Asyldebatte damals und heute

„Das sind doch keine Menschen“

„Sozialtourismus“ hat wieder Hochkonjunktur. Zumindest das Wort. Und mit ihm eine erneut entflammte Asyldebatte. Dass diese – unter maßgeblicher Beteiligung der Medien – 1992 zum Lichtenhagen-Progrom führte, erscheint für die Berichterstattung heute nur von geringer Bedeutung. Es werden die immer gleichen Fehler wiederholt. Eine Analyse.

Sozialtourismus wurde auf Platz zwei als Unwort des Jahres 2022 gewählt. 2013 lag es auf Platz eins. CDU-Chef Friedrich Merz hat es im vergangenen September im Zusammenhang mit Geflüchteten aus der Ukraine gebraucht. Die Jury der Negativauszeichnung sah in dem Wortgebrauch „eine Diskriminierung derjenigen Menschen, die vor dem Krieg auf der Flucht sind und in Deutschland Schutz suchen“. Außerdem verschleiere das Wort ihr Recht darauf.

Seit 1991 kürt eine mehrheitlich mit Sprachwissenschaftler:innen besetzte Jury Wörter zum Unwort des Jahres, die gegen Menschenwürde und Demokratie verstoßen, um so für einen bedachten Umgang mit Begriffen zu sensibilisieren. Eigentlich das Handwerkszeug von Journalist:innen.

„Die Medien haben aktiv zum Pogrom beigetragen“, erklärt Merle Stöver. Die Sozialarbeiterin und Antisemitismusforscherin hat untersucht, wie sich in Rostock-Lichtenhagen eine Pogromstimmung entwickelte, die dazu führte, dass ein gewalttätiger Mob unter Jubelrufen Tausender Schaulustiger versuchte, Asylbewerber:innen zu töten. Denn auch wenn sich die Gewalt am Ende gegen vietnamesische Vertragsarbeiter:innen richtete, entzündete sich der Hass, der von Politik und Presse geschürt wurde, an geflüchteten Rom:nja. Stöver untersuchte für ihre Masterarbeit an der TU Berlin 636 Artikel aus den Lokalzeitungen Norddeutsche Neueste Nachrichten (NNN) und Ostsee-Zeitung (OZ) zwischen 1990 und 1992 auf antiziganistische Stereotype, Bilder und Vorurteile, kurz: auf mediale Hetze gegen Rom:nja.

Hetzkampagnen gegen Rom:nja

Und fand dabei so einiges. Die Lokalmedien haben damals in Rostock für die Pogromstimmung gesorgt, durch abstruse Gerüchte, Drohungen und Hetze. So berichteten die NNN darüber, dass geflüchtete Rom:nja auf dem Balkon eine Möwe gegrillt hätten. „Der Artikel ist so beeindruckend, weil es komplett ausgedacht ist“, erläutert Stöver. „Aber die Leute glauben das.“ Und so entstehe antiziganistisches Alltagswissen der Bevölkerung, „aus reiner Fantasie“.

Der Politikwissenschaftler Thomas Prenzel analysierte zum 20. Jahrestag des Pogroms in einer Publikation der Universität Rostock die Ereignisse im Kontext der damaligen Asyldebatte. Und stellte fest, dass 1992 Geflüchtete in der öffentlichen Wahrnehmung nicht als Menschen galten, die vor Bedrohungen geflohen waren, sondern als Problemfälle, die am Reichtum Deutschlands teilhaben wollten. Auch in den Zeitungen MVs seien gerade Rom:nja als „kriminelle Wohlstandsflüchtlinge“ stigmatisiert worden, die sich den deutschen Gesetzen und Gepflogenheiten nicht anpassen würden.

