Die Rollen vor dem Treffen sind klar verteilt: Ein breites Bündnis aus Verbänden, Kommunen und Bürgerinitiativen spricht sich gegen ein geplantes LNG-Terminal vor Rügen aus. Bundeskanzler Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Habeck (Grüne) wollen den Ausbau dagegen vorantreiben. Sie argumentieren mit der Energieversorgungssicherheit, obwohl eine vom Wirtschaftsministerium in Auftrag gegebene Studie zu dem Ergebnis kommt, dass das Großprojekt vor Rügen für diese Versorgungssicherheit nicht notwendig sei. Das Wirtschaftsministerium hält dennoch an den Plänen fest.
Scholz und Habeck reisen gemeinsam mit dem Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider, MVs Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, den Landesministern Till Backhaus (Umwelt) und Reinhard Meyer (Wirtschaft) sowie dem Parlamentarischen Staatssekretär für Vorpommern und das östliche Mecklenburg, Heiko Miraß (alle SPD), auf die Insel. In Binz treffen sie die Bürgermeister der Ostseebäder sowie Vertreter der gegen das LNG-Projekt aktiven Verbände und Bürgerinitiativen.
Für das Treffen mit den Spitzenpolitikerinnen sei es viel zu spät, „aber immerhin kommen sie“, sagt Stefanie Dobelstein von der Bürgerinitiative Lebenswertes Rügen. Dank der von ihnen mitgetragenen Petition mitsamt erfolgreichem Quorum habe die Bundespolitik den Protest auf der Insel registriert und nehme ihn jetzt auch ernst.
Seit Wochen protestieren Bürgerinnen, Initiativen, Gemeindevertreterinnen und Verbände gegen den LNG-Ausbau vor Rügen. Mit Podiumsdiskussionen, Petitionen, Menschenketten und Briefen an die Bundesregierung drücken sie ihren Unmut aus.
Mukran als möglicher Standort
Aktuell wird über einen möglichen Standort im Hafen von Mukran gesprochen. Eine Entscheidung solle laut Bundeswirtschaftsministerium schnell getroffen werden. Dobelstein glaubt, dass Scholz und Habeck beim anberaumten Treffen mit dem wirtschaftlichen Aufschwung im Hafen argumentieren werden und damit, dass die LNG-Anlandung nur eine Übergangslösung sei und langfristig den Weg für grüne Technologie ebnen könne. Stromtrassen für die Offshore-Anlagen könnten entstehen oder Leitungen für den Transport von Wasserstoff.
Doch Bürgerinitiative und Naturschutzverbände protestieren grundsätzlich gegen die LNG-Pläne, nicht nur vor Rügen. „Wir reden über ein Problem mit globaler Auswirkung weit über unseren Lebensraum hinaus“, sagt Dobelstein. Es sei egal, ob der LNG-Ausbau vor der Küste, an Land oder weit draußen auf dem Meer stattfinde.
Treffen kurzfristig anberaumt
Nadine Förster ist Gemeindevertreterin im Ostseebad Göhren. Sie glaubt nicht an einen gegenseitigen Austausch beim Treffen mit Scholz und Habeck. „Ich befürchte, die kommen nicht, um uns zuzuhören, sondern um uns zu überreden.“ Dass das Treffen kurzfristig anberaumt wurde, kritisiert Förster, da sich viele LNG-Gegnerinnen ausschließlich ehrenamtlich engagierten. Ihnen blieb kaum Zeit, sich neben der Arbeit zu organisieren. „Die Ankündigung kam knapp zwei Tage vor dem Treffen und so, dass wir keine Demo mehr anmelden konnten“, berichtet Förster. So sei der Bürgermeister ihrer Gemeinde Göhren gerade im Urlaub und müsse beim Treffen mit dem Bundeskanzler vertreten werden.
Für Matthias Dettmann, Hauptgeschäftsführer der Dehoga MV, belege das kurzfristig angekündigte Treffen vor allem die Dynamik in der Sache. „Der Druck auf die politischen Mühlen ist in den letzten Wochen immer größer geworden“, urteilt er. Durch die erfolgreiche Petition ist der Bundestag nun gezwungen, sich mit dem Protest auseinanderzusetzen.
Persönlich bestürzt sei Dettmann über den Umgang mit den Menschen auf Rügen und der Tourismusbranche. „Wir wurden vor vollendete Tatsachen gestellt.“ Die Entscheidung für den LNG-Ausbau vor Rügen mag im Herbst 2022 aufgrund der damals erwarteten Gasmangellage getroffen worden sein, doch diese Mangellage sei nicht eingetreten, so Dettmann. Die Ausgangslage müsse neu bewertet werden, ebenso wie die Notwendigkeit eines LNG-Terminals vor der Küste. Der Geschäftsführer des Interessenverbandes erwartet eine ernsthafte Prüfung eines alternativen Standortes weit draußen auf dem Meer. „Jeder Kilometer ist ein Gewinn für die Menschen und den Tourismus auf der Insel.“
Andererseits mutmaßt Dettmann, dass vielleicht schon alles entschieden sei. Erst vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass der Bund Röhren mit einer Länge von rund 60 Kilometern von der Nord Stream 2 AG gekauft habe. Die waren beim Bau der Pipeline Nord Stream 2 übrig geblieben. Diese Röhren könnten nun für die Anlandung von LNG verlegt werden.
Land stärkt Position der Region
Die Landesregierung sieht die Entscheidung über ein mögliches LNG-Terminal beim Bund. Doch müsse dafür die Notwendigkeit nachgewiesen werden, heißt es. Auch sollten Umwelt, Landschaft und Menschen so wenig wie möglich beeinträchtigt werden.
Die Interessenvertreterinnen aus der Region haben wenig Zuversicht in das Treffen mit den Spitzenpolitikerinnen von Bund und Land. Aufgeben wollen sie dennoch nicht.
Weiterführende Links:
Anhörung im Petitionsausschuss für 8. Mai geplant
50.000 Unterschriften gegen LNG-Projekt vor Rügen
Haushaltsausschuss sperrt Milliarden für LNG-Ausbau
Vorgesehene Milliarden reichen nicht
Erste Vorbereitungsarbeiten haben begonnen
Verbände bringen Einwände gegen Großprojekt vor
Kritik an Überkapazität und drohenden Gefahren
LNG-Projekte sind überdimensioniert
Deutsche Umwelthilfe legt Widerspruch ein
Widerstand gegen Großprojekt vor Rügens Küste
Nach dem Hering kommt die Pipeline
Quellen
- Autor verwendet generisches Femininum.↩
- Quorum: Anzahl der Stimmen, die erreicht sein muss, damit eine Wahl oder Abstimmung gültig ist.↩
- NDR (Hg.): Scholz und Habeck auf Rügen: Landesregierung begrüßt Besuch, auf: ndr.de (19.4.2023).↩
- Telefonat mit Matthias Dettmann am 20.4.2023.↩
- NDR (Hg.): Scholz und Habeck auf Rügen: Landesregierung begrüßt Besuch, auf: ndr.de (19.4.23).↩