Freie Forschung – in der DDR unmöglich! Dort galt die marxistisch-leninistische Philosophie als allein gültige Richtschnur der Wissenschaft. Das beeinflusste Studierende und Lehrende. War nach dem Umbruch 1989/90 dann alles in Ordnung? Nein, sagt die Soziologin Laura Behrmann – und erklärt, welche Fehler damals bei der Überführung des Wissenschaftssystems begangen wurden und wieso es selbst heute noch wichtig wäre, dass ostdeutsche Professor:innen ihre Herkunft sichtbar machen.
KATAPULT MV: Ich bin westdeutsch sozialisiert und in einem bildungsfernen Haushalt aufgewachsen. Für meine Mutter war absolut klar, dass die Tochter studieren muss, um bessere Berufschancen zu haben. In meiner ostdeutschen Schwiegerfamilie beobachte ich das Gegenteil: Der Sohn sollte lieber in die Landwirtschaft statt an die Uni. Ist das Ossi- beziehungsweise Wessi-repräsentativ?
Laura Behrmann: Erst mal müssen Sie wissen, dass sich die DDR und die BRD bei der politischen Vorstellung, Menschen in erfolgreiche Positionen zu bekommen, viel ähnlicher waren, als wir heute häufig annehmen. Die Leistungsvorstellungen waren in beiden Gesellschaften recht gleich. Gleichzeitig gab es in der DDR aber natürlich auch ein politisches Interesse an Bildungsaufstiegen. Ideologisch war wichtig, zeigen zu können, dass man Arbeiter- und Bauernkindern zum Erfolg verhelfen kann. Bis Ende der Fünfzigerjahre wurden deswegen Strukturen für solche Aufstiege geschaffen, die es in Westdeutschland so nicht gab. Soviel zum Hintergrund. Es ist aber auch Fakt, dass es stark vom Milieu abhängt, welche Familie welche Aufstiege wie verhandelt.
Wie meinen Sie das?
Häufig sind die Wünsche, die Eltern für den Bildungs- und Karriereweg ihrer Kinder haben, auf beiden Seiten vorhanden – sowohl bei Aufsteiger:innen als auch bei Kindern aus akademischen Milieus. Viele ostdeutsche Professor:innenbiografien belegen dies. In Studien zu Bildungsaufstiegen aus unteren Milieus zeigt sich aber auch, dass Eltern die Möglichkeit für den Aufstieg oft als geringer einschätzen. Junge Menschen brauchen Unterstützung, auch um ihr Elternhaus zu überzeugen, da kann das Bildungssystem mit gezielter Förderung Einfluss nehmen. So leicht ist Ihre Frage also gar nicht zu beantworten. Gerade diese Gleichzeitigkeit und Paradoxien beobachten wir in Bezug auf Ungleichheit im Bildungssystem extrem häufig.
Welchen Stellenwert hatte denn Bildung in der DDR?
Bildung war in der DDR ein sehr viel höheres Gut. Das zeigt sich in den Erzählungen und Darstellungen einiger Autor:innen, die einen Beitrag für das Buch Vergessene Ungleichheiten erbracht haben. In den Erzählungen über die eigene Bildungsbiografie wird zum Beispiel erinnert, dass es keine Diskussionen gab, ob die weiterführende Schule besucht wird – Bildung galt als erstrebenswertes Gut. Heute wird gerne vergessen, dass die DDR ein Leseland war, die Ausstattung mit öffentlichen Bibliotheken war sehr gut und es gab und gibt viele wunderbare Autor*innen.
Der Fokus unseres Gesprächs soll ja vor allem das Wissenschaftssystem liegen. Kurz gefragt: Was war denn so schlimm an den DDR-Unis?
Durch die Diktatur war die Freiheit von Wissenschaft und Forschung extrem eingeschränkt. Das gilt als fundamentaler und ganz essenzieller Eingriff in wissenschaftliches Handeln, da es nicht möglich ist, Themen so zu bearbeiten, wie die Wissenschaft es eigentlich möchte. So etwas können wir uns heute wahrscheinlich nicht mehr richtig vorstellen.