Fehlende Empathie für Geflüchtete

„Das Interesse an ihrer Verfolgungssituation (…) war äußerst gering“, schreibt Prenzel. Die Ursachen, aufgrund derer die Geflüchteten unter erniedrigenden Umständen unter freiem Himmel, ohne Nahrung, Zugang zu sanitären Einrichtungen, medizinischer Versorgung und Bargeld hausen mussten, wurden ignoriert und auf ihre Lebensweise als kollektive Gruppe der „Zigeuner“ projiziert. „Nicht etwa das Fehlen sanitärer Anlagen, sondern ein angeblicher Unwille, sie zu benutzen, nicht der Mangel an Wohnraum, sondern die pure Lust, im Freien zu übernachten, seien die Ursache für die Zustände vor der Zast (Zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende, Anm. d. Red.) gewesen.“

Die Lichtenhäger:innen seien der Not der Geflüchteten gegenüber gleichgültig gewesen, hätten ausschließlich ihre eigene Lebenssituation in den Mittelpunkt gerückt, ohne auch nur zu versuchen, sich in die Lage anderer Menschen hineinzufühlen. Auch die Presse hat diesen Versuch nicht unternommen. Gerüchte wurden unhinterfragt und ungeprüft abgedruckt. Eine Diskussion mit den betroffenen Geflüchteten fand nicht statt. „In keinem einzigen Artikel kamen die Asylbewerber selbst zu Wort“, sagt Stöver.

Stattdessen wurde die Perspektive von angeblich betroffenen und besorgten Anwohner:innen dargestellt, die vermeintlich selbst zu Opfern der Asylsuchenden wurden. Die Presse habe rassistische Meinungen und Vorurteile aus Straßenumfragen und Leser:innenbriefen als „berechtigte Beschwerden der Bürger von Lichtenhagen“ unkommentiert wiedergegeben, Geflüchtete als Kriminelle stigmatisiert und Ängste geschürt. Zeitungen hätten sich somit zu „Transporteur und Legitimationsinstanz solcher Vorstellungen“ gemacht. Prenzel benennt dies als „deutliche Defizite einer verantwortungsvollen journalistischen Arbeit“.

Täter-Opfer-Umkehr

Dabei wurden die Lichtenhäger:innen als Opfer der Geflüchteten stilisiert: „Die Rede von den katastrophalen hygienischen Bedingungen für die Anwohnerschaft aus Rostock-Lichtenhagen (!) lässt auf genau diese mangelnde Empathie für die Situation der Flüchtlinge schließen. So scheint es, als seien die Lichtenhäger die Opfer der Flüchtlinge und ihrer barbarischen Lebensweise.“

Diese Täter-Opfer-Umkehr wird in den zeitgenössischen Presseartikeln etwa dann deutlich, wenn davon die Rede ist, dass Deutsche auf der Flucht vor Asylsuchenden seien, die Geflüchteten zu Eindringlingen und Angreifer:innen werden, die Anwohner:innen zu Flüchtlingen. „Als würden Asylbewerber besser behandelt werden als Deutsche“, sagt Merle Stöver.

Die Täter-Opfer-Umkehr ist Kernbestandteil von Pogromen. Sie liefert die Rechtfertigung für die Gewalt gegen eine als Bedrohung empfundene Minderheit. Diese empfundene Bedrohung wurde in Lichtenhagen durch bestimmte politische Schlagworte verstärkt, die in den Medien aufgegriffen, verbreitet und gestärkt wurden.

Wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung seien so Bedingungen geschaffen worden, die genau das hervorbrachten, was man Rom:nja unterstellte: Sie lebten gerne im Dreck, seien faul und kriminell. „Das sind alles Bilder, die sich explizit gegen Roma richten, Gerüchte darüber, wie sie vermeintlich leben“, sagt Stöver. Und Bilder, die für Anwohner:innen eine Bedrohung bedeuten.

Lokalzeitungen riefen zu Gewalt auf

Unmittelbar vor der Eskalation rassistischer Gewalt veröffentlichten NNN und OZ sogar direkte Gewaltaufrufe aus Flugblättern extrem rechter Gruppen und von anonymen Anrufen. Im Mittelpunkt standen immer Rom:nja als Feindgruppe, denen von Anwohner:innen schon bald sogar das Menschsein abgesprochen wurde: „Menschen? Das sind keine Menschen mehr!“, rief ein Anwohner dem damaligen Bürgermeister entgegen, der versuchte, mit den Lichtenhäger:innen ins Gespräch zu kommen.

