fahrrad.“
- Name von der Redaktion geändert. ↩︎
- Censebrunn-Benz, Angelika: Geraubte Kindheit – Jugendhilfe in der DDR, auf: bpb.de (30.6.2017). ↩︎
- Sack, Martin; Ebbinghaus, Ruth: Was hilft ehemaligen Heimkindern der DDR bei der Bewältigung ihrer komplexen Traumatisierung?, in: Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer (Hg.): Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR – Expertisen, S. 306, auf: agj.de (März 2012). ↩︎
- Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (Hg.): Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR – Bericht, S. 10, auf: agj.de (März 2012). ↩︎
- Wapler, Friederike: Rechtsfragen der Heimerziehung in der DDR, in: Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer (Hg.): Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR – Expertisen, S. 51, auf: agj.de (März 2012). ↩︎
- Wolle, Stefan: Kollektivität, auf: bpb.de (30.12.2019). ↩︎
- Censebrunn-Benz 2017. ↩︎
- Ebd. ↩︎
- Wapler 2012, S. 75. ↩︎