Wie sieht so eine Einschränkung konkret aus? Wenn ich als Forscherin in der DDR etwas herausfinden möchte über die Welt, muss ich meine Idee vorlegen und jemand sagt vielleicht, dass ich gar nicht weitermachen darf?
Genau. Da werden Doktorarbeiten nicht publiziert, sondern verschwinden in Aktenschränken. Oder es ist schwierig, an bestimmte Literatur zu kommen, wenn sie nicht gefunden werden sollte. Das betrifft zum Beispiel Ungleichheitsforschung, aber auch Umweltverschmutzung in der DDR. Darüber wollte und sollte damals niemand Bescheid wissen und durfte deswegen auch nirgendwo veröffentlicht werden. Ganz im Gegenteil: Politiker*innen legten fest, mit welchen Themen sich Menschen überhaupt auseinandersetzen durften. Der Marxismus und Leninismus waren ja Grundprinzip jeglicher universitärer Ausbildung. Für die Studierenden konnte das – je nach Einstellung – problematisch sein.
Inwiefern?
Solche Vorgaben legen fest, was in den Kanon gehört. Die Studierenden können dann nicht mehr entscheiden, was genau sie gerne studieren möchten, welche Inhalte sie interessieren – oder von wem sie unterrichtet werden wollen.
Aber mit der Gleichstellung lief es doch super, oder?
So einfach lässt sich das nicht belegen, obwohl diese Erzählung häufig auftaucht. Was da faktisch etwas dran ist, wurde in verschiedenen Studien schon aufgearbeitet. Ich persönlich wäre da eher vorsichtig: Nur weil es eine staatliche Entlastung durch Kinderbetreuung gab, heißt das nicht, dass Männer im Haushalt mehr geholfen haben. Was aber stimmt, ist, dass es in der DDR und auch an den Unis im Osten bis heute eine bessere Ganztagsbetreuung gibt. Das beeinflusst natürlich Chancen und Möglichkeiten. Außerdem gab es auch unterhalb der Professuren Dauerstellen …
… also Stellen, die bis zum Ende des Berufslebens besetzt wurden?
Genau. So etwas kann man sich im heutigen Wissenschaftssystem kaum mehr vorstellen.
Mit dem Zerfall der DDR steht eine große Veränderung an – nämlich dass wir Hochschulen neu gestalten können, und zwar auf verschiedenen Ebenen.
Genau. Beim Übergang von einem diktatorischen System mit marxistisch-leninistischer Ausrichtung in ein demokratisches System gab es andere Möglichkeiten – aber auch andere Fragestellungen. Grundsätzlich ist vieles an der Veränderung gelungen. Dabei zeigte sich auch, dass wir in Deutschland bereits Erfahrungswerte hatten, was den Umstieg von einer Diktatur in eine Demokratie betrifft. Diese waren natürlich von Nutzen. Trotzdem gab es Schwierigkeiten.
Fangen wir mal beim Personal an. Es sollte ja plötzlich Studienrichtungen wie Politikwissenschaften oder Theologie geben, die in der Diktatur gar keinen Platz hatten. Vielen der Lehrenden dürften die Inhalte aber fremd gewesen sein. Wer sollte denn dann unterrichten?
Definitiv war der erste Schritt eine personelle Neuerung. Den Lehrenden in Westdeutschland passte das gut, denn die scharrten schon mit den Hufen. Immerhin gab es in der BRD im universitären System viele sehr gut ausgebildete Menschen für zu wenige Jobs. Die schauten sehr interessiert nach Ostdeutschland, denn dort öffnete sich mit einem Schlag eine riesengroße Landschaft mit Universitäten, die neue Personen brauchten, die den neuen Ansprüchen gerecht werden sollten. Das hatte eine massive Bildungswanderungen zur Folge.
Also hat man das Personal genommen, das gekommen ist und die Kompetenzen mitgebracht hat, die plötzlich neu vonnöten waren?