So schürten die Medien nicht nur den Hass gegen schutzbedürftige Minderheiten, sondern stellten Rom:nja kollektiv als Problem dar. „Damit haben sie Gewaltbereiten mitgeteilt, wann und wo die Zast angegriffen werden soll und damit aktiv dazu beigetragen, dass es Angriffe gab“, sagt Stöver.

Die Verantwortung der lokalen Presse

Vermummte Jugendliche protestierten damals gegen diese Art der Berichterstattung, indem sie Müll und rote Farbe über den Schreibtischen der NNN entleerten. Die Redaktion spekulierte daraufhin über die Täterschaft von „Ausländern“ und lobte sich selbst für ihre faire und kritische Berichterstattung:

„Derartige Vergeltung – diesmal von linksextremer Seite – traf nun die NNN, weil wir uns des ‚Verbrechens‘ schuldig gemacht haben, über die Asylproblematik umfassend zu berichten, das heißt, alle beteiligten Seiten gebührend zu Wort kommen ließen.“

Anlässlich des 30. Jahrestages des Pogroms setzten sich die Lokalzeitungen mit der eigenen Rolle im Pogrom auseinander. Die OZ, vor deren Medienhaus in Rostock eine Gedenkstele zum Pogrom an die Verantwortung der Medien mahnt, beschäftigte sich mit dem eigenen Versagen in einem vom 25-jährigen Gedenken recycelten Multimediaprojekt.

Gleichzeitig titelte sie anlässlich des Jahrestages: „So schildern Anwohner das Pogrom von Lichtenhagen.“ Und wieder wird die Situation aus Sicht der Lichtenhäger:innen erzählt, die Schuld nicht bei der applaudierenden Masse gesucht. Sondern im Westen: „Dass sich Rechtsextreme von überall her unter die Demonstranten gemischt haben, ist schrecklich.“ Und vor allem wieder bei den Geflüchteten: „Die Asylsuchenden haben ihre Sachen in Einkaufswagen vor sich hergeschoben, überall auf der Wiese lagen Menschen, Klamotten und Dreck (…). Sogar wir Kinder wurden angebettelt, zudem wurde viel gestohlen. Das fand ich alles sehr erschütternd“, wird eine heute 40-jährige Anwohnerin zitiert.

Die NNN veröffentlichten 30 Jahre nach dem Pogrom ein Interview mit dem eigenen Vizechefredakteur, der damals als Korrespondent über die Gewalt berichtet hatte: „Wir haben die Rostocker Brandnächte nicht vorhergesehen. Aber wer hat das denn?“, fragt Max-Stefan Koslik.

Der Politikwissenschaftler Prenzel urteilte 20 Jahre nach dem Pogrom in der Publikation der Universität Rostock:

„Dass Ablehnung und Ressentiment irgendwann in Gewalt umschlagen, hätte angesichts andauernder rechter Straftaten auch in Mecklenburg-Vorpommern oder den über mehrere Tage andauernden rassistischen Angriffen im sächsischen Hoyerswerda nicht verwundern dürfen. Trotz der Ankündigungen in der Presse waren Politik und Polizei jedoch nicht nur überrascht, als sie im August 1992 einsetzte, sondern auch vollends überfordert.“ Und so wohl auch die Presse, die jene Ankündigungen selbst veröffentlicht hatte.

Von Loitz über Upahl nach Teterow

Und heute? Demonstrieren Anwohner:innen gegen ein geplantes Containerdorf für 400 Geflüchtete in der 500-Seelen-Gemeinde Upahl in Nordwestmecklenburg, wehren sich Anwohner:innen gegen etwa 50 Geflüchtete in einer Unterkunft in Loitz in Vorpommern-Greifswald und die AfD in Teterow im Landkreis Rostock gegen die Umwidmung einer Unterkunft von Ukrainer:innen für Asylbewerber:innen. Und die Medien? Sprechen nicht mit den Geflüchteten, fragen nicht nach Schutzmaßnahmen für sie, berichten stattdessen wieder hauptsächlich über die klischeehaften, irrationalen und diffusen Ängste und Sorgen der Anwohner:innen, die sie oft „berechtigt“ nennen.

