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Antisemitismus

Erneut mehr Fälle

Die Anzahl antisemitischer Vorfälle in MV ist 2024, wie bereits im Vorjahr, angestiegen. Die Dokumentationsstelle Antisemitismus geht davon aus, dass der Anstieg auch auf eine zunehmende Bekanntheit der Meldestelle hindeuten könne. Seit Jahren gebe es eine Grauzone solcher Vorfälle. Klar ist: Antisemitismus ist kein Randphänomen und mit anderen Diskriminierungsformen verschränkt.
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92 antisemitische Vorfälle wurden im letzten Jahr in Mecklenburg-Vorpommern verzeichnet. Das bedeutet einen Anstieg von 77 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Dokumentiert wurden die Fälle von der zivilgesellschaftlichen Dokumentations- und Informationsstelle Antisemitismus Mecklenburg-Vorpommern (Dia MV). Sie recherchiert aktiv nach Vorfällen im Land, betreibt aber auch eine Meldestelle. Ihre Erhebung ergab, dass Antisemtismus in allen Regionen, allen Formen und allen politischen Lagern vorkommt.1

Umstrittene Definition

Die Dia definiert Antisemitismus wie die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Darin heißt es, Antisemitismus sei „eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann“. Und außerdem: „Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ 2017 ergänzte die Bundesregierung folgenden Satz: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“

Die Definition der IHRA ist umstritten. Kritisiert wird unter anderem, dass die Trennlinie zwischen Kritik an der Regierung Israels und Antisemitismus nicht klar genug gezogen wird. Als Alternative veröffentlichten zahlreiche Wissenschaftler:innen 2021 die Jerusalemer Erklärung.2 Laut der Erklärung war es ein Ziel, „Räume für eine offene Debatte über die umstrittene Frage der Zukunft Israels/Palästinas zu wahren“.3 Aber auch diese Definition lässt Unklarheiten und wird teilweise kritisiert.4 Gemein haben beide Definitionen unter anderem, dass es bei der Bewertung von Handlungen immer auf den Kontext ankommt.

Verschiedenste Erscheinungsformen

Im Bericht der Dia werden fünf Erscheinungsformen des Antisemitismus definiert. Bei konkreten Vorfällen treten zumeist mehrere Formen gleichzeitig auf.

Antijudaismus nutzt religiöse Motive, um die jüdische Religion abzuwerten. So erreichte beispielsweise eine E-Mail den Zentralrat der Juden, verschiedene Organisationen und Medienhäuser in MV, in der Jüd:innen:Juden beschuldigt wurden, Jesus geschändet zu haben. Insgesamt acht Vorfälle äußerten sich 2024 in dieser Erscheinungsform.

Moderner Antisemitismus knüpft zwar auf etablierte Vorurteile aus dem Antijudaismus an, ist aber nicht mehr religiös begründet. Stattdessen gibt es eine verschwörungsideologische Komponente. Jüdinnen:Juden seien angeblich Strippenzieher:innen geheimer Machenschaften oder profitieren von Krisen. 24 Vorfälle konnten dem modernen Antisemitismus zugeordnet werden. Anfang Januar 2024 behauptete ein Redner bei einer verschwörungsideologischen Demo in Demmin, dass eine jüdische Person den Plan entwickelt habe, Deutschland zum Agrarland „zurückzuentwickeln“, und das Land beherrsche.

50 Prozent aller Vorfälle im Jahr 2024 gingen auf den sogenannten Post-Schoah-Antisemitismus zurück. Dieser umfasst die Relativierung oder Leugnung des Holocausts oder einen positiven Bezug zur NS-Zeit. In Güstrow beispielsweise wurde im März 2024 an ein ehemaliges Wohnhaus einer jüdischen Familie „Sieg Heil“ geschmiert.

Unter israelbezogenen Antisemitismus fallen laut der Dia MV antisemitische Einstellungen, die auf Israel projiziert werden. Zu beachten ist dabei, dass nicht jede kritische Haltung zur israelischen Politik und jedes Engagement für Palästinenser:innen per se antisemitisch ist. Ein Beispiel für diese Erscheinungsform sind die „Fck Jew“- sowie „Fck Israel“-Schmierereien, die auf der Wand einer Festivaltoilette gefunden wurden.