Genau. Und das hat natürlich Effekte für die Leute, die vor Ort sind.
Welche denn?
Die Rückstände, die sich im Wissenschaftssystem der DDR auf einer personellen Ebene widergespiegelt haben, konnten kaum mehr ausgeglichen werden. Hier wurde verschlafen, sensibel zu sein und den Zugang offen zu halten, um alle mitzunehmen. Diese Erfahrung scheint der zentrale Bruch vieler Biografien im Wissenschaftssystem gewesen zu sein.
Können Sie das noch mal konkret machen?
Ein gutes Beispiel ist die Theologie. Das Themenfeld hatte zu DDR-Zeiten nicht unbedingt Priorität, obwohl es kirchliche Ausbildungsstellen und entsprechende Wissenschaftszweige gab. Damals haben manche Forscher:innen im Westen illegal publiziert und versucht, die Artikel in westdeutschen Zeitschriften wieder rüberzubringen. Nach der Wiedervereinigung spielten Theologie und andere Forschungszweige aber eine ganz andere Rolle. Nun ging es für viele Forscher:innen im Osten darum, zu beweisen, dass sie überhaupt marktfähig sind.
Und wie?
Im besten Fall konnten sie ein Jahr in die USA fahren, um dort Auslandserfahrungen zu sammeln und zu zeigen, dass sie nicht nur engstirnig im kleinen Raum verhaftet sind, sondern sehr schnell Kontakte aufbauen können – die sie im Optimalfall natürlich vorher schon hatten.
Wurde denn auch geprüft, wer da an die neuen Stellen wollte?
Definitiv. Vor Ort prüften häufig Kommissionen die politische Bedenklichkeit. Da wurden also Akten gewälzt, sämtliche Belege eingefordert und viele mussten sich tiefgreifend biografisch rechtfertigen, um sich genau wie Kolleg:innen aus dem Westen auf die entsprechenden Stellen zu bewerben.
Heißt konkret, dass die Ideologie, die in der DDR gefordert war, zum Problem wurde, und die Leute mit diesen ideologischen Überzeugungen jetzt hart argumentieren mussten, um im System bestehen zu können?
So kann man das sagen. Das heißt aber nicht, dass alle, die vorher im System beschäftigt waren, zu 100 Prozent überzeugt waren. Viele waren ja kritisch, mussten sich aber trotzdem in diesem Spektrum der Paradoxien zurechtfinden. Da ist es natürlich umso enttäuschender, nicht gesehen zu werden, wenn parallel aus dem Westen das Kapital der Drittmittel, der Markt, die Publikationen kommen und dies in persona sichtbar wird durch die, die kommen.
Vielleicht waren die DDR-Wissenschaftler:innen ja einfach nicht so qualifiziert?
Ich finde es schwierig, das so zu sagen. Aus meiner Perspektive geht es eher um die Frage, was eigentlich gefordert wird und wie gut die Personen da hineinpassen. Genau das meint ja gleiche Berücksichtigung bei gleicher Qualifikation, was wir in Stellenanzeigen immer wieder lesen, wenn es um die Förderung von Frauen geht.
Aus heutiger Sicht könnte man mal kritisch fragen, warum es das damals eigentlich für Ostdeutsche nicht gab. Das wäre vonnöten, wenn man soziale Ungleichheiten vermeiden möchte. Und es ermöglicht, neue Fragen zu stellen – zum Beispiel, inwiefern es überhaupt Potenzial gibt, diese Unterschiede aufzuholen.
All das wurde aber verpennt?
Ja. Es wurde vielmehr radikal aussortiert und überformt durch die, die kamen. Natürlich lässt sich argumentieren, dass die DDR-Wissenschaftler:innen weniger qualifiziert seien. In den meisten Fällen war das auch so. Aber es ist eben immer auch eine Frage des Systems und was darin möglich gemacht wird.
Wie hat sich das in den letzten 35 Jahren entwickelt? Hat sich die Situation irgendwie beruhigt?