Bei einer Informationsveranstaltung sagten Upahler:innen, sie hätten Angst, wenn das Containerdorf stünde. Angst davor, im Dunkeln rauszugehen, Angst vor steigender Kriminalität, Angst vor tätlichen Übergriffen der „Fremden“. Dass der Polizeidirektor mehrfach erklärte, dass Geflüchtete nicht krimineller seien als Deutsche, die Polizei nicht häufiger zu ähnlichen Unterkünften ausrücken müsste als zu allen anderen Orten im Landkreis und dass Landesinnenminister Christian Pegel (SPD) mehrfach das Banale betonte, nämlich dass auch Geflüchtete Menschen seien, konnte den Upahler:innen offenbar weder ihre Angst noch ihre Wut über die geplante Unterkunft nehmen.

In Loitz entbrannten Angst und Hass vor den Schutzsuchenden in der ehemaligen Schule an der in Sozialen Netzwerken verbreiteten Anschuldigung eines Mädchens, von einem Mann angefasst worden zu sein. Den Loitzer:innen war gleich klar: Das kann nur einer der Geflüchteten gewesen sein – in einem offenen Brief drohten sie Stadt und Landkreis, „selbst Ordnung und Sicherheit wiederherzustellen“. Die Polizei konnte das schnell ausschließen. Den Loitzer:innen schien das egal zu sein. Letztendlich stellte sich heraus, dass das Mädchen den Vorfall nur erfunden hatte.

Gute und schlechte Ausländer:innen

Stöver sieht Parallelen in der Berichterstattung von damals und heute, „insbesondere bei der Debatte über gute und schlechte Ausländer:innen“: 1992 seien die bosnischen Bürgerkriegsgeflüchteten willkommen gewesen, Rom:nja aus Rumänien hingegen nicht. „Es ist die gleiche Debatte, die weitergeführt wird. Stichwort: Sozialschmarotzertum.“

Doch 1992 seien die Bilder in der Berichterstattung expliziter rassistisch gewesen. Heute gebe es mehr Solidarität aus der Bevölkerung, zumindest mit den Geflüchteten aus der Ukraine. „Plötzlich sind alle bereit, Ukrainer:innen, die weiß und christlich sind, bei sich aufzunehmen.“ Deutsche könnten sich besser mit Ukrainer:innen identifizieren. Und in den Medien werden Ukrainer:innen gelobt, die zwei Wochen nach Ankunft bereits arbeiten würden. Ohne allerdings darauf hinzuweisen, dass Asylbewerber:innen gar nicht arbeiten dürfen. Während Ukrainer:innen willkommen sind, müssen Asylbewerber:innen monate- bis jahrelang in Gemeinschaftsunterkünften aus Containern hausen, weil ihre Anträge nicht bearbeitet werden.

Und auch heute werden Rom:nja-Geflüchtete aus der Ukraine diskriminiert. „Rom:nja werden an der Grenze abgewiesen, weil sie keine gültigen Pässe haben. Auch das ist Ausdruck des Antiziganismus in der Ukraine, da sie keinen Zugang zu Pässen haben“, erzählt Stöver. In Mannheim sei Rom:nja-Geflüchteten aus der Ukraine der Zugang zur Lounge der Deutschen Bahn verwehrt worden, die anderen Geflüchteten als Rückzugsort diente. Der Grund: Nicht genug Sicherheitspersonal, um Diebstähle zu verhindern.

Auch das Roma Center Göttingen berichtet von offenem Rassismus und Diskriminierung gegenüber Rom:nja-Geflüchteten aus der Ukraine: „Das Märchen von den ‚echten‘ ukrainischen Geflüchteten und den ‚falschen‘ geflüchteten Roma wird bereits seit Beginn der Fluchtbewegung aus der Ukraine in den osteuropäischen Ländern erzählt. (…) Seit mehr als 30 Jahren werden Roma als ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ gebrandmarkt – egal, ob sie vor Krieg, rassistischer Gewalt oder systematischer Diskriminierung fliehen. Und diese Lüge erzeugt weiter Rassismus.“

„Echte“ und „unechte“ Geflüchtete

In der aktuellen Debatte wird vor allem gegen Geflüchtete aus dem globalen Süden – aus Afghanistan, Syrien, Iran, Irak – Stimmung gemacht, zwischen legitimen Kriegsgeflüchteten aus der Ukraine einerseits und „Wirtschaftsflüchtlingen“, „Scheinasylanten“, „Asylbetrügern“, „Sozialschmarotzern“ und „Sozialtouristen“ andererseits unterschieden.

CDU-Chef Merz hat sich dafür entschuldigt, den Ukrainer:innen „Sozialtourismus“ vorgeworfen zu haben. Um direkt danach eine Diskussion über ein „Verramschen des deutschen Passes“ anzustoßen und im Zuge der Übergriffe auf Rettungskräfte an Silvester in Berlin über „kleine Paschas“ zu lamentieren. Auch das ist ein Bild, das in den Neunzigerjahren in den Asyldebatten verwendet wurde, wie Stöver sagt.

Kurz nach der Silvesternacht wurde zunächst fälschlicherweise darüber berichtet, dass hauptsächlich Ausländer:innen Einsatzkräfte mit Böllern angegriffen hätten. Am Ende stellte sich heraus, dass die Tatverdächtigen mehrheitlich die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen.

In MV wird derzeit der angenommene Unterschied zwischen „echten“ und „unechten“ Geflüchteten in Teterow besonders deutlich: Anfang Februar demonstrierte die AfD gegen die Öffnung einer Unterkunft von Ukrainer:innen für Asylbewerber:innen aller Nationalitäten.

Grundsätzlich laufe die Asyldebatte in Deutschland nach dem immer selben Muster ab, so Stöver: Forderungen nach Asylrechtsverschärfungen werden damit begründet, dass so denjenigen Zugang verwehrt werde, die den Staat nur ausnutzen, um stattdessen nur „echten“ Geflüchteten zu helfen. „So wird Asylrecht in Deutschland immer gedacht: Ein paar wenige sollen kommen, denen muss es aber richtig schlecht gehen. Alle anderen nutzen uns nur aus.“

Debatte nach dem Pogrom

Die Berichterstattung in den Monaten nach dem Pogrom 1992 verharmloste die rassistische Gewalt mit Bezeichnungen wie „Krawalle“, „Straßenschlachten“ und „Randalen“. Gleichzeitig wurden so die Tausenden aktiv oder passiv beteiligten Anwohner:innen systematisch aus der Diskussion um die Schuldigen herausgehalten. Die Gewalttätigen wurden mit Bezeichnungen wie „Chaoten“, „Randalierer“, „Jugendliche“ oder „Kinder“ verharmlost.

Zwar wurde das Pogrom im Nachhinein verurteilt, doch die antiziganistische Berichterstattung ging in gleicher Intensität weiter. Neben Meldungen über empörte Politiker:innen setzte die Lokalpresse Stimmungsberichte aus der Bevölkerung, die das Pogrom guthießen und als notwendig darstellten. Gewalt wird mit vermeintlichem Fehlverhalten der Asylsuchenden erklärt und damit legitimiert. „Die Medien vollbringen das Kunststück, sich gegen die Überfälle zu empören und gleichzeitig rassistische Einstellungen weiter zu verfestigen“, analysiert die Sprachwissenschaftlerin Margret Jäger.

Die Presse thematisierte nach dem Pogrom nicht die Sicherheit der Betroffenen rechter Gewalt, sie wurden nicht einmal befragt. Bis heute ist größtenteils unbekannt, wer die Rom:nja waren, die kurz vor der Gewalteskalation aus dem Sonnenblumenhaus gebracht wurden, wohin man sie brachte oder wo sie heute sind.

Der einzige zeitgenössische Bericht, der die Geflüchteten der Zast zu Wort kommen lässt, ist die Reportage The truth lies in Rostock aus dem Jahr 1993. Hierbei handelt es sich laut Stefanie Oster vom Dokumentationszentrum Lichtenhagen im Gedächtnis allerdings nicht um einen Film von Journalist:innen, sondern um ein Medienprojekt von Jugendlichen aus dem Jugendalternativzentrum JAZ, die sich schon während des Pogroms mit den Angegriffenen solidarisierten. „Schon damals gab es Leute, die sich für die Betroffenen interessiert haben. Aber nicht die Lokalpresse, sondern Jugendliche“, sagt Oster.