Unter antisemitischem Othering versteht die Meldestelle alle Handlungen, Worte oder Bilder, „die darauf abzielen, Jüdinnen:Juden als nichtzugehörig zu markieren oder sie als Sinnbild für das Anderssein zu gebrauchen“. Eine andere Person als „Juden“ zu beleidigen, wäre ein Beispiel. Othering kann genutzt werden, um verschiedene Erscheinungsformen des Antisemitismus miteinander zu verbinden.

Überall und meist von rechts

In ganz MV wurden Vorfälle registriert. Den Schwerpunkt bildete allerdings Rostock, was in dem Bericht mit den infrastrukturellen Gegebenheiten der Großstadt begründet wird. Mehr Menschen und eine höhere Dichte an Kultur-, Bildungs- und religiösen Einrichtungen schaffen mehr Anlässe, an denen es zu Antisemitismus kommen kann.

Die Grafik zeigt die politischen Hintergründe von antisemitischen Vorfällen in MV.

Wie bereits in den vergangenen Jahren waren die meisten Fälle rechtsextrem motiviert. Aber auch aus dem verschwörungsideologischen Milieu wurden zahlreiche Fälle bekannt. Die Dia stellt fest, dass „bei Versammlungen, welche sich aus den Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen entwickelten, 2024 zunehmend auch rechtsextreme/rechtspopulistische Aussagen Platz fanden“. Während ein Teil der Angriffe keinem politischen Hintergrund zugeordnet werden konnte, gab es auch einige Vorfälle aus dem antiisraelischen, dem linken sowie dem christlichen fundamentalistischen Spektrum.

Gestiegene Unsicherheit der Betroffenen

Obwohl die Zunahme der antisemitischen Vorfälle auch auf die zunehmende Etablierung der Meldestelle zurückgeführt werden kann, spüren Jüdinnen:Juden in MV ein Gefühl von Unsicherheit im öffentlichen Raum. Besonders nach dem 7. Oktober 2023 – dem Massaker der Terrororganisation Hamas in Israel – und dem andauernden Krieg in der Region habe dieses Gefühl zugenommen, so die Meldestelle.

Die Grafik zeigt welche Arten von Vorfällen es gab.

Antisemitismus ist verschränkt mit anderen Diskriminierungsformen. Jüdinnen:Juden mit Migrationsgeschichte sind in MV zusätzlich von Rassismus betroffen. Auch Queerfeindlichkeit kann mit Antisemitismus verschränkt sein. Auf der Gegenveranstaltung zum CSD in Wismar wurde beispielsweise „Ab in die Gaskammer“ skandiert. Dies ist nicht nur ein Gewaltaufruf gegen queere Menschen, sondern bezieht sich auch auf antisemitische Verbrechen des Holocausts. Für die Dia MV ergibt sich daraus ein Bedarf an Bildungsarbeit, Gedenkpolitik, Präventionsmaßnahmen und Förderpolitik, die dieser Mehrfachdiskriminierung gerecht werden.

  1. Landesweite Opferberatung, Beistand und Information für Betroffene rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern e.V. und Dokumentations- und Informationsstelle Antisemitismus Mecklenburg-Vorpommern (Hg.): Jahresbericht Antisemitische Vorfälle in Mecklenburg-Vorpommern 2024 (2025). ↩︎
  2. Holz, Klaus: Definitionen von Antisemitismus, auf: bpb.de (25.10.2024). ↩︎
  3. jerusalemdeclaration.org ↩︎
  4. Potter, Nicholas: „Die Linke hört nicht auf die Betroffenen“, auf: taz.de (22.5.2025). ↩︎

Autor:in

  • Porträt von Lilly Biedermann Redakteurin Katapult MV in Greifswald

    Redakteurin in Greifswald

    Geboren und aufgewachsen in Sachsen. Ist zum Studieren vom tiefen Osten in den kalten Osten nach Greifswald gezogen.

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