Ivan ist Psychologe und arbeitet bei einer Beratungsstelle für die Betroffenen von rechter Gewalt. Er ist ehrenamtlicher Spanisch- und Salsalehrer an verschiedenen Volkshochschulen. Er liebt Sport und Improtheater. Er ist gern im Café International in Neubrandenburg und gut vernetzt im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. Und er ist Aktivist. In Mexiko war er Teil einer Gruppe, die gegen Korruption und organisierte Kriminalität arbeitet. Von dort ist er vor knapp drei Jahren nach Deutschland geflohen.
Zwischen Drogen und Korruption
Kämpfe zwischen Kartellen gefährden die innere Sicherheit Mexikos massiv. Im vergangenen Jahr wurden jeden Tag zwischen 70 und 100 Menschen ermordet oder verschleppt. Vielerorts sind Politiker:innen und Polizist:innen selbst Teil krimineller Strukturen und korrupt. Entsprechend gelähmt ist das Vorgehen gegen die organisierte Kriminalität.1 Aktivist:innen, die dagegen arbeiten, begeben sich in Lebensgefahr.2
Der Psychologe hat dieses Risiko auf sich genommen. Er war regionaler Leiter einer Gruppe, deren Namen er aus Sicherheitsgründen nicht nennen möchte. Während andere Migrant:innen in Mecklenburg-Vorpommern die Sorge vor rechtsextremen Angriffen umtreibt, hat Ivan Angst, dass die Mafia ihn hier findet. „Der Chef der Gruppe sitzt zwar im Gefängnis, aber alle anderen sind frei“, berichtet er.
Der letzte Anstoß zur Entscheidung
Ivan erzählt von dem Erlebnis, das für ihn den finalen Ausschlag gab, Mexiko zu verlassen. Auf Demonstrationen haben er und andere Aktivist:innen der Gruppe sich aus Selbstschutz meist selbst gefilmt. „Es war jedes Mal wie eine Kamikazeaktion“, erklärt Ivan. Die Videos sollten im Falle des Verschwindens zeigen, wo man zuletzt war. Diese Vorsichtsmaßnahme ist auch der Grund, warum er ein Video von dem Tag hat, an dem er beinahe gestorben wäre, wie er selbst sagt.
Er nimmt an dem Tag an einer Demonstration teil. „Viele Polizisten waren dort“, erzählt Ivan. Er glaubt, dass die Polizei mit den Kartellen zusammenarbeitet, um die Gruppe zu bekämpfen: „Es ist nicht einfach, gegen uns zu kämpfen. Wir kennen unsere Rechte und wir sind viele. Deshalb muss die Regierung die Mafia bezahlen, um uns anzugreifen.“
Auf der Demo filmt Ivan, wie ein Politiker, die Polizei und ein Mitglied der Mafia sich unterhalten. Er stellt sie zur Rede, erhält aber keine Antwort. Wenig später fahren mehrere Autos vor, aus denen Bewaffnete steigen. „Das waren große Waffen, nicht nur Pistolen“, erinnert sich Ivan. Die Männer schlagen ihm auf den Kopf, bis er blutüberströmt ist. Drei Polizisten bringen ihn in einen Wagen. Dann fallen Schüsse. Das Polizeiauto rast mit ihm davon, weg von den Waffen, aber Ivan kann sich nicht beruhigen. Er hat Angst, dass die Polizei ihn der Mafia ausliefert. Zu oft sei das schon vorgekommen. Doch er hat Glück und wird in eine Polizeistation gebracht. Dort soll er eine Aussage machen, was passiert ist. Sie wird zwar aufgenommen, aber Ivan glaubt nicht, dass ihr wirklich nachgegangen wurde.
Odyssee nach Horst
Wenn Ivan über Mexiko spricht, merkt man, dass er das Vertrauen in das Gewaltmonopol des Staates verloren hat. Das Auswärtige Amt schätzt die Lage ähnlich ein. Auf der Website mit Reise- und Sicherheitshinweisen zu dem Land heißt es: „Polizeikräfte oder uniformiertes Sicherheitspersonal beziehungsweise Kriminelle, die sich als solche ausgeben, können an Straftaten beteiligt sein. (…) Die meisten Straftaten werden nicht aufgeklärt. Schusswaffen sind weit verbreitet; ihr Einsatz erfolgt oft hemmungslos.“3
Für seine Flucht bucht Ivan einen Direktflug nach Berlin. Dort angekommen, versucht er, einen Asylantrag zu stellen. Doch die zuständige Stelle in der Hauptstadt ist überlastet. Nach drei erfolglosen Versuchen fährt er nach Leipzig und kommt in einer Geflüchtetenunterkunft unter. Von da verweist man ihn nach Horst in Mecklenburg-Vorpommern. In dem kleinen Ort an der Grenze zu Schleswig-Holstein sei man zuständig für Geflüchtete aus Mexiko. Dort stellt Ivan seinen Asylantrag.

Die Anhörung
Vier Monate verbringt er in der Erstaufnahmeeinrichtung Nostorf-Horst. Der Ort liegt rund sechs Kilometer von der nächsten Einkaufsmöglichkeit in Boizenburg entfernt. „Ich glaube, ein deutsches Gefängnis ist schöner“, erinnert sich Ivan.