Presse feierte Asylkompromiss

Stattdessen ging es in den lokalen und regionalen Medien um den vermeintlichen Missbrauch des Asylrechts, dessen Änderung gefordert wurde. Sie rechtfertigten diese Forderung mit der nach dem Lichtenhagen-Pogrom sogar noch steigenden Zahl von Übergriffen und rechter Gewalt: Geflüchtete würden rechte Gewalt erst hervorrufen. Ursache sei die Zahl der Geflüchteten, die Lösung die Beschränkung des Asylrechts. Und so feierten sie den sogenannten Asylkompromiss: 1993 wurde das Grundrecht auf Asyl eingeschränkt.

„Multikulturelle Utopien verstellen den Blick auf die Realität“, schrieben die NNN. Und feierten: „Hoffnungsschimmer: In Bonn scheint eine Einigung über die längst überfällige Asylrechtsänderung nunmehr in Sicht zu sein. Die SPD schwenkt auf Kurs Grundgesetzänderung ein.“

Lokalmedien berichteten außerdem, wie Anwohner:innen von Hinrichshagen, wohin die Zast nach dem Pogrom verlegt wurde, sich auf die Asylsuchenden vorbereiteten: So legten sie sich eine Dogge zu oder verließen nicht mehr alle zur gleichen Zeit den Hof. Anfang September ließen sich Hinrichshäger:innen mit Vorwürfen zitieren, Rom:nja würden Hühner klauen und Lärm machen. Polizei oder Betroffene wurden nicht befragt. Nach der Drohung einer Bürgerinitiative in Zeitungen, Lichtenhagen könne sich wiederholen, wurde die Erstaufnahmeeinrichtung nach Horst an den Rand MVs verlegt, wo sie sich seitdem befindet.

Auch die überregionale Berichterstattung bemühte sich nicht um eine ausgewogene Berichterstattung und nutzte das Framing von Parteien rechts der Mitte, die ein düsteres Bild der Schutzsuchenden zeichneten: Sie schrieben von „Asylanten-Strömen“, sahen „Dämme brechen“ und Deutschland in einem „Meer von Flüchtlingen“ versinken. Positive Aspekte wurden ignoriert, Beispiele guter Integration nicht benannt und auch die Fähigkeiten und Potenziale der Geflüchteten nicht in den Fokus gerückt. Stattdessen wurden sie ausschließlich als Belastung und Gefahr stilisiert.

Rassistische Berichterstattung

Die Sprachwissenschaftlerin Margret Jäger bilanziert in ihrer Analyse für die Friedrich-Ebert-Stiftung zu Rassismus in den Medien: „Unsere Presseanalysen zur Berichterstattung über die Ereignisse in Rostock zeigen, daß die hinter dem Aufschrei verborgene Botschaft nahezu der gesamten Presse darauf hinauslief, das Problem dadurch zu lösen, daß man die Grenzen dicht machte, daß unberechtigte Flüchtlinge abgeschoben werden etc. Der Grundtenor dieser Berichterstattung muß deshalb auch als rassistisch bezeichnet werden.“

Dieser Artikel erschien im März in Ausgabe 17 von KATAPULT MV.

Mehr zum Pogrom 1992 in Rostock-Lichtenhagen gibt es in unserer Sonderausgabe und auf unserer Themenseite

Quellen

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  35. Rust, Martje: Lichtenhagens langer Schatten, auf: katapult-mv.de (28.9.2022).
  36. Schultz, Helmut: Wo die Götter ausziehen, ziehen die Dämonen ein, in: Norddeutsche Neueste Nachrichten vom 25.8.1992, S. 3.
  37. Prenzel: Rostock-Lichtenhagen, S. 23, auf: ipv.uni-rostock.de (2012).
  38. Gezielte und mantraartig wiederholte Begriffswahl, die einen Aspekt hervorhebt und alle anderen verschleiert.
  39. Jäger: BrandSätze, auf: ibrary.fes.de (1993).
  40. Ebd.

Autor:in

  • Bild von KATAPULT MV Redakeurin Victoria Flägel

    Redakteurin in Rostock

    Geboren in Rostock. Aufgewachsen in Rostock. Studierte in Rostock. Und Kiel.