Die Professor:innen, die nach Ostdeutschland kamen, haben teilweise ihre Mitarbeiter:innen von mitgebracht oder sich entsprechenden Nachwuchs gesucht. Dadurch ist das System verstopft. Das ist also auch ein strukturelles Problem. Die Frage ist also, wie man in dieses Wissenschaftssystem als Ostdeutsche:r überhaupt reinkommt.
Viele derjenigen, die gekommen sind, dürften ja demnächst in Rente gehen.
Genau. Dazu kommt die Frage, inwiefern sich neue Bewerber:innen auf Ostdeutschland einlassen. Sind sie beispielsweise bereit, nach Rostock zu ziehen, oder wollen sie dort nur unterrichten? Die Wissenschaft hat ja eine Rolle in den Städten und sollte im öffentlichen Raum wirksam sein. Pendeln alle, hat das einen Einfluss auf die Bedeutung der Universität im städtischen Raum.
Es gibt aber nicht nur die Westdeutschen, die kommen – sondern auch die Ostdeutschen, die schon da sind oder vielleicht auch selbst in den Westen abgewandert sind, um dort zu lehren.
Genau. Aber wie hoch genau der Anteil von Ostdeutschen an Professor:innen ist, wissen wir nicht. Vermutlich sind es viel mehr, als nach außen hin sichtbar ist. Viele haben allerdings gar nicht das Bedürfnis, ihr Ostdeutschsein sichtbar zu machen. Das ist schade, denn sichtbar zu machen, welches Potenzial von Ost nach West abwandert, könnte auch das Bild der Ostdeutschen im Westen verändern. Klar ist, dass es häufiger Frauen sind, denn die Wanderungsbewegungen in den Westen sind viel weiblicher.
Was genau verändert sich überhaupt, wenn jemand mit ostdeutscher Biografie an einer westdeutschen Uni lehrt?
Zum Beispiel der Inhalt. Wenn man selbst Berührungspunkte zum Sozialraum Ostdeutschland hat, spricht man auch oder anders darüber. Das führt dazu, dass dieser nicht mehr irgendwo ganz weit weg stattfindet, sondern eben dort, wo darüber gesprochen wird. So können Menschen überhaupt erst sensibel für bestimmte Themen werden und ein Verständnis gewinnen, wieso sich Menschen an bestimmten Stellen unterscheiden. Das kann ein ostdeutscher Hintergrund sein, die eigene Migrationsgeschichte oder Fluchterfahrungen, aber auch Brüche in der Biografie.
Heißt also, Sie halten das Argument, dass es keine ostdeutsche Hochschullandschaft mehr gibt, sondern 16 Landeshochschulsysteme gibt, für falsch?
Nicht unbedingt. Regionalität spielt tatsächlich immer weniger eine Rolle, weil wir stark an internationalen Bewegungen orientiert sind. Außerdem nimmt das Pendeln zu, außer vielleicht an Unis in Berlin, Köln oder Hamburg. Universitäten werden immer mehr zu universellen Orten.
Trotzdem haben einzelne Akteur:innen immer die Freiheit, welche Themen sie behandeln und welche Schwerpunkte sie setzen, gerade in der universitären Lehre. Eine Person mit ostdeutschem Hintergrund wird bei der Sozialstrukturanalyse eben auch zur DDR lehren – vielleicht anders als jemand, der westdeutsch sozialisiert ist. Insofern spielt ein ostdeutscher Hintergrund also doch eine Rolle.
Dr. phil. Laura Behrmann ist akademische Rätin auf Zeit am Institut für Soziologie der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Ungleichheits- und Wissenschaftsforschung sowie der qualitativen Sozialforschung. Gerade hat sie gemeinsam mit Markus Gamper und Hanna Haag das Buch Vergessene Ungleichheiten. Biographische Erzählungen ostdeutscher Professor*innen im Transcript-Verlag herausgegeben.
Dieses Interview erschien in KATAPULT-MV-Ausgabe 38.