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In Horst findet auch seine Anhörung statt. Die persönliche Anhörung ist der wichtigste Termin bei jedem Asylverfahren.4 Bei dem nichtöffentlichen Termin sollen die Geflüchteten den Entscheider:innen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ausführlich über ihre Flucht und die Gründe dafür erzählen. Sie haben dort auch die einmalige Chance, Beweise wie polizeiliche Dokumente oder Fotos vorzulegen. An der Anhörung können die Anwält:innen der Geflüchteten teilnehmen. Auch die Teilnahme einer Vertrauensperson als Beistand ist grundsätzlich möglich. Bei Sprachbarrieren kommen zusätzlich Sprachmittler:innen zum Einsatz. Ein Gespräch kann mehrere Stunden dauern.5
„Die Entscheider:innen denken, sie hätten den Fall schnell begriffen“
Ivans Anhörung dagegen war viel zu kurz, bemängelt seine Anwältin Cana Mungan.6 Die Fachanwältin für Asylrecht betreut den Fall von Ivan, seit sein Asylantrag abgelehnt wurde. Er sei laut dem Protokoll, das von der Anhörung angefertigt wurde, mehrfach unterbrochen worden. Wichtige Dokumente, die als Beweise dienen sollten, wurden nicht übersetzt. Für die Anwältin ein klares Zeichen dafür, dass sich nicht ausreichend Zeit genommen wurde, über den Fall zu entscheiden. „Ich habe mehrere mehrstündige Sitzungen gebraucht, um mir einen groben Überblick darüber zu verschaffen, wer die Akteure sind und was für ein Ziel seine Aktivistengruppe verfolgt hat“, erklärt Mungan. In der Anhörung habe Ivan allerdings in nur wenigen Sätzen schildern sollen, was die Gruppe ausmacht.
Das ist laut der Juristin kein Einzelfall: „Bei einigen Außenstellen des Bundesamts ohne anwaltliche Vertretung gibt es leider häufig Anhörungsprotokolle, die wirklich sehr kurz sind.“ Die Entscheider:innen dächten, dass sie einen Fall schnell erfasst hätten, und stellten dann nach einem festen Schema Fragen. Mungan selbst betreut rund 200 Fälle pro Jahr. Ihr Schwerpunkt liegt dabei unter anderem auf Mandant:innen aus der Türkei. Sie spricht fließend Türkisch und stelle bei den Anhörungen auch fest, dass „die Sprachmittler:innen nicht immer gut dolmetschen“. Ihr ist es deshalb besonders wichtig, dass neben den Sprachmittler:innen und Entscheider:innen eine Person dabei ist, die im Sinne der Geflüchteten handelt: „Eine anwaltliche Vertretung bringt ein Kräftegleichgewicht in die Asylanhörung.“
Man nehme sich ausreichend Zeit
Das Bamf dagegen teilt auf Nachfrage mit, dass Geflüchtete „ausreichend Zeit“ erhielten, ihre individuellen Fluchtgründe vorzutragen. Nach der Anhörung würden sie das zugehörige Protokoll übersetzt ausgehändigt bekommen und könnten Ergänzungen vornehmen. Außerdem bestehe vor der Anhörung das Angebot einer Asylverfahrensberatung. Bei diesen vertraulichen Einzelgesprächen können individuelle Fragen zum Verfahren geklärt werden. In Nostorf-Horst bietet die Diakonie diese Beratungen an und wird dafür vom Bamf vergütet.7
Im Jahr 2024 wurden in MV 2.261 Asylanträge abgelehnt. Die Pressesprecherin des Innenministeriums verweist darauf, dass es sich dabei teilweise um Anträge aus früheren Jahren gehandelt habe.8 Laut der Website des Innenministeriums legen etwa 80 Prozent der Asylsuchenden, deren Antrag abgelehnt wurde, Rechtsmittel beim Verwaltungsgericht ein.9 So auch Ivan. Bis das Verfahren abgeschlossen ist, muss er nicht ausreisen.
Ivan sagt, dass die Unterstützung, die er bekommt, nicht selbstverständlich ist. Auch der schnelle Kontakt zu rechtlichem Beistand ist nicht immer gegeben. Cana Mungan bestätigt das. Nicht alle Anwält:innen haben die Zeit, bei einer Anhörung dabei zu sein. Auch gibt es im ländlichen Raum nicht immer Jurist:innen mit Schwerpunkt auf Asylrecht. Sie selbst hat ihre Kanzlei in Berlin. Die meisten von Ivans Bekannten aus den Geflüchtetenunterkünften seien inzwischen nicht mehr in Mecklenburg-Vorpommern. Ihre Asylanträge wurden vermutlich abgelehnt und sie haben Deutschland verlassen müssen.

- Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Mexiko, auf: bpb.de (11.2.2025).
↩︎ - Amnesty International (Hg.): Amnesty Report Mexiko 2024, auf: amnesty.de (29.4.2025).
↩︎ - Auswärtiges Amt (Hg.): Mexiko: Reise- und Sicherheitshinweise, auf: auswaertiges-amt.de (Stand: 4.6.2025). ↩︎
- Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.): Persönliche Anhörung, auf: bamf.de (14.11.2019).
↩︎ - E-Mail einer Sprecherin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5.6.2025.
↩︎ - Telefonat mit Cana Mungan am 28.5.2025. ↩︎
- E-Mail der Pressesprecherin des Innenministeriums MV vom 2.6.2025.
↩︎ - E-Mail der Pressesprecherin vom 21.5.2025. ↩︎
- Ministerium für Inneres, Bau und Digitalisierung MV (Hg.): Asyl und Flüchtlinge, auf: regierung-mv.de. ↩